Zum Streit um das BittgebetUnerhörte Gebete

Theologische Klärungsversuche, ob, wie und warum Gott Gebete erhört oder nicht erhört, gibt es in Hülle und Fülle. Warum es sich auch jenseits davon lohnt, einen Blick darauf zu werfen, dass unser Bittgebet angesichts seiner miserablen „Erfolgsrate“ nicht nur Naivität, gedankenlose Routine oder Realitätsverweigerung ist.

Betende Hände auf einem Buch
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Kann er nicht? Will er nicht? Sehe ich es nicht? So könnte man etwas salopp die wesentlichen Fragen zusammenfassen, die sich angesichts von nicht erhörten Gebeten stellen. „Erhört“ sei dabei in dem ganz schlichten Sinn verstanden: Auf mein Gebet hin verändert Gott die Situation im Sinn meines Gebets.

Warum also beseitigt Gott das Covid-19-Virus nicht? Er würde in die Ordnung der Welt eingreifen, und wenn er das dauernd täte, wäre diese Welt eben nicht mehr geordnet und verlässlich. Warum bewirkt Gott nicht, dass ein Mensch an ihn glaubt? Er würde sich damit an dessen Freiheit vergreifen, aber unsere Freiheit ist Gott heilig. So könnte man sehr verkürzt zwei zentrale Begründungsfiguren für nicht erhörte Gebete zusammenfassen.

Schon an der Grenze unserer schlichten Definition von „erhört“ befindet sich eine dritte Erklärung: Möglicherweise erhört Gott anders, als ich gebetet habe, möglicherweise führt zum Beispiel eine leidvolle Erfahrung zu einer inneren Reifung.

Kann er nicht? Will er nicht? Sehe ich es nicht? Diese Fragen und eine Fülle weiterer, die mit ihnen zusammenhängen, sind ebenso relevant wie umstritten. Es ist unbestreitbar wichtig, dass die Theologie hier arbeitet. Auch, dass sie kritisch unsere Gebetspraktiken beleuchtet und die Frage des Bittgebets insbesondere in den größeren Kontext des Gottesverständnisses stellt. Freilich: Es gibt natürlich keine belastbaren Statistiken über die Erhörung von Gebeten. Aber ich wage zu behaupten, dass die Erfahrung, dass das Gebet im oben genannten alltagssprachlichen Sinn nicht erhört wird, eher die Regel als die Ausnahme darstellt. Das gilt jedenfalls, wenn es um konkrete Situationen geht. Man denke nur an die typischen Fürbitten im Sonntagsgottesdienst: um Frieden in Krisengebieten, Gesundheit für die Kranken, et cetera. Alles Beten für die Kirche hat die skandalösen Missbrauchspraktiken nicht verhindert. Soll man wirklich so zynisch sein zu sagen, man wisse ja nicht, ob es ohne das Gebet nicht noch schlimmer gekommen wäre?

Und selbst wenn sich für alle ausbleibenden Erhörungen beste theologische Gründe fänden, so könnte Gott in der Folge doch wie Eltern erscheinen, die immer einen guten Grund haben, ihrem Kind eine Bitte abzuschlagen. Wird das Kind dann nicht irgendwann aufhören zu bitten – weil es frustriert ist, weil sich das Bitten schlicht nicht lohnt, weil offensichtlich die Eltern ohnehin immer schon wissen, was das Beste ist, und die kindliche Perspektive hier nicht mithalten kann?

„Unmögliche“ Gebete

Ergänzend zu den theologischen Klärungsversuchen, ob, wie und warum Gott Gebete erhört oder nicht erhört, lohnt es sich, einen Blick darauf zu werfen, warum unser persistentes Bittgebet angesichts seiner miserablen „Erfolgsrate“ nicht nur Naivität, gedankenlose Routine oder Realitätsverweigerung ist.

Ich lasse bewusst offen, inwiefern und auf welche Weise es Gebetserhörungen in dem Sinn gibt, dass zumindest subjektiv für den Betenden auf Grund seines Gebets die Änderung einer Situation eintritt. Ich frage hingegen, ob das Bittgebet auch dann „gelungen“ sein kann, wenn die Bitte nicht im oben genannten Sinn „erfüllt“ wird. Aber welche andere Bedeutung kann das Bittgebet haben? Und sind das nicht nur müde theologische Rationalisierungsversuche?

