Karl-Josef Kuschel über Goethes Islam-BildZwischen Orient und Okzident

Von Karl-Josef Kuschel ist der Text, vom Künstler Shahid Alam die Illustrationen: Goethe und der Koran, Ostfildern 2021
Von Karl-Josef Kuschel ist der Text, vom Künstler Shahid Alam die Illustrationen: Goethe und der Koran, Ostfildern 2021

Wie leicht es ist, große Gestalten der Geistesgeschichte für eigene Zwecke zu missbrauchen! Auf der einen Seite reißen „rechte Kreise“ Goethe-Zitate aus ihrem Zusammenhang und präsentieren den „Dichter der Deutschen“ als frühen Wortführer gegen den Islam. Auf der anderen Seite reklamieren Muslime denselben Dichter als einen der ihren: schon Goethe sei zum Islam konvertiert!

Dass sich Johann Wolfgang von Goethe intensiv mit dem Islam beschäftigt hat, dass ihn das Zusammenspiel von Orient und Okzident faszinierte, war schon länger bekannt. Mit Anfang zwanzig übersetzte er einige Suren und plante ein Drama über „Mahomet“, von dem einige Fragmente erhalten blieben. Viel später zeigt er in den Gedichten des „West-östlichen Divan“, wie intensiv er sich in die Geistigkeit dieser Religion eingearbeitet hat, wie produktiv sie für sein eigenes literarisches Schaffen wird. Und in diesem Zusammenhang fallen Äußerungen, die eine große Offenheit für den Islam erkennen lassen. Der Vers „Im Islam leben und sterben wir alle“ steht dabei unter einer grundlegenden, im Vorvers genannten Bedingung: „Wenn Islam Gott ergeben heißt …“.

Wie lassen sich diese Beobachtungen verstehen, wie in ein Gesamtgefüge einordnen? Der Tübinger Theologe und Literaturwissenschaftler Karl-Josef Kuschel legt einen imposanten Gesamtentwurf vor, der das Thema gründlich und differenziert ausleuchtet. Erstmals bietet er ein Dreifaches: Erstens eine kompakte Dokumentation aller relevanten Texte Goethes zum Themenfeld von Koran und Islam. Zweitens eine fundierte, weite Kontexte ausleuchtende Kommentierung der Dokumente im korrelativen Bogen zwischen der Entstehungszeit und heutigen Fragestellungen. Drittens eine Gestaltung dieser Textbausteine durch Kalligrafien des aus Pakistan stammenden, seit Jahrzehnten in Deutschland lebenden Künstlers Shahid Alam. Der Bezug zu Goethe? Goethe war seinerseits fasziniert von der Spiritualität und Ästhetik der Kalligrafien, hatte sich selbst in diese Kunst eingearbeitet.

Das Ergebnis dieser Kooperation ist ein einerseits äußerst lesenswertes Kabinettstück theologisch-weltliterarischer Kulturdeutung, andererseits aber auch ein ästhetisch äußerst schönes Buch, das den Wert des inhaltlich Aufgezeigten in seiner Gestaltung nachempfindet.

„Gottes ist der Orient, / Gottes ist der Okzident“? Goethe ist tatsächlich, so wird in diesem Buch deutlich, ein Brückenbauer zwischen den Religionen und Kulturen. Als solcher kennt er beide Ufer gut, hält aber einerseits die Balance, ohne sich anderseits auf einer der beiden Seiten ganz zu beheimaten. Als Künstler ist er – in aller Ernsthaftigkeit – ein Spieler, der sich nicht festlegt. Er bleibt „kritisch-abwägend“ (373), sowohl gegen das ihm nur zu gut bekannte Christentum seiner Zeit als auch gegenüber dem mit echter Wertschätzung erschlossenen Islam.

„Wertschätzung“ ist weit mehr als „Toleranz“ oder „Duldung“ (377), betont Kuschel. Und darin kann man Goethe durchaus als Vorbild sehen. Gewiss, Goethes Islam ist eine „Lektüre-Religion“, sein Bild vom Orient ein „Buch-Orient“ (375). Bis auf eine bemerkenswerte Ausnahme kam es zu keiner tatsächlichen Begegnung mit Muslimen, ganz zu schweigen von Erfahrungen von echter, alltäglicher Konvivenz. Jeder Versuch einer eindimensionalen Übertragung von Goethes Koran-Bild und Islam-Aussagen auf die heutige Zeit wäre kurzschlüssig. Ihn faszinieren die Verse des großen persischen Dichters Hafiz aus dem vierzehnten Jahrhundert. Mit ihnen tritt er in einen poetischen Dialog. Die Licht- und Schattenseiten von gelebten Religionen kennt Goethe, sie bilden aber nicht die Ebene seines Zugangs.

Von Goethe aus lassen sich also keine Grundregeln interreligösen Lernens für heute ableiten. Sehr wohl aber erschließt das vorliegende Buch die geistige und religiöse Durchdringung und Verflechtung beider Welten. So heißt es in einem Vierzeiler, den Goethe sechs Jahre vor seinem Tod schrieb: „Wer sich selbst und andre kennt / Wird auch hier erkennen / Orient und Occident / Sind nicht mehr zu trennen.“

Georg Langenhorst

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