In den letzten Jahren hat die Frage nach dem Umgang mit dem kolonialen Erbe und den Folgen des Kolonialismus erheblich an Bedeutung gewonnen. Die historischen Belastungen und ihre gegenwärtige Prägekraft sind in der „Agenda 2030“, die 2015 im UN-Rahmen Ziele der nachhaltigen Entwicklung definiert hat, noch pragmatisch ausgeklammert worden. Mittlerweile wird aber immer deutlicher, dass sie eine der wichtigen politisch-kulturellen Herausforderungen in den Beziehungen der sich globalisierenden Gesellschaften darstellen.
In Deutschland ist die Debatte insbesondere um das Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, den angemessenen Umgang mit der Verantwortung für den Völkermord an den Herero und den Nama sowie um Straßenbenennungen und Rassismus entflammt. Die prekäre Anwesenheit der aus der Kolonialgeschichte resultierenden Beziehungsstörungen ist oft mit den Händen zu greifen. Nicht selten aber sind diese Störungen unter der Oberfläche des Alltags verborgen und treten erst in Krisenmomenten abrupt zu Tage.
Nicht zuletzt deshalb ist es zu begrüßen, dass die Bundesregierung und der Bundestag sich in den letzten Jahren dieser Thematik angenommen haben. Die erklärte Rückgabe der Benin-Bronzen sowie das Abkommen mit Namibia sind bemerkenswerte und ermutigende Früchte des damit verbundenen politisch-kulturellen Lernprozesses. Auch wenn dem Staat in diesen Prozessen eine wichtige Rolle zukommt, ist es keineswegs nur eine Frage staatlicher Verantwortlichkeit. Vielmehr haben wir es mit einem politisch-kulturellen Problem zu tun, an dessen Lösung auch die gesellschaftlichen Akteure und entsprechend auch die Religionsgemeinschaften mitwirken müssen. Denn auch in der Kirche ist die Thematik anwesend.
Spannungsreiche Verstrickung von Kolonialismus und Mission
Als Weltkirche haben wir die aus dem Kolonialismus resultierenden Spannungen sozusagen in der Familie. Die weltweite Verbreitung des Christentums europäisch-westlicher Prägung ist eng – wenngleich durchaus ambivalent – mit der Geschichte des Kolonialismus verbunden. Mission und Kolonialismus standen in einem Verhältnis spannungsreicher Verstrickung. Die kritische kirchliche Auseinandersetzung um Mission und Inkulturation, die auch eine Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus ist, ist eine hoch spannende Lerngeschichte, die sich nicht zuletzt in den missionsgeschichtlichen Sammlungen und dem Umgang mit ihnen ablesen lässt. Keineswegs zufällig hat Papst Johannes Paul II. das kolonialistische Versagen der Christen und Christinnen in seinem Schuldbekenntnis für die Kirche im Jahr 2000 angesprochen. Ein deutlicher Fingerzeig, dass tiefliegende Fragen des Selbstverständnisses berührt werden.
Dieser Befund korrespondiert auch mit der Beobachtung, dass der Diskurs zu Postkolonialismus sowohl politisch als auch vor allem moralisch bemerkenswert aufgeladen ist. Postkolonialismus fungiert nicht selten als Kampfbegriff. Der hohe Ton vieler Einlassungen sowie auch der abwehrenden Entgegnungen weist darauf hin, dass der Diskurs einen Glutkern besitzt, der von der Frage nach Identität handelt. Das mag damit zusammenhängen, dass die Entwicklung postkolonialer Ansätze Teil ideen- und beziehungsgeschichtlicher Emanzipationsprozesse und der Neudefinition des Verhältnisses zum Westen sowie zur eigenen Geschichte war und ist. Die damit verbundenen Fragen stellen sich unter den Bedingungen der sich im Rahmen der Globalisierung verändernden Rolle des Westens in neuer Zuspitzung. Es ist zugleich eine Frage, die die westlichen, insbesondere die europäischen Gesellschaften zu klären haben.