Wenn wir in die Gebetspraxis schauen, zeigt sich: Manchmal bitten wir um Unmögliches, zum Beispiel um die Beendigung des Krieges im Jemen. Wir wissen, dass es unmöglich ist. Nicht an sich, aber es ist unmöglich, dass Gott einen Krieg einfach wegzaubert. Wiederum: Ich enthalte mich der Frage, ob es logisch unmöglich wäre, aber unserer praktischen Erfahrung nach ist es schlicht sicher, dass es nicht geschehen wird. Wenn wir also nicht an einen zaubernden Gott glauben – und all unsere Wirklichkeitserfahrung, auch die glaubende Wirklichkeitserfahrung, spricht gegen einen solchen Gott –, dann kann diese Bitte nicht „ernst gemeint“ sein in dem Sinn, dass wir meinen, dass montags im Jemen Frieden geschlossen wird, wenn wir sonntags im Gottesdienst darum bitten.

Warum bitten wir dann? Zum Beispiel, weil wir uns Sorgen machen, Angst haben oder darunter leiden, eine Situation nicht ändern zu können. Wir tragen unsere Sorgen, unsere Angst und unser Leid vor Gott, das heißt: unsere Welt, unser Leben, unsere Gefühle, wie sie sind. Gerade an den „unmöglichen“ Bitten wie der nach der Beendigung des Krieges im Jemen sieht man vielleicht besonders gut, dass wir in der Regel wohl intuitiv unsere Bitten an Gott nicht verstehen wie: „Mach bitte die Tür zu“.

Worum es hier geht, lässt sich vielleicht noch etwas besser fassen, wenn wir die Gegenprobe machen.

Streichen wir das Bittgebet!

Wir streichen das Bittgebet, das private wie das gemeinschaftliche. Was wäre die Folge? Wir danken, loben, beten Gott an. Aber wir bitten nicht: Er weiß ja schon alles. Wir behelligen ihn nicht mit unseren Sorgen, als meinten wir, Gottes guter Wille ließe sich von unseren kleinlichen Wünschen beeinflussen. Wie die oben genannten Kinder: Warum auch immer Gott unsere Bitten nicht erhört, es lohnt sich jedenfalls nicht zu bitten. Die Folge? Ich will nicht sagen, dass es zwingend geschähe, aber die Gefahr wäre doch: Unser Gottesverhältnis wird zur blutleeren Verehrung eines höchsten Wesens, dem man sich gewissermaßen nur im Sonntagsstaat und sehr manierlich nähert. Ich habe Angst und leide, aber du wirst es schon am besten wissen. Das kann sehr abgeklärt sein – vielleicht aber auch zu abgeklärt? Nicht zu Unrecht ist demgegenüber mit Verweis unter anderem auf die Psalmen die Berechtigung der Klage, gar der Anklage Gottes betont worden: Alles, was zu mir, meinem Leben und unserer Welt gehört, hat vor Gott seinen Platz.

Der kommunikative Akt des Bittgebets

Und die Form der Bitte? Wieso bitten wir: „Mach dem Krieg im Jemen ein Ende“, wenn wir kein montägliches Wunder erwarten?

Kommunikationstheoretiker sagen uns, dass unsere Sprechakte eine Reihe von Bedeutungsebenen haben können, und häufig haben sie mehrere zugleich. Zum Beispiel: Eine Bitte („Mach bitte die Tür zu“) kann zugleich eine Information über die Lage sein (die Tür ist offen und es kommt Lärm von draußen herein), ein Selbstausdruck meiner Person und meiner Befindlichkeit (ich bin genervt und will hier in Ruhe arbeiten) und ein Ausdruck meiner Beziehung zum Gebetenen (der andere kennt mich und meine Lärmempfindlichkeit und versteht mich mit meiner leicht gereizten Bitte).

