Aufarbeitung des Missbrauchs in der niederländischen KircheFahrlässig

Als 2010 der Missbrauchsskandal in der niederländischen Kirche losbrach, reagierten die Bischöfe schnell. Doch dann lief vieles schief. Rechtsstaatliche Grundsätze wurden über Bord geworfen, Beschuldigten wurde Unrecht getan. Und die Gesellschaft machte die Kirche zum Sündenbock. Die Lehre daraus muss sein: Die Kirche sollte die Aufarbeitung besser aus den Händen geben.

Grachten in den Niederlanden
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Die Niederlande waren fassungslos und schockiert, als im März 2010 Berichte über sexuellen Kindesmissbrauch in der römisch-katholischen Kirche öffentlich wurden. Beinahe zwei Jahre lang, bis nach dem Erscheinen des Berichts der sogenannten Deetman-Kommission im Dezember 2011, dominierte das Thema die Nachrichten in den Niederlanden. Das ist bemerkenswert, weil die Anzahl der Missbrauchsfälle innerhalb der katholischen Kirche im Vergleich zu den Fällen außerhalb der Kirche verschwindend gering ist. In den Niederlanden sind jedes Jahr 120.000 Kinder von Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung betroffen – bei einer Bevölkerung von 17 Millionen. Mehr als die Hälfte von ihnen sind Opfer sexueller Gewalt.

Die überproportionale Aufmerksamkeit für die Kirche hat möglicherweise mit der fortschreitenden Säkularisierung zu tun – und mit der Tatsache, dass ehemalige Katholiken noch eine Rechnung mit der katholischen Kirche offen haben. Die Kirche hat ihnen auf dem Gebiet der Sexualmoral das Leben schwer gemacht. Nun zeigt sich, dass die Sittenprediger und Moralapostel zahllose Kinderschänder in ihren eigenen Reihen haben. Die Kirche hat diesen Missbrauchstätern nicht nur keinen Einhalt geboten, sondern es ihnen auch ermöglicht, ihren Missbrauch fortzusetzen. Sie hat dafür gesorgt, dass sie nicht ihres Amtes enthoben wurden und hinter Gitter kamen, sondern sie einfach an Orte versetzt, wo sie aufs Neue Kinder missbrauchen konnten.

Die Wut war enorm. Dabei ging es nicht zuerst um das Ausmaß, sondern um die Tatsache selbst: Priester, die zu ihrem eigenen sexuellen Vergnügen Kinder missbrauchen, begehen einen unvorstellbares Verbrechen, wie viele oder wenige es auch sein mögen.

Als der Missbrauchsskandal 2010 begann, war ich gerade seit zwei Monaten im Amt als Generalsekretär der Niederländischen Ordensoberen-Konferenz KNR. Ich habe das Thema Kindesmissbrauch zehn Jahre im Namen der niederländischen Ordensoberen bearbeitet und bin auch in Beschwerdeverfahren aufgetreten.

Im Mai 2010 beschlossen Bischöfe und Ordensobere, eine Kommission ins Leben zu rufen, die Art und Umfang des sexuellen Missbrauchs durch Vertreter der katholischen Kirche in den Niederlanden zwischen 1945 und 2010 untersuchen sollte. Vorsitzender dieser Kommission wurde Wim Deetman, ehemaliger Bildungsminister, Bürgermeister von Den Haag und Vorsitzender der Zweiten Kammer des niederländischen Parlaments, ein politisches Schwergewicht also. Neben der wissenschaftlichen Untersuchung des Missbrauchs sollte die Kommission auch Empfehlungen formulieren, welche Hilfsangebote Opfern gemacht werden könnten. Der Abschlussbericht erschien im Dezember 2011. Schon Ende 2010 empfahlen Deetman und seine Mitarbeiter, die bereits seit 1995 bestehende Beschwerdekommission der Kirche in eine unabhängige Einrichtung umzuwandeln.

Im Mai 2011 rief die Kirche auf Empfehlung von Deetman die unabhängige Stiftung „Beheer & Toezicht“ (Verwaltung und Aufsicht) ins Leben. Diese Stiftung richtete eine Beschwerde- und eine Entschädigungskommission ein. Ausgangspunkt war das Prinzip der „Plausibilität“. Beschwerdeführer mussten keine Beweise vorlegen, sondern konnten sogenannte „unterstützende Beweise“ für ihre Beschwerde anführen: etwa die Tatsache, dass sie mit Kindern oder anderen Familienmitgliedern vor 2010 über den Missbrauch gesprochen hatten, oder dass jemand anders über denselben Beschuldigten ebenfalls eine Beschwerde eingereicht hatte. Umgekehrt konnte sich auch der erste Beschwerdeführer auf diese neue Beschwerde als „unterstützenden Beweis“ berufen.

