Wer erzählen will, muss nur eine Zeitlang zuhören, nein, hinhören! Deswegen mache ich auch die Dienste hier“, resümiert die fast 80-jährige Erzählerin am Ende des neuen Romans von Judith Kuckart, geboren 1959. „Was die Leute eigentlich sagen wollen, wenn sie anrufen, bleibt oft kaum greifbar. Ich höre ihnen zu, um mit eigenen Worten nachzuerzählen, was ich vernommen habe. Es gibt nämlich einen Sinn, den man hört, und noch etwas anderes, Zutreffenderes – das man nur vernimmt …“
„Café der Unsichtbaren“ handelt von sieben Menschen, die beim Berliner „Sorgentelefon e.V.“ in einem weitestgehend anonymen Raum Dienst tun. Der Romantitel geht auf die Theologiestudentin Rieke, das jüngste Mitglied der Gruppe, zurück. Als angehende Pastorin entwirft sie eine Übungspredigt und denkt sich ein Café aus „für Leute mit wenig Geld, wenig Hoffnung auch, am Rand der Gesellschaft und längst unsichtbar“, ihre Lebensprobleme ähneln denen der Anrufenden bei der Hilfshotline. Rieke ist überzeugt: „Alle wollen wir uns doch als Gesegnete fühlen, oder?“
Kuckart, die lange als (Tanz-)Theaterregisseurin arbeitete, erzählt einen Reigen lose verbundener Szenen von Gründonnerstag bis Ostermontag. Freie Tage voller Langeweile, in denen Einsamkeit besonders intensiv erlebt werden kann. „Vor allem die Nächte sind so, Leute, es gibt nichts, warum die Menschen nicht anrufen!“, hatte der Leiter der zweijährigen Ausbildung die ehrenamtlichen Seelenhelfer belehrt, an deren Ende der Beauftragungsgottesdienst stand. „Höchstens ein Viertel aller Bewerber ist ernst zu nehmen, die anderen sind im Grunde selber schutzbedürftig und könnten sich im Dienst gefährden, aus Hilflosigkeit.“
Vierzehntägig hatte sich die Ausbildungsgruppe im Stuhlkreis getroffen, um aneinander zu praktizieren, worauf es am Telefon ankommt: Akzeptanz, Empathie und wohlwollende Neugier. Aus den Lebensumrissen der sieben Freiwilligen, die sich aus unterschiedlichen Gründen beim Sorgentelefon engagieren, entwickelt Kuckart ein Erzählen, das sich dem Religiösen öffnet. Den größten Raum nehmen drei Figuren ein: die Icherzählerin von Schrey, die wegen ihrer Schlaflosigkeit häufig Doppelschichten übernimmt, Rieke, die sich in den Muslim Arian verliebt, und Wanda aus Hoyerswerda.
Kuckart, die sich für ein Theologiestudium interessierte, arbeitete selbst vier Jahre in der Telefonseelsorge. In ihrem Roman überrascht den Hausmeister Matthias als Mitglied der Siebenergruppe, dass der größte Teil der Anrufer arm, älter, einsam und oft aus dem ehemaligen Osten stammt. Niemand sei „auf diese unspektakuläre Not und dieses Gestern vorbereitet gewesen, das im Heute nicht aufhören will zu sprechen. Jede Situation hat eine Geschichte, die man kennen muss, um das Woher und Wieso zu verstehen“, erläutert Wanda, „jeder Augenblick hat seine Biografie und jede Biografie ihre Rätsel“. Beim Ostersonntagsfrühstück bekennt die alte Erzählerin, es seien „jene Gespräche die bedrückendsten, bei denen man sehr allein, aber doch an beiden Enden der Leitung gleichzeitig sitzt, weil der Anruf klingt, als käme er von einem selbst. Wer tröstet hier eigentlich wen?“
„Im Erzählen bekommen die schlimmsten Katastrophen einen Sinn“: Wie so vieles in diesem motivisch dicht verflochtenen Roman wird auch diese Erkenntnis zweimal erzählt, einmal als Reflexion von Rieke und einmal als Erinnerung an ihren Vater, der als Pfarrer seinen Kindern die Emmausgeschichte (Lk 24,13–35) deutet. Hier sind wir im spirituellen und poetologischen Zentrum des Romans: Jesus war ein großer Erzähler, lernt die Theologiestudentin, eine Predigt müsse eine Ich-Erzählung sein, nicht nur eine Auslegung: „Erzählen und Wunderheilungen sind die Kernkompetenzen von Jesus gewesen, und beide Fähigkeiten im Grunde gleich.“
„Oft denke ich an den Tod“, gesteht Frau von Schrey. „Er ist längst um mich und will sich zwischen mich und die anderen Menschen drängen, denn er ist einsam. Ich bin es nicht. Solange ich noch erzählen kann, habe ich das Geräusch der Zeit um mich, in der wir alle leben.“ Erzählen vermag ein unsichtbares Netz zwischen Menschen zu knüpfen, ja, eine Ahnung zu vermitteln, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ein System von Dauer gehört und nichts verschwindet, wie die alte Dame glaubt: „Manche mögen diese Endlosschleife auch Gott nennen.“ Kuckart hat diese Verbundenheit mit einem größeren Ganzen in eine kongeniale Erzählform gebracht. Christoph Gellner