Ein Gespräch mit der Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs„Aufarbeitung bleibt ganz vorn auf der Agenda“

Christsein im Herbst 2021 ist Christsein nach Corona. Wo steht die evangelische Kirche, die zuletzt auch wie die katholische Kirche mit Kritik an ihrem Umgang mit sexualisierter Gewalt zu kämpfen hat. Darüber sprachen wir mit der gerade wiedergewählten Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs, die zuletzt auch die Missbrauchsbeauftragte der EKD war. Die Fragen stellte Stefan Orth.

Bischöfin Kerstin Fehrs
© Stefan Orth

Frau Bischöfin Fehrs, Sie sind im Juni als Bischöfin der Nordkirche im Sprengel Hamburg und Lübeck wiedergewählt worden. Was sind die markantesten Unterschiede des Beginns der zweiten Amtszeit – mitten in der Corona-Pandemie – im Vergleich mit der ersten?

Kirsten Fehrs: Zunächst einmal habe ich mich sehr über diese Wiederwahl durch die Nordkirchen-Synode gefreut; sie ermutigt mich und gibt kräftigen Rückenwind für die wesentlichen Themen, die aus meiner Sicht anstehen. Einige meiner Anliegen sind ja der gesellschaftliche Dialog und Formen der Kooperation, die Zusammenhalt fördern und dazu beitragen, dass niemand aus dem Blick gerät. In den vergangenen zehn Jahren sind dabei unzählige Beziehungen gewachsen, die besonders jetzt in der Pandemie getragen haben. So etwa im interreligiösen Dialog und in der interkulturellen Arbeit. Wir erleben aktuell so viele Polarisierungen, auch internationale Konflikte. Da ist es wichtig, in großem gegenseitigen Vertrauen etwa mit dem Landesrabbiner, der Schura, Buddhisten wie Hinduisten gemeinsam Zeichen des Friedens zu setzen. Aber auch das regelmäßige Gespräch mit Wirtschaft und Kulturschaffenden liegt mir sehr am Herzen. Hier ist über die Jahre viel Vertrauen gewachsen, und wir konnten im vergangenen Jahr an bewährte Dialogformate digital anknüpfen. Diese Räume für Austausch und Reflexion haben, glaube ich, wirklich geholfen, diese Pandemie einzuordnen und existentielle Einschränkungen auszuhalten.

Und wenn man in die Gemeinden guckt. Wo steht das kirchliche Leben im Sprengel Hamburg und Lübeck?

Fehrs: Die Zukunft unserer Kirche beschäftigt mich, gemeinsam mit den Kirchenkreisen, natürlich intensiv. Konkret sind viele Gemeinden damit befasst, neue Formen der Kooperation zu entwickeln, damit Kirche vor Ort erkennbar bleibt. Die Nähe zu den Menschen bleibt dabei ganz wichtig. Aber die Art und Weise, wie wir flächenmäßig präsent sind, wird sich verändern. Eben nicht allein durch die Pastorin am Ort, sondern auch durch die Kita, das Pflegeheim der Diakonie oder eine andere kirchliche soziale Einrichtung. Wir müssen viel genauer fragen, auf welche Weise die evangelische Kirche als Teil der Gesamtgesellschaft in Kommune und Stadtteil wirksam ist. Auch da hat die Pandemie den Blick geschärft. Sie hat gezeigt, wie wichtig es ist, Dialogräume zu schaffen – um zu verstehen und zu entlasten. So haben wir beispielsweise mit Hilfe des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt vorigen Sommer auf einer Barkasse diejenigen an einen Tisch gebracht, die im Hafen arbeiten: von der Handelskammer bis zur Seemannsmission, die Gewerkschaft der Seeleute genauso wie die Hafenlogistiker. Die gemeinsame Fragestellung war: Was bedeutet die Pandemie für die Menschen in der Hafenwirtschaft? Ähnlich war es bei einem Gespräch mit den verschiedenen Akteuren in der Hamburger Innenstadt. Solche Begegnungsangebote sind für mich öffentliche Seelsorge mit dem klaren Signal: Die Kirche, eure Kirche, steht an eurer Seite. Kirchengemeinden haben in ihren Zusammenhängen ganz Ähnliches ausprobiert.

War das eine Bewegung weg vom Gemeindeleben mit seinen Gottesdiensten?

Fehrs: Im Gegenteil. Es wird sichtbar, dass es auch in den Gottesdiensten um das ganz reale und alltägliche Leben der Menschen geht. Da hat uns die Pandemie mit ihren Einschränkungen eine ganz andere Aufmerksamkeit abverlangt. Bei den neuen digitalen Formaten, die entstanden sind, sind viele segensreiche Ideen umgesetzt und Menschen wirklich einbezogen worden. Gleichzeitig ist durch die Pandemie noch einmal deutlich geworden: Gemeinschaft in Präsenz fehlt vielen sehr, wenn sie nicht möglich ist. Die real erlebbare Gemeinschaft auch im Gottesdienst ist eine unserer Stärken.

Wie hat es denn die Nordkirche mit Abendmahlsgottesdiensten gehalten? In vielen Landeskirchen hat man aus Hygienegründen weitgehend darauf verzichtet.

Fehrs: Das war ganz unterschiedlich. Auch in der Nordkirche haben manche Gemeinden lange auf das Abendmahl verzichtet. Andere haben nach Möglichkeiten gesucht, es dennoch zu feiern, am Hamburger Michel zum Beispiel. Da war manches ungewohnt – und hat mir durchaus neue Fertigkeiten abverlangt, etwa die Oblate mit einer Gebäckzange zu überreichen. Doch ich habe dabei auch sehr intensive Momente erlebt. Berührend, wie viel den Menschen der persönliche Segen und Friedensgruß bedeutet, ja wie zentral und wichtig der Kern des Abendmahls für christliche Existenz ist. Das hat auch meinen eigenen Blick auf das Abendmahl noch einmal verändert.

Jüngst wurden die Zahlen der Kirchenstatistik 2020 veröffentlicht. Ein ernüchterndes Ergebnis?

Fehrs: Die Kirchenstatistik für das Jahr 2020 ist tatsächlich in erster Linie das Ergebnis der Pandemie. Es ist nicht erstaunlich, dass in der Nordkirche die Zahl der Trauungen um 80 Prozent und die der Taufen um 30 Prozent zurückgegangen sind. Die Zahl der Beerdigungen ist bei uns im Norden relativ konstant geblieben. Ehrenamtliche konnten sich vor Ort logischerweise weniger einbringen; ihre Zahl ist um zehn Prozent zurückgegangen. Parallel gab es jedoch auch eine beeindruckende Kreativität, gerade von Ehrenamtlichen: Musikkapellen haben vor Altenheimen gespielt; Segenstüten wurden verteilt, der Gemeindebrief an den Gartenzaun gebracht, Brot und Weintrauben für das digitale Abendmahl ausgefahren. Und derzeit ermöglichen Ehrenamtliche vielerorts mit erheblichem Mehraufwand Gottesdienste unter freiem Himmel. Das alles hat mich außerordentlich beeindruckt.

Und wie bewerten Sie die Kirchenaustrittszahlen?

Fehrs: Pandemiebedingt waren es bei uns weniger Eintritte, aber auch weniger Austritte. Aber natürlich sehe ich die langfristige Entwicklung, und jeder Kirchenaustritt schmerzt mich. Denn die Arbeit von Kirche und Diakonie findet allgemein große Anerkennung. Sie lebt aber davon, dass sie von vielen mitgetragen wird.

Was sind denn die wichtigsten Gründe für Austritte aus der evangelischen Kirche?

Fehrs: Es gibt eine differenzierte Gemengelage der Austrittsgründe, das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD erstellt gerade eine Studie zu Austrittsanlässen und -gründen. Wir müssen einfach genauer verstehen, was Menschen dazu bewegt, ihre Mitgliedschaft in der Kirche zu beenden. Insgesamt aber haben Institutionen heute einen schweren Stand, plausibel zu machen, dass sie die Solidarität der Vielen brauchen. Heutzutage fragen die Menschen eher danach, was eine Institution wie die Kirche für sie persönlich tun kann. Umso wichtiger ist es, immer wieder zu erklären, wie wir stets mit auf die achten, die nicht laut die Stimme erheben können, die unter Kinder- oder auch unter Altersarmut leiden, vereinsamt oder vernachlässigt sind, die auf Pflege und Assistenz angewiesen sind, kurz: die in dieser Gesellschaft keinen starken Stand haben. Dass sich nicht per se das Recht der Stärkeren durchsetzt, dafür sind Institutionen wie wir da.

Die evangelische Kirche wurde in den vergangenen Jahren auch wegen der Missbrauchsvorfälle in ihren Reihen stärker angefragt. Welche Bedeutung spielt das beim Aufkündigen der Kirchenmitgliedschaft?

Fehrs: Das spielt sicher eine Rolle. Deshalb ist es absolut richtig, dass das Thema Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt ganz vorn auf der Agenda der EKD bleibt. Wir haben in den vergangenen zehn Jahren viel lernen müssen, gerade in meinem Sprengel. Sexualisierte Gewalt hatte es in unseren Strukturen zu leicht, und davor kann man immer noch erschrecken. Wenn wir als Kirche ein Vertrauensraum sein wollen, dann müssen wir alles nur Mögliche dafür tun, dass Grenzverletzungen, Übergriffigkeiten und Gewalt verhindert werden. Und dort, wo sie geschehen sind, müssen sie aufgearbeitet werden. Dabei ist – neben der furchtbaren Gewalt, die Kinder in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in Heimen erlitten haben und die in der evangelischen Kirche insgesamt ja etwa zwei Drittel der Fallzahlen ausmacht – auch zu fragen: Wie konnten Fälle sexualisierter Gewalt in den Siebziger-, Achtziger- und Neunzigerjahren in Kirchengemeinden geschehen? Deshalb sind mir die unabhängigen und wissenschaftlichen Studien so wichtig, die die EKD von einem Forschungskonsortium durchführen lässt: Hier werden neben den Aufarbeitungen in der Diakonie, derer es in den Landeskirchen und Landesverbänden ja schon etliche gibt, die verschiedenen Arbeitsfelder evangelischer Arbeit in den Blick genommen: von der Pfadfinderarbeit angefangen über Jugendarbeit in der Gemeinde, in den Beratungsstellen bis hin zur Kirchenmusik. Es ist und bleibt unsere Aufgabe, sich diesem Thema ehrlich zu stellen und EKD-weit für noch bessere Standards zu sorgen.

Aber jetzt wurde der seinerzeit beschlossene Betroffenenbeirat sistiert

Fehrs: Dass es zu der vorübergehenden Aussetzung gekommen ist, schmerzt mich und ist enttäuschend. Mir war als früherer Sprecherin des Beauftragtenrats der EKD zum Schutz vor sexualisierter Gewalt der Betroffenenbeirat als erster Punkt in unserem Elf-Punkteplan besonders wichtig. Auch weil ich ganz persönlich erfahren habe, wie sehr uns in der Nordkirche die Sicht der betroffenen Menschen aufgerüttelt und verändert hat. Die bisherigen Präventions- und Interventionskonzepte konnten dank ihrer Hilfe verbessert werden, weil die Aufarbeitungen uns glasklar vor Augen geführt haben, wie Täterstrukturen sich aufbauen konnten, wie manipulativ Gewaltsysteme agieren, was Machtmissbrauch konkret etwa für eine Jugendliche bedeutet. Ebenso haben wir die Kommission, die für die Unterstützungsleistungen zuständig ist und bei den meisten Landeskirchen „unabhängige Kommission“ heißt, in dieser Form nur entwickeln können, weil uns Betroffene beraten haben. Ich bin also persönlich zutiefst davon überzeugt, dass uns die Perspektive der Betroffenen sehr voranbringt und unverzichtbar ist.

Wie konnte es dann aber zum vorläufigen Scheitern des Betroffenenbeirats kommen?

Fehrs: Der Beirat ist 2019 konzipiert worden, nachdem die EKD-Synode 2018 eine strukturierte Beteiligung Betroffener beschlossen hatte. Wir haben im Vorwege versucht, mit einigen Betroffenen – naturgemäß zunächst in einer nur provisorischen Struktur – Rahmenbedingungen für die Arbeit des künftigen Betroffenenbeirats zu entwickeln, die sich an denen der nationalen Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs orientieren und auch Erfahrungen der katholischen Kirche aufnehmen sollten. Man hat uns dabei auch von Betroffenenseite sehr nahegelegt, den Betroffenenbeirat nicht mit einer Geschäftsordnung zu versehen. Die wäre sonst üblich, wenn man ein Gremium ins Leben ruft. Mir hat eingeleuchtet, dass das als Bevormundung hätte empfunden werden können, wenn die EKD eine solche vorgibt. Vermutlich war das ein Fehler. In einem so heterogen zusammengesetzten Gremium selbstorganisiert eine Struktur zu entwickeln, die konstruktiv auf eine Institution einwirkt, der man kritisch gegenüber-steht – das ist eine enorme Kraftanstrengung. Zusätzlich hat belastet, dass wegen Corona nur digital getagt werden konnte. Der Beauftragtenrat hat natürlich Hilfestellungen und Supervision angeboten, doch letztlich ohne Erfolg. Schließlich sind im Findungsprozess miteinander unvereinbare Positionen aufgetreten. Diese Dynamik hatten wir unterschätzt. Mir tut das sehr leid, denn die Betroffenen und auch die EKD haben viel Energie in das Auswahlverfahren und den Beirat gesteckt, weil wir davon überzeugt waren, dass das ein guter Weg ist.

Wie geht es jetzt weiter?

Fehrs: Der Betroffenenbeirat ist jetzt ausgesetzt und wir werden den gesamten Prozess evaluieren. Die entscheidende Frage ist: Gelingt es beziehungsweise wie gelingt es, dass in Institutionen eine gute Beteiligung der Betroffenen möglich wird, ohne dass es als Instrumentalisierung empfunden wird? Bei der Novembersynode 2020 der EKD gab es bereits einen Konsens, dass die Unterstützung der Politik hilfreich wäre. Sie könnte, so die Idee, in diesem sehr emotionalen Umfeld moderierend wirken. Insgesamt finde ich es richtig, wenn Betroffene eine größere Beteiligung des Staates fordern. Wir würden daher eine Unterstützung durch die Politik sehr gerne annehmen.

Sowohl Johannes-Wilhelm Rörig, der scheidende Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, als auch Harald Dreßing, Hauptverantwortlicher der MHG-Studie, haben die evangelische Kirche dafür kritisiert, dass sie selbst die Dinge nicht entschieden genug vorantreibe.

Fehrs: Aus Sicht der betroffenen Menschen geht es zu langsam voran, das verstehe ich sehr gut. Und zugleich mühen sich alle Landeskirchen und die EKD, so klar und so schnell wie möglich Maßnahmen und Strukturen zu verbessern; da hat sich in den vergangenen Jahren wirklich viel bewegt. Im Übrigen unterstütze ich den Vorschlag von Herrn Rörig, dass es eine regelmäßige Berichtspflicht zum Thema im Bundestag geben sollte. Auch müsste seine Nachfolge verstetigt und die Unabhängige Aufarbeitungskommission des UBSKM mit einem Hauptamt statt nur mit Ehrenämtern versehen werden. Denn wir als Kirchen wollen ja aufarbeiten und erreichen, dass es vorangeht. Wir sind dankbar für alle, die daran mitwirken, damit uns das gelingt.

Gibt es neue Erkenntnisse, was spezifisch evangelische Aspekte von Missbrauch sind?

Fehrs: Ein wichtiges Merkmal: Beschwerdestrukturen sind unklar gewesen, was an den eher flachen Hierarchien bei uns liegt. Das kann zur Folge haben, dass sich Menschen nicht verantwortlich fühlen zu handeln. Von den Betroffenen im Tatkontext Ahrensburg hier bei uns haben wir gelernt, dass sie sich an keiner Stelle so anvertrauen konnten, dass anschließend adäquat gehandelt worden wäre. Mit dem Präventionsgesetz beziehungsweise der Gewaltschutzrichtlinie wird in den Landeskirchen versucht, dieses Problem aufzubrechen. Neue Forschungsfelder beschäftigen sich außerdem damit, wie sich Grenzverletzungen und Gewaltmechanismen innerhalb von Peergroups verhindern lassen. Dasselbe gilt für Vorkommnisse bei Seelsorge und Beratung etwa in den Achtziger- und Neunzigerjahren. Physische Übergriffe dürften damals unter den Stichworten Therapie und therapeutische Nähe öfter vorgekommen sein. Aber dies sind jetzt nur meine persönlichen Einschätzungen; die unabhängigen wissenschaftlichen Studien, die die EKD durchführen lässt, werden dazu umfangreiche und präzise Erkenntnisse liefern.

Mehr synodale Strukturen sind also auch nicht unbedingt besser, wie in der katholischen Diskussion angesichts von Machtmissbrauch in einem hierarchischen System unterstellt wird …

Fehrs: Das lässt sich so nicht verkürzen. Auch bei einer synodalen Entscheidungsfindung muss letztlich immer klar sein, wer welche Zuständigkeit hat und wer für was Verantwortung trägt. Deshalb sind Schutzkonzepte so wichtig, damit in jeder Gemeinde und diakonischen Einrichtung ein Gespür dafür entsteht, wo die Risikobereiche liegen, damit Grenzverletzungen erkannt und benannt werden können.

Ist denn das Thema in der Breite der evangelischen Kirche inzwischen angekommen?

Fehrs: Davon bin ich überzeugt. Wann immer ich auf den nordkirchlichen oder auch EKD-Synoden über das Thema spreche, spüre ich eine ernsthafte Betroffenheit und gleichzeitig die Entschlossenheit zu handeln. Es wird viel nachgefragt, und ich finde gut, wie aktiv viele Landeskirchen das Thema Aufarbeitung, Prävention und Intervention bearbeiten und angehen. Die Gewaltschutzrichtlinie sorgt außerdem dafür, dass alle Verantwortlichen sich verbindlich mit dem Thema beschäftigen müssen. Zugleich ist noch viel zu tun und mir liegt sehr daran, dass wir bei diesem Thema weiter energisch vorangehen.

Welchen Einschnitt bedeutet der Missbrauchsskandal für die nächsten zehn Jahre? Wie sehr ist alles, was die Kirchen tun, dadurch belastet? Wird das in den zwölf Leitsätzen, die das Zukunftsteam der EKD mit Blick auf die Zukunft der evangelischen Kirche vorgelegt hat, hinreichend reflektiert?

Fehrs: Eine evangelische Kirche, die ernsthaft aufarbeitet, muss lernen, konsequent die Perspektive traumatisierter Menschen zu sehen und mitzudenken. Deshalb ist traumasensible Seelsorge eine Kompetenz, die wir dringend stärken sollten. Ihre Erkenntnisse machen verständlich, was von Gewalt betroffene Menschen an Ohnmachtsgefühlen und Schmerz durchleiden. Vor allem, wenn die Gewalt in kirchlichen Räumen oder durch Vertreter der Institution stattgefunden hat. Dann wird unweigerlich auch die Rede von Schuld und Vergebung eine andere. Diese theologische Reflexion ist dringend notwendig. Es spricht sich anders über diese Themen, wenn Kirche ihre institutionelle Schuld erkennt und öffentlich bekennt. Oder wenn beispielsweise der Wunsch nach Versöhnung von Betroffenen wiederum als Machtmissbrauch verstanden werden kann. Sie zu erwarten oder gar moralisch einzufordern, und damit die Versöhnungsleistung und Verantwortung wiederum an die Betroffenen zu delegieren, verbietet sich eh von selbst. Die ernsthafte Auseinandersetzung mit Missbrauch und Gewalt wird also perspektivisch auch unser theologisches Denken und Reden verändern.

Was sind die wichtigsten Erkenntnisse der Leitsätze für die Zukunft der evangelischen Kirche?

Fehrs: In den meisten Leitsätzen kommen die Überzeugung und der Mut zum Ausdruck, neu anzusetzen. Das gefällt mir sehr gut. Die durchaus heikle Frage steht im Raum: Muss alles, was war, auch weiter sein? Mit Blick auf unsere geistliche Kraft sehe ich einen entscheidenden Schritt in der Konzentration. Wir brauchen die Entschlossenheit, unsere Kräfte dort zu konzentrieren, wo Kirche in besonderer Weise gesellschaftlich erwartet und gebraucht wird. Das Krankenhaus oder die Krisen- und Notfallseelsorge beispielsweise sind absolut relevante Seelsorgeorte. Wie nötig sind sie etwa bei der Überflutungskatastrophe im Juli gewesen. Für die EKD bedeutet das also, sich aus einer Priorisierung heraus strukturell neu zu fokussieren.

Was heißt das für die Rolle des Gemeindelebens rund um den Gottesdienst? Wird beides stärker in den Mittelpunkt gerückt?

Fehrs: Ich beobachte eine große Sehnsucht nach Segen – nach Gehaltensein, gerade jetzt in dieser Pandemie. Dabei geht es nicht allein um den klassischen Sonntags-Gottesdienst, sondern zentral auch um Rituale, um lebensbegleitende Elemente, die mich sicherer machen in einer sich auflösenden Sinnstruktur. Sicherlich formulieren Menschen dies heutzutage anders und empfinden zur Institution selbst Distanz. Doch beispielsweise unser Tauffest an der Elbe mit 5000 Menschen im Jahr 2019 hat mir deutlich gemacht, dass religiöse Musikalität viele Tonarten kennt. Daran anzuknüpfen und in unserer Sprache den Ton der Musik aufzunehmen, ist die Kunst der Zukunft. Im Übrigen hat die Pandemie gezeigt, wie groß die Sehnsucht danach ist, zu verstehen, was da gerade mit uns passiert und was so schwer auszuhalten ist. Wir müssen also neue Formen finden, die sich durchaus um den Sonntagsgottesdienst herumranken können, aber in puncto Musik, Sprache und liturgische Ausdrucksformen brauchen wir in einem sehr weiten Sinne agilere Formen.

Spricht das denn junge Leute gleichermaßen an? Und kann man zuversichtlich sein, dass diese in zehn oder zwanzig Jahren selbst in die Verantwortung gehen, um das weiterzutragen?

Fehrs: Wenn sie mit ihren Anliegen und Themen bei uns ernsthaft vorkommen, dann ganz sicher. Gerade bei den jungen Menschen erlebe ich, wie dankbar sie für offene Ohren sind und wie sehr sie sich einbringen möchten. Der Klimaschutz ist da nur eins von vielen Zukunftsthemen. Weltweite Ungerechtigkeit, Kriege, Flucht – viele sind davon ernsthaft bewegt. In der Jugendarbeit und im Konfirmandenunterricht gelingt es in vielen Gemeinden und Konfi-Camps, gut darauf einzugehen. Und auch danach dranzubleiben, lohnt sich. So etwa berührt mich jedes Jahr, wenn beim Azubigottesdienst zu Beginn ihrer Ausbildung Hunderte von jungen Leuten ihre Träume und Ängste buchstäblich ins Gebet nehmen. Darüber hinaus gibt es ein großes Bedürfnis nach sozialer Gemeinschaft, das bei Kindern und Jugendlichen in Zeiten der Pandemie eher größer als kleiner geworden ist. Als Kirche hier zu zeigen: Wir verstehen eure Sorgen und suchen mit euch die Veränderung, die Hoffnung macht, das ist jede Mühe wert.

Wie wird sich die Ökumene verändern, wenn finanzielle und personelle Ressourcen in den kommenden Jahren zurückgehen werden?

Fehrs: Ökumene ist und bleibt wichtig, davon bin ich überzeugt. Allein in Hamburg existieren zahlreiche christliche Denominationen aller Couleur mit einer höchst lebendigen Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen. Wenn wir nicht ökumenisch denken würden, könnten wir nicht so kraftvoll wirken in dieser Stadt. Symbolisch mag dafür meine Bischofskanzlei stehen, die sich direkt im ersten Stock des Ökumenischen Forums in der Hafencity befindet. Das Ökumenische Forum ist ein großartiges Projekt, auf das sich 21 Kirchen geeinigt haben, um gemeinsam in diesem hochmodernen Stadtviertel präsent zu sein. Sämtliche orthodoxe Kirchen sind beteiligt, Freikirchen, die Reformierten und natürlich die katholische Kirche, alle in gutem Einvernehmen. Ein besonders wertvolles ökumenisches Erbe in meinem Sprengel sind die 2011 seliggesprochenen vier Lübecker Märtyrer, von denen einer evangelisch gewesen ist. Im Gedenken an ihren Mut und ihre Widerstandskraft während der Zeit des Nationalsozialismus steckt eine wirklich ökumenische, stark verbindende Kraft.

Was aber ist vom Schwung des so erfreulich ökumenisch gefeierten Reformationsjubiläums geblieben?

Fehrs: Ich bin bei der gemeinsamen Pilgerreise ins Heilige Land von DBK und EKD-Rat im Jahr vor dem Reformationsjubiläum dabei gewesen. Ich werde nie vergessen, wie wir schwitzend bei 30 Grad im Schatten nach Bethlehem gepilgert sind und uns buchstäblich das Wasser gereicht haben. Und wie wir tief berührt von der Kargheit in der Geburtskirche „Ich steh an deiner Krippen hier“ gesungen haben. Es war wirklich ein Weg zueinander, eine sehr herzliche Annäherung, bis hin zum freundschaftlichen theologischen Streit über das Abendmahl. Denn wir haben in dieser Weggemeinschaft ausnahmslos alle auch den Schmerz gefühlt, nicht gemeinsam Eucharistie feiern zu können. Ich bin sicher und erlebe es in den Gemeinden: Viele tragen eine tiefe Sehnsucht nach versöhnter Gemeinschaft in sich. Ich sehe auch im Synodalen Weg in der katholischen Kirche, den ich sehr mutig finde, eine weitere Öffnung für die Ökumene. Er macht nämlich die große Vielfalt in der katholischen Kirche noch einmal deutlich sichtbar. Er zeigt, dass geredet, gerungen und gestritten wird, wie wir es in Israel damals getan haben. Damals ist kein böses Wort gefallen und unsere Diskussionen haben uns einander angenähert. Letztlich wurde dadurch der gemeinsame Buß- und Versöhnungsgottesdienst in Hildesheim möglich. Diese Ökumene verträgt auch unterschiedliche Positionen. Und das kann uns nur weiterbringen.

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