Bundestagswahlen werden für gewöhnlich nicht mit außenpolitischen Themen gewonnen. Darüber hinaus trifft die Außenpolitik in Deutschland immer noch auf wenig öffentliches Interesse, zu lange hatte man sich die Debattenabstinenz in Zeiten des Kalten Krieges und der deutschen Teilung angewöhnt. Allein Europa war und ist zurecht der Horizont deutscher Handlungsoptionen, ohne das dies aber genauer bestimmt wäre. Die wachsende Verantwortung des wiedervereinigten Deutschlands wird dabei – nicht zuletzt auch in der Trump-Episode – beschworen, aber noch dürftig mit Inhalt gefüllt. Floskeln dominieren hier besonders auch die Interviews im Wahljahr.
Ein überraschendes kleines Bändchen des Philosophen und Soziologen Hans Joas leistet hier nun Pionierarbeit, außenpolitische Grundsatz- und Strategiedebatten angesichts der eben beschworenen neuen Rolle Deutschlands anzustoßen und zu führen. Für jede künftige Kanzlerin und jeden Kanzler sollte Joas‘ kleine Streitschrift zum Friedensprojekt Europa Pflichtlektüre sein. Vor allem durchkreuzt der Autor klug und fundiert ausgetretene Pfade des politischen Common senses. Selbst Annalena Baerbock plädierte jüngst eher reflexhaft für ein stärkeres europäisches Engagement in der Verteidigungspolitik. Europa müsse seine „Friedensrolle“ in der Welt stärker ausspielen und sprach in dem Zusammenhang auch von „robusten europäischen Militäreinsätzen“. Hier widerspricht Joas vehement. Wenn Europa sich durch verstärkte Integration zu einer Art militärischem „Global Player“ aufschwinge, neben den USA, Russland und China, sei das mit der Erzählung vom „Friedensprojekt“ nicht mehr vereinbar.
Europa dürfe sich nicht zu eine Art nachholendem Imperialismus aufschwingen, der mit hohem moralischem Impetus doch nur die Fehler der anderen Weltmächte – historische und gegenwärtige – wiederhole. So begründet Joas seine verblüffende wie nüchterne Europa-Skepsis und warnt vor einer „Selbstsakralisierung Europas“. Stärkere Integration der europäischen Staaten sei nicht automatisch besser, wenn das supranationale Gebilde sozusagen imperialistischer sei, als gemäßigte Nationalstaaten. Sehr lesenswert und diskussionswürdig! Volker Resing