Auf das Bittgebet übertragen, scheint zunächst die Dimension der Information problematisch. Aber es wäre ein Missverständnis zu meinen, wir wollten Gott über etwas informieren, das er noch nicht weiß, wenn wir unsere Bitte einleiten mit: „Der Krieg im Jemen will kein Ende nehmen.“ Der natürlich hinkende Vergleich mit dem zwischenmenschlichen Gespräch zeigt, dass auch dort nicht selten die Information eher eine scheinbare ist. Wenn mir eine Freundin von ihrer Zahnarztbehandlung berichtet, dann enthält das zwar auch Informationen. Aber diese sind für mich in der Regeln nicht als solche relevant, sondern sie sind das Vehikel, mit dessen Hilfe meine Freundin ausdrückt, wie es ihr geht. Die Dimension des Appells ist diejenige, nach der unsere Eingangsfragen „Kann er nicht? Will er nicht? Sehe ich es nicht?“ fragen. Dagegen hat unsere „Gegenprobe“ auf die anderen beiden Dimensionen hingewiesen: Unser Bittgebet sagt etwas über uns und über unsere Beziehung zu dem, an den es sich richtet.

Freilich sollte man vorsichtig sein, den Vergleich mit zwischenmenschlicher Kommunikation zu weit zu treiben. Modelle aus dem zwischenmenschlichen Bereich lassen sich nicht bruchlos auf unser Gottesverhältnis übertragen. Die Frage, wie Gott recht zu bitten sei, wird deshalb regelmäßig mit „Hygienevorschriften“ für das Bittgebet beantwortet. Dazu gehört insbesondere, dem Willen Gottes Vorrang vor der eigenen Bitte zu geben sowie nicht zu versuchen, Gott als Zauberer zu missbrauchen.

Manchmal gelten solche „Hygienevorschriften“ sogar als die eigentliche Antwort auf das Problem unerhörter Gebete. Denn letztlich sei das Einzige, worum es sich wirklich zu beten lohne, eben nicht dieses oder jenes, sondern nur der Glaube beziehungsweise Gott selbst. Alle anderen Bitten seien letztlich doch unangemessen, kleinliche Versuche, Gott vor den Karren unserer Wünsche zu spannen. Gott um Gott bitten: das sei das einzige Gott angemessene und deshalb erhörungsgewisse Gebet.

Also müsste man nur um das Richtige beten, damit Gott unser Gebet erhört: um ihn selbst? Ich will die immense geistliche Bedeutung dieser Bitte nicht schmälern, aber als pauschale Antwort auf die Frage nach der Erhörung des Bittgebets scheint sie mir problematisch. Denn zugespitzt ähnelt sie Lösungen des Theodizeeproblems, die Gott entlasten, indem sie alle Schuld dem Menschen geben: Wenn Gott mein Gebet nicht erhört, dann kann es nur daran liegen, dass ich um das Falsche gebetet habe, nämlich um „etwas“ statt um ihn selbst. Angesichts von Gebeten um das Ende von Krieg, Folter und Vergewaltigung halte ich eine solche Argumentation für zynisch. – Ganz abgesehen davon, dass meiner Erfahrung nach die Erhörung der Bitte um „Gott selbst“: um den Glauben, um Gottes Geist, um die Bekehrung des eigenen Herzens auch nicht immer durchschlagend zu sein scheint.

Und das biblische Zeugnis?

Gegen eine Disqualifikation aller „äußerlichen“ Bitten scheint auch das biblische Zeugnis zu sprechen. Dort wird nicht nur viel um Konkretes gebetet, sondern Jesus fordert auch ausdrücklich dazu auf (vgl. zum Beispiel Mt 7,7–11). Müsste man aber hier nicht noch weiter gehen und sagen: Das biblische Zeugnis entlarvt auch meine vorangehenden Überlegungen als zu zaghaft? Spricht es nicht laut und klar davon, dass wir nicht nur bitten dürfen und Gott uns hört, sondern auch davon, dass er erhört? Es gibt immer noch Predigten, die genau nach diesem Muster verfahren: Die Anfragen an das Bittgebet und seine Erhörung mögen noch so sensibel dargestellt werden, die Antwort besteht letztlich im schlichten Verweis darauf, dass Jesus vertrauensvolles Gebet gefordert und Erhörung verheißen habe.

Die Rückfrage muss aber erlaubt sein: Auf welches biblische Zeugnis bezieht man sich hier und wie? Die biblischen Zeugnisse zum Gebet sind ja durchaus vielfältig. In manchen Psalmen wird bekanntlich recht ungeniert um die Vernichtung der Feinde gebetet. Und im Buch Exodus, Kapitel 17, wird davon berichtet, dass das Volk Israel siegt, solange Mose die Hände erhoben hat. Als er müde wird und die Hände sinken lässt, beginnt sich das Kriegsglück zu wenden. Also stützen seine Begleiter seine Hände – und der Sieg ist Israel sicher.

Kaum jemand wird solche Texte einfach als Empfehlungen verwenden, worum und wie zu beten sei. Stattdessen wird im Blick auf die Feindpsalmen beispielsweise nicht selten empfohlen, sie sich in eben dem Sinn meiner obigen Überlegungen zu eigen zu machen: als Möglichkeit, alles, auch die finstersten Gedanken, tiefliegendsten Verletzungen und furchtbarsten Ängste noch vor Gott zu tragen.

Ein solcher hermeneutisch intelligenter Umgang mit den biblischen Zeugnissen sollte uns auch im Blick auf Texte wie das siebte Kapitel des Matthäus-Evangeliums nicht verlassen. Dann lassen sie sich ihrerseits lesen als Ermutigung zu einer Gottesbeziehung, in der alles zur Sprache kommen darf. Im Zentrum steht bei Matthäus das Geschehen des Willens Gottes und das Kommen seines Reiches (vgl. den Kontext Mt 5–7). Aber auch die konkreten Bitten dürfen ihren Ort haben. Und wenn es heißt: „Oder ist einer unter euch, der seinem Sohn einen Stein gibt, wenn er um Brot bittet, oder eine Schlange, wenn er um einen Fisch bittet?“ (Mt 7,10), kann man das als Zusage gegen einen Verdacht hören, der einen angesichts von nicht erhörten Bitten beschleichen mag: ob Gott den Menschen tatsächlich zugewandt ist. Dass hier angesichts unserer Erfahrungen mit der Welt und mit einem Gott, der nicht eingreift, eine Ambivalenz bleibt, wird biblisch auch nicht verschwiegen, wenn man eben nicht nur einzelne Texte herausgreift: Man schaue nur zum Beispiel in die Klagepsalmen oder den markinischen Passionsbericht.

Das Bittgebet, so könnte man sehr schlicht sagen, erlaubt uns, vor Gott ganz Mensch zu sein, mit allem, was zu uns gehört. Freilich unter der Bedingung, dass wir Gott auch Gott sein lassen und aus ihm weder einen Zauberer noch einen quasi-menschlichen Gesprächspartner machen. Dann kann sich das Bittgebet jeder Phantasie enthalten, was Gott mit ihm „macht“, und sich als Ausdrucksmedium verstehen: Indem ich Gott sage, was mich bewegt, sage ich, wer ich bin, wie ich zu ihm stehe und wer er für mich ist. Noch einmal: Damit soll keineswegs die Notwendigkeit theologischer Reflexion darauf bestritten werden, was Gott mit dem Bittgebet möglicherweise „macht“. Aber theologische Reflexion und glaubender Vollzug sind nicht einfach identisch.

Auch das Theodizeeproblem bleibt intakt. Der Vollzug des Bittgebets kann hier wohl nichts anderes tun als die Grundlinie des Glaubens halten: Er verweigert sich zu einfacher Antworten, warum diese Welt die beste sein soll, die Gott schaffen konnte; aber ebenso einer nur deshalb enttäuschungsfesten, weil bereits enttäuschten Folgerung, dass Gott nicht existiere. Das Bittgebet hält in allem und trotz allem an einer Gottesbeziehung fest, in der wir nicht distanziert-abgeklärt ein allwissendes und allmächtiges höchstes Wesen verehren, sondern unsere ganze Menschlichkeit vor Gott tragen.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

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