Aber so vielfältig wie die kontextuellen Ausgangsbedingungen postkolonialen Denkens, seien sie arabisch, afrikanisch, asiatisch oder amerikanisch, so vielfältig sind auch die postkolonialen Ansätze. Das liegt in der Logik dieser ideengeschichtlichen Entwicklung. Auch wenn der Begriff es suggerieren mag: Es gibt keine geschlossene postkoloniale Theorie. Vielmehr handelt es sich um eine Ansammlung von Antwortversuchen auf die Erfahrung der gegenwärtigen Prägekraft der kolonialen Vergangenheiten, zu der man sich in Beziehung setzen und mit der man umgehen muss. Dabei merkt man nicht wenigen Ansätzen das Emanzipationsbewegungen eigene Pathos der Abgrenzung an.
Dieses Pathos kann einen wichtigen Beitrag zur Neujustierung von Beziehungen leisten. Aber aus ihm heraus allein wird sich die gemeinsame Bewältigung der sich aus der Geschichte ergebenden Herausforderungen kaum leisten lassen. Das aus unserer weltkirchlichen Praxis entwickelte Verständnis von postkolonialem Denken zielt daher auf das gemeinsame Nachdenken und Handeln beim Umgang mit den Folgen des Kolonialismus als einem – wiewohl asymmetrischen – gemeinsamen Erbe, mit dem Ziel der Herstellung von versöhnten Beziehungen. So verstandenes postkoloniales Denken und Handeln setzt voraus, dass wir uns miteinander über dieses gemeinsame Erbe verständigen. Die vielfältigen Beziehungsstörungen und Prägungen, die der Kolonialismus hervorgerufen hat, kommen dabei sowohl als Motiv als auch als Hindernis in den Blick.
Geschichtliche Gewordenheit lässt sich nicht zurückdrehen
Es hilft, sich zu vergegenwärtigen, womit wir es beim Umgang mit den Folgen des Kolonialismus in der Sache zu tun haben. Das Erste, was bei einem Blick auf das historische Material deutlich wird, ist die beachtliche Formenvielfalt des Kolonialismus. Siedlerkolonien, Stützpunkt- und Handelskolonien, Beherrschungs- und Verdrängungskolonien sind nicht allein nach ihrem rechtlichen Status in ihrem Verhältnis zum kolonisierenden Land sehr verschieden. Sie treffen auch auf höchst unterschiedliche Ausgangslagen in den kolonisierten Gebieten selbst. Die sich daraus entwickelnden Konstellationen und Geschichten sind ihrerseits dementsprechend höchst unterschiedlich, wie ein Vergleich zwischen China, Indien, Südafrika, Kamerun, Haiti, Brasilien oder auch den USA unmittelbar zeigt.
Eines ist aber allen eigen. Die kolonialistische Mischung aus Dominanz, Asymmetrie und Gewalt, die sich zudem in vielfältigen Formen diskriminierender Denkweisen niederschlägt und diese zu legitimieren sucht, prägt alle betroffenen Gesellschaften bis heute, wenngleich auch in sehr unterschiedlicher Weise. Sei es durch die Veränderung der Wirtschafts- und Sozialstruktur wie beispielsweise durch die Einführung der Plantagenwirtschaft, sei es durch die Bevorzugung von einzelnen Ethnien oder Religionsgemeinschaften zur Durchsetzung der eigenen Interessen oder sei es durch gewaltsame Eingriffe in die Bevölkerungsstruktur durch Sklaverei und Sklavenhandel. Einer der markantesten und wirkmächtigsten Eingriffe waren dabei die Grenzziehungen in Afrika im Zuge der Berliner Konferenz 1884/85.
Diese Prägungen wirkten auch in den häufig gewaltförmigen Prozessen der Dekolonialisierung. Aus der Kolonialzeit stammende ethnische Spannungen gingen oft über in den Kampf um die Macht in den unabhängigen Staaten. Die Konflikte zwischen Hutu und Tutsi sind dabei sicherlich eines der markantesten Beispiele. Die Erinnerung an die Kolonialzeit und den Befreiungskampf wurde zur legitimierenden Ressource für viele neue Regierungen, wie zum Beispiel in Zimbabwe. Die vielfältige Gewaltförmigkeit des Kolonialismus sowie der Dekolonialisierung schafft einen hohen Bedarf an Narrativen und Deutungen. Den jeweiligen Erinnerungen an Kolonialismus und Dekolonialisierung kommen poltisch-kulturelle Funktionen zu, die es als Teil von Bewältigungsstrategien mit all ihren Versuchungen verstehen zu lernen gilt. Die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe ist nicht von der Auseinandersetzung mit den anderen Gewalterfahrungen in den jeweiligen Ländern zu trennen. Koloniale Prägungen sind eine der häufig unterschätzten Ressourcen für heutige Konflikte. Die postkolonialen Phasen sind in vielen Kontexten von der Sehnsucht geprägt, sich von den Prägungen des Kolonialismus zu befreien. Dabei stößt man auf die schmerzhafte Erfahrung, dass die geschichtliche Gewordenheit der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse nicht einfach übersprungen oder rückgängig gemacht werden kann. Denn: Es gibt keine reale Option, in die Zeit und den Zustand vor der Kolonialisierung zurückzukehren. Denkt man an die Staatsgrenzen in Afrika, wird zudem das Gewaltpotenzial solcher Veränderungen sichtbar.
Vielmehr geht es darum, die eigenen Identitäten in Beziehung zu den realen Verhältnissen zu setzen, das heißt das Selbstverhältnis sowie das Verhältnis zu den Anderen/der Welt zu klären und zu gestalten, wobei den ehemaligen Kolonialmächten in diesem Prozess der Abgrenzung und Neujustierung der Beziehungen auf Augenhöhe eine besondere Rolle zukommt. Zugleich ist es nicht verwunderlich, dass es in den betroffenen Gesellschaften auch Phänomene der Verdrängung und Vermeidung gibt. Zudem ist es verständlich, dass viele Menschen ehemals kolonisierter Staaten angesichts der alltäglichen Probleme, vor denen sie heute stehen, das koloniale Erbe nicht oben auf ihrer Problemliste verorten.
Auch die ehemaligen Kolonialstaaten sind von dieser Geschichte vielfältig geprägt. Die Prägungen reichen von der Veränderung der Ernährungsweisen (Stichworte: Tee, Kaffee, Kartoffeln, Tomaten) über die Veränderung der Bevölkerungszusammensetzung, zum Beispiel durch Sklavenhandel und Migration, bis zur Entwicklung europäisch/westlicher Überlegenheitsvorstellungen, die zudem oftmals rassistisch begründet sind. Der Rassismus gehört gewiss zu den besonders toxischen Prägungen durch den Kolonialismus. Insbesondere die Hochzeit des Kolonialismus im 19./20. Jahrhundert hatte erheblichen Einfluss auf die Entwicklung spezifischer nationaler Selbstbilder nebst den entsprechenden Verlusterfahrungen in der Zeit der Dekolonisierung.
Der Blick auf die Entwicklung der nationalen Selbstverständnisse zeigt, dass sich diese auch an der streitbaren Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus entwickelt haben. Die kritische Thematisierung der Kolonialskandale um Belgisch-Kongo, Carl Peters, der Völkermord an den Nama und Herero, sowie der Kampf um die Aufhebung der Sklaverei waren wichtige Marksteine gesellschaftlicher Entwicklung, die zugleich Anknüpfungspunkte für heute sein können.
Bei allen ernstzunehmenden Unterschieden der europäischen Kolonialmächte überwiegen insbesondere beim Kolonialismus des 19./20. Jahrhunderts die europäischen Gemeinsamkeiten die nationalen Unterschiede. Entsprechend haben wir neben der Auseinandersetzung mit den nationalen Verantwortlichkeiten auch eine Auseinandersetzung um die europäische Verantwortung zu führen. Diese besitzt angesichts nationaler Unterschiede und der Tatsache, dass die ostmitteleuropäischen Staaten keine Kolonialstaaten waren, durchaus auch Konfliktpotenzial innerhalb Europas.
Die bis heute wirkenden kolonialen Prägungen stellen die involvierten Gesellschaften vor Herausforderungen in ihrem Verhältnis zu sich selbst sowie zueinander. Die Auseinandersetzung mit diesem Erbe wird zusätzlich dadurch erschwert, dass der gegenseitige Einfluss asymmetrisch ist. Die Kolonialstaaten haben die Kolonien stärker geprägt als umgekehrt. Diese kränkende Asymmetrie, die sich häufig in den bestehenden wirtschaftlichen Strukturen und politisch-kulturellen Beziehungen zeigt (Stichwort: Sammlungsgut), gilt es, als problematisches Erbe wahrzunehmen. Wir sind gut beraten, die Thematik als internationale, europäische und nationale Herausforderung ernst zu nehmen. Dabei geht es nicht so sehr um Geschichte als vielmehr um deren Prägekraft für die Gegenwart. Wir haben es mit Beziehungsstörungen zu tun, die wir nur miteinander beheben können.
Die Fragen nach Reparationen, Entschädigungen oder auch nach der Rückgabe von kolonialem Sammlungsgut können nicht allein in einer rechtlichen Perspektive betrachtet werden. Die Anerkennung historischer Verantwortung muss von politisch und finanziell verbindlichen Taten begleitet werden. Rechtliche Regelungen können Ausdruck solcher Verbindlichkeit sein. Sie sind einzubetten in eine Kultur der Anerkennung und der Multiperspektivität. Dazu braucht es vor allem die Bereitschaft, ernsthaft miteinander in Beziehung zu gehen und die erforderlichen Konflikte konstruktiv auszutragen. Aus unseren Erfahrungen beim Umgang mit gewaltbelasteter Vergangenheit und Versöhnungsprozessen wissen wir um die Bedeutung multiperspektivischer Ansätze, von Akten der verbindlichen Anerkennung von Leiden und gemeinsamer Bewältigung der Folgen. Kulturelle Zusammenarbeit ist dabei eine wesentliche Voraussetzung. Neben den konkreten Projekten (Gedenk- beziehungsweise Lernorte, Entschädigungen, symbolische Akte etc.) kommt es vor allem auf die Schaffung von Handlungs- und Beziehungszusammenhängen an, in denen gemeinsame Vorhaben (Joint Ventures) verwirklicht werden. Dabei müssen die jeweiligen partikularen Kontexte und Prägungen ernst genommen werden.
Berlin braucht einen Ort des Austausches
Die Verschiedenheiten generalisierend einzuebnen, wäre näher an den geistigen Haltungen der Kolonialherren als an dem, was wir benötigen. One size fits all wäre genauso unpassend wie eine relativierende Auflösung der Phänomene ins historische Detail. Aber ohne eine tiefere Kenntnis der vielfältigen historischen Prozesse werden wir nicht vorankommen. Dazu braucht es Formen und Orte des gemeinsamen Austauschs, damit wir uns die heute relevanten Folgen des Kolonialismus und unsere Verwobenheit in diese Geschichte miteinander verständlich machen können. So könnte beispielsweise die Wilhelmstraße 92 – der Ort der Berliner Konferenz 1884/85 – gemeinsam mit europäischen und afrikanischen Partnern zu einem solchen Ort umgestaltet werden. Auch die Zivilen Friedensdienste sollten sich der Thematik annehmen. Die Leitlinien der Bundesregierung „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen und Frieden fördern“ sowie die dazu gehörige Strategie zu Vergangenheitsarbeit und Versöhnung sollten perspektivisch diese Konfliktdimensionen integrieren.
Die Kirche ist gefordert, ihre weltkirchlichen Fähigkeiten und Erfahrungen stärker als bisher in diese wichtige welt-innenpolitische Auseinandersetzung einzubringen. Denn die Weltkirche selbst stellt trotz aller historischen Verletzungen eine Gemeinschaft und damit einen praktisch erfahrbaren Handlungsraum dar, in dem postkoloniales Denken schon viel stärker Wirklichkeit geworden ist, als viele glauben. Wir haben eine komplexe Geschichte zu erzählen. Wir müssen es nur tun. Deshalb ist es richtig, dass die Deutsche Kommission Justitia et Pax in Zusammenarbeit mit den Werken und Orden den Umgang mit dem kolonialen Erbe zu einem der Schwerpunkte ihrer Tätigkeit gemacht hat.