Auf Basis der Plausibilitätsprüfung durch die Kommission erhielten die Bischöfe und Ordensoberen die verbindliche Empfehlung, die Beschwerde für begründet zu erklären. Die Opfer hatten Recht auf Schadensersatz im Umfang von maximal 100.000 Euro. Insgesamt wurden 1002 Beschwerden für begründet erklärt und durchschnittlich 33.000 Euro pro Beschwerde ausbezahlt.

Mehrfach habe ich im Namen der Ordensoberen auf die Probleme dieser Vorgehensweise hingewiesen. Vor allem wurde so ein Anreiz für Betrug geschaffen. Es bestand der Verdacht, dass „unterstützende Beweise“ untereinander ausgetauscht wurden. Es wurden Namen von Beschuldigten genannt, obwohl sich nicht mehr feststellen ließ, wer der Täter wirklich war. Es kam zu Verwechslungen von Personen, sodass manchmal sogar Ordensleute, die den Betroffenen als Kinder beigestanden hatten, zu Verdächtigen erklärt wurden. Es gab absichtliche Übertreibungen der Beschwerde, um eine höhere Entschädigung zu erhalten.

Das Schlimmste aber war, dass die Beschuldigten keinen ehrlichen Prozess bekamen. Auf mögliche Verteidigungspunkte wurde nicht geachtet. In mehr als 90 Prozent der Fälle war der Beschuldigte bereits verstorben. Auf die Ordensoberen, die in den Beschwerdeverfahren diese Beschuldigten vertraten, hörte man kaum. Der gesamte Prozess stand im Zeichen der Opfer. Das mag seine Berechtigung haben, aber nicht, wenn dies auf Kosten des guten Namens eines (nicht feststehenden) Täters geht.

Man hätte eine Form von Hilfe und Anerkennung finden müssen, bei der die Person des verstorbenen Beschuldigten keine Rolle spielt, um dessen Namen vor möglichen Verleumdungen zu schützen. Auch hätte man an den Missbrauch nicht so ein enormes Preisschild hängen dürfen, wodurch manche es mit der Wahrheit und mit den Fakten nicht allzu genau nahmen.

Der Fall Gijsen

Bischof Joannes Gijsen war von 1971 bis 1993 Bischof von Roermond. 2012 wurde er unsittlicher Handlungen beschuldigt, die im Jahr 1959 stattgefunden haben sollen. In der Beschwerdeschrift hieß es, der spätere Bischof habe „versucht“, den Beschwerdeführer zu vergewaltigen. Die Beschwerdekommission erklärte die Beschwerde aus Mangel an „unterstützenden Beweisen“ für unbegründet. Da tauchte 2013 ein zweiter Beschwerdeführer auf. Dieser hatte 2010 einen Priester beschuldigt, an dessen Namen er sich nicht erinnern konnte. Drei Jahre später erklärte er dann auf einmal, schon seit 1970, als er Gijsen einmal im Fernsehen gesehen hatte, zu wissen, dass dieser der Mann gewesen sei, der ihn zehn Jahre zuvor missbraucht hatte. Beschwerdeführer 1 hatte seinen „unterstützenden Beweis“ – und Beschwerdeführer 2 auch (nämlich Beschwerdeführer 1).

Der Bischof wehrte sich mit Händen und Füßen gegen den Vorwurf. Doch zwei Monate nach seinem Tod im Jahr 2013 „verurteilte“ ihn die Beschwerdekommission. Beschwerdeführer 1 hatte inzwischen auf „mehrfache Vergewaltigung“ erhöht. Auch wenn die Beschwerdekommission darauf nicht einging, nannte sie den Bericht von Beschwerdeführer 1 „authentisch“. Genauso auch die Beschwerden von Beschwerdeführer 2.

Eine Stiftung („Stichting St. Jan voor een Eerlijk Proces“) ging zivilrechtlich gegen die Beschwerdekommission vor, um eine Aufhebung der Entscheidung zu erreichen. Das Bezirksgericht Gelderland nannte das gegenseitige Zuspielen von „unterstützenden Beweisen“ eine „unfruchtbare Kreuzbestäubung“. Dass die Kommission trotz des Übertreibens einer Beschwerde (von „versuchter“ zu „mehrfacher Vergewaltigung“) und der schwankenden Erinnerung des Beschwerdeführers (war Gijsen der Täter oder nicht?) seinen Bericht für „authentisch“ erklärt hatte, nannte das Gericht „unverständlich und fahrlässig“.

Obwohl es dem Antrag auf Aufhebung der Entscheidung nicht stattgeben konnte (die Stiftung berief sich auf Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention, aber die Kirche ist kein staatliches Organ), entschied das Gericht, dass die Beschwerdekommission jahrelang unter Verletzung allgemeiner Rechtsgrundsätze gehandelt hatte und sich „der parteiischen Streitbeilegung und der Voreingenommenheit zugunsten der Beschwerdeführer und gegen die Beklagten“ schuldig gemacht hatte.

Im Dezember 2011 erschien der Abschlussbericht der Deetman-Kommission. Die Zahlen, die Deetman öffentlich machte, bestätigten das Entsetzen der niederländischen Gesellschaft. Deetman schätzte die Gesamtzahl der Opfer auf „einige Zehntausend“. Schwerwiegende Formen von Missbrauch (Penetration) sollten sich im Bereich von „grob einigen Tausend“ bewegt haben.

Das sind sehr vage Zahlen. Wie viel sind „einige Zehntausend“? Dreißigtausend, vierzigtausend, noch mehr? Statistiker, die zu Rate gezogen wurden, teilten mit, diese Ergebnisse nicht reproduzieren zu können. Eine Sache hatte Deetman mit den enormen Zahlen auf jeden Fall erreicht. Die Betroffenenorganisationen, die ihm misstraut hatten, weil er „für die Kirche“ arbeite, schenkten ihm nun ihr Vertrauen. Vielleicht war das das Ziel.

Laut dem Abschlussbericht fand der Missbrauch vor allem in den Jahren vor 1980 statt. Damals wurden die kirchlichen Internate geschlossen und in der Folge kam es offenbar deutlich seltener zu Missbrauchsfällen. Die „einige zehntausend Opfer“ wären also vorwiegend in den Zeitraum von 1945 bis 1980 gefallen. In dieser Periode waren in den Niederlanden ungefähr 17.000 Brüder, Pater und Weltpriester aktiv. Selbst wenn wir von Serientätern ausgehen, so hätten doch sämtliche Brüder, Pater, Priester, Bischöfe und Kardinäle der Niederlande sich mindestens einmal an einem Kind vergreifen müssen. Jedenfalls dann, wenn die Zahlen von Deetman stimmen.

Das kann unmöglich der Fall sein. In meinem Buch „De Deetman files“ (Almere 2020) habe ich die Meldungen und die für begründet erklärten Beschwerden noch einmal aufgelistet. Deetman selbst hat niemals mehr als 774 (verwendbare) Meldungen erhalten. Eine außerdem im Auftrag von Deetman durchgeführte Befragung unter 34.234 Niederländern hatte kaum Aussagekraft, weil darin die Zahlen von allen Einrichtungen, auch protestantischen und säkularen, in einen Topf geworfen wurden.

Die Meldestelle der Stiftung „Beheer & Toezicht“ wiederum hat für die Zeit ab 1945 insgesamt 3712 Meldungen registriert. Darunter waren auch nicht-kirchliche Meldungen, Meldungen über andere Kirchen, Meldungen, die sich nicht auf sexuellen Missbrauch bezogen, und Meldungen „vom Hörensagen“. Schlussendlich wurden etwas mehr als 2000 Meldungen in eine Beschwerde umgesetzt. Das ist weit von den „einigen Zehntausend“ der Deetman-Kommission entfernt. Von den in eine Beschwerde umgesetzten Meldungen sind 1002 für begründet erklärt worden. Bei zwanzig Prozent dieser Fälle ging es um schwerwiegende Formen des Missbrauchs (Penetration). Zweihundert Fälle von Vergewaltigung seit 1945 finde ich persönlich eine grauenerregende Zahl, aber es ist eben auch eine bedeutend andere Zahl als „grob einige Tausend“.

Hier zeigt sich aber auch, warum es so gefährlich ist, das Problem nur in Zahlen ausdrücken zu wollen. Der Verdacht liegt nahe, man wolle die Angelegenheit bagatellisieren. Aber Differenzieren heißt nicht Bagatellisieren. Zu sagen, dass die Deetman-Kommission mit ihren „einigen zehntausend“ Missbrauchsfällen weit von der Wirklichkeit entfernt ist, bedeutet nicht, dass man auch nur ein zum Opfer gewordenes Kind bagatellisiert. Ich kann mir kein schändlicheres Verbrechen vorstellen als den sexuellen Missbrauch eines Kindes. Aber das heißt doch nicht, dass die Wahrheit über die Zahlen keine Rolle mehr spielen sollte.

Die Kirche als Sündenbock

Politik und Presse in den Niederlanden haben die katholische Kirche zehn Jahre lang als Sündenbock benutzt. Die extrem hohen Zahlen beim Kindesmissbrauch, der außerhalb der Kirche stattfindet, sind unter Politikern schon seit Jahren bekannt. Jedes Jahr gibt es 62.000 und mehr neue Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch. Niemand wagt es, sich die Finger daran zu verbrennen. Der kirchliche Missbrauch (und Corona) haben die Aufmerksamkeit von diesem größten gesellschaftlichen Problem seit dem Zweiten Weltkrieg abgelenkt.

Die niederländische Presse hat der Politik dabei in die Hände gespielt. Seit mehr als zehn Jahren veröffentlichen die tonangebenden Tageszeitungen wie etwa „NRC-Handelsblad“ verleumderische Artikel mit falschen Beschuldigungen gegen die Kirche. Ich gebe hier nur einige Beispiele.

So sollte die Kirche homosexuelle Jungen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren zur Kastration gezwungen haben. Später stellte sich heraus, dass der Staat diese Eingriffe legalisierte und ausführen ließ. Die Kirche, inbesondere bestimmte Schwesternkongregationen, sollte Mädchen als Sklaven gehalten und sie zur Zwangsarbeit genötigt haben. In Wirklichkeit wurden Mädchen aufgenommen, die zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden waren oder sich einer psychiatrischen Behandlung unterziehen mussten. Von Staats wegen sollten sie „angemessene Arbeiten“ verrichten. „NRC-Handelsblad“ berichtete über den Mord an 37 geistig behinderten Kindern durch einen Ordensbruder in den Jahren 1952 bis 1954. Später stellte sich heraus, dass die vermeintlichen Morde natürliche Todesfälle waren, die auf Lungenentzündungen, Tuberkulose, Hirnhautentzündung oder Herzfehler der schwer behinderten Kinder zurückgingen. Im Jahr 2015 wollte das niederländische Parlament die Kirche wegen Zwangsadoptionen zur Verantwortung ziehen, die jungen unverheirateten Müttern auferlegt worden sein sollten. Einmal mehr zeigten nähere Untersuchungen, dass es nicht die Schwesternkongregationen waren, die den jungen Müttern ihre Babys abgenommen hatten, sondern der Staat. Die Schwestern versuchten vielmehr, Mutter und Kind – koste es, was es wolle – zusammenzuhalten, während der niederländische Staat 1956 ein Adoptionsgesetz erließ, das Alleinerziehende-Familien für unerwünscht erklärte und eine verpflichtende Adoption vorschrieb.

Inzwischen werden in den Niederlanden Stimmen laut, die sagen, dass die Untersuchung des Kindesmissbrauchs in der niederländischen Kirche in der Zeit nach 1945 wiederholt werden solle. Die Deetman-Kommission verweigert die Einsicht in das Archivmaterial, das sie für ihre Untersuchung verwendet hat. Neben den Zahlen, die unmöglich stimmen können, geht es auch um mögliche Ursachen des Missbrauchs, die kirchliche Ausbildung, die hierarchische Struktur der Kirche, Sexualmoral, Erziehung und Zölibat. Auch sexueller Missbrauch in anderen Kirchen und religiösen Gemeinschaften muss thematisiert werden, sodass ein besseres Bild von der Art des Missbrauchs entsteht, von den Umständen, unter denen er stattfindet, von den Risiken und von den Strukturen, die ihn verhindern können. Außerdem ist es wichtig, dass Politik, Presse und Öffentlichkeit endlich das gesellschaftliche Problem des nicht-kirchlichen Missbrauchs in den Blick nehmen.

Für Länder, die meinen, die niederländische Kirche als Beispiel für den Umgang mit Missbrauch nehmen zu können, möchte ich noch einmal auf die Fehler hinweisen, die gemacht worden sind. Die Kirche sollte die Aufarbeitung des Missbrauchs so wenig wie möglich in den eigenen Händen behalten. Die durch Bischöfe und Ordensobere ins Leben gerufene Deetman-Kommission tat alles, um ihre Unabhängigkeit von der Kirche unter Beweis zu stellen. Im Versuch, das Vertrauen von Betroffenenorganisationen zu gewinnen, führte dies zu einem allzu leichtfertigen Umgang mit Zahlen und mit der Wahrheit.

Der vielleicht noch größere Fehler war die Einrichtung einer einseitigen Prozedur, bei der die Aufmerksamkeit für die Belange der Opfer auf Kosten eines ehrlichen Prozesses für die Beschuldigten ging. Angst vor der öffentlichen Meinung kann am Ende dazu führen, dass man die Menschenrechte aus dem Auge verliert.

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