Metropolit Hilarion und die russische EmigrationKein Exil

Nach der Abberufung des ehemaligen Außenamtsleiters des Moskauer Patriarchats, Metropolit Hilarion, greift die Behauptung, er befinde sich aufgrund seiner zurückhaltenden Äußerungen mit Blick auf den Ukrainekrieg im Exil, zu kurz.

Genaue Zahlen gibt es nicht, sicher ist jedoch, dass Russland seit dem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 die größte Emigrationswelle nach der Oktoberrevolution von 1917 erlebt. Hunderttausende Russinnen und Russen haben das Land in den letzten Monaten verlassen. Zielländer sind vor allem Armenien, Georgien, Aserbaidschan und die Türkei, da diese kein Visum von russischen Staatsbürgern verlangen. Aber auch Schengen-Länder wie die baltischen Staaten oder Deutschland sind zu Auswanderungszielen geworden.

Die gemeinnützige Organisation „OK Russians“, die Russinnen und Russen unterstützt, die gegen den Krieg in der Ukraine sind und vom russischen Staat drangsaliert werden, hat Mitte März eine Umfrage unter den Emigrierten durchgeführt. Sie zeigt, dass insbesondere IT-Spezialisten sowie Menschen, die in Management- und kreativen Berufen (Journalisten, NGO-Mitarbeitende, Blogger) arbeiten, Russland verlassen haben. Für die meisten stellte das Verlassen des Landes eine erzwungene oder kurzfristig getroffene Entscheidung dar.

Es handelt sich vor allem um eine politisch motivierte Emigration, die bereits mit den Repressionen des Putin-Regimes nach den Massenprotesten gegen die gefälschten Wahlen 2011/12 begann. Die Ausgewanderten verbindet die Opposition gegen das Kreml-Regime, die Angst vor Verfolgung und das Gefühl, in Russland nichts ändern zu können. Die beklemmende Stimmung und das Gefühl der Aussichtslosigkeit unter oppositionell eingestellten Russinnen und Russen nach dem 24. Februar lässt sich im Tagebuch der russischen Journalistin Xenia Lutschenko, die auch über die kirchliche Landschaft in Russland berichtet, nachlesen.

In ihrem Tagebuch mit dem Titel „Goliath hat gewonnen“ heißt es: „Letzten Herbst habe ich meinen Journalismus-Studenten zum ersten Mal eine Vorlesung über Dissidenten gehalten. Am 24. Februar 2022 musste ich natürlich sofort an den 21. August 1968 denken, daran, was meine ältere Freundin Lena Dorman, die Tochter der Dissidenten Veronika Turkina und Juri Schtein, erzählt hat. Wie sie und ihre Mutter damals gerade in der Tschechoslowakei waren, wie sie weinten vor Scham, und wie schlimm es war, nach Hause zu fahren, wie die Tschechen sie trösteten. (…) Und da wird mir klar, dass wir es noch übler erwischt haben (…). Mariupol, Wolnowacha, Irpen, Millionen Menschen ohne Dach über dem Kopf, Millionen Familien ohne Väter. Das ist das Fegefeuer, bei uns ist die Hölle. Und sollte ich irgendwann einmal wieder irgendwelchen Studenten von Dissidenten erzählen, dann wird das ungefähr so klingen: ‚Für die damalige Generation war der Einmarsch der sowjetischen Truppen in die Tschechoslowakei, die russischen Panzer in Prag so wie für euch die Bombardierung von Charkow. Nur dass damals etwas mehr als hundert Menschen ums Leben kamen und nichts zerstört wurde.‘“

Keine eindeutigen Aussagen

Vor dem Hintergrund dieser und ähnlicher Emigrationsgeschichten und angesichts der häufig prekären finanziellen und aufenthaltsrechtlichen Situation vieler oppositioneller Russinnen und Russen im Ausland verwundert der Beitrag von Barbara Hallensleben in der August-Ausgabe dieser Zeitschrift mit dem Titel „Metropolit Hilarion im Exil“ (vgl. HK, August 2022, 26–28). Der Text stellt die Kurzfassung einer online veröffentlichten umfangreichen Dokumentation dar, die aufzeigen soll, dass sich Metropolit Hilarion, der Anfang Juni abgesetzte Leiter des Außenamtes des Moskauer Patriarchats, von Anfang an kritisch gegenüber dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und der diesbezüglichen Haltung von Patriarch Kyrill verhalten hat.

Zweifellos ist Hallensleben zuzustimmen, dass Metropolit Hilarion nicht die radikale, kriegslegitimierende Rhetorik des Oberhaupts der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) verwendet hat. Er hat den Angriffskrieg allerdings auch nie konkret verurteilt, sondern lediglich in allgemeiner Form Ende Januar davon gesprochen, dass Krieg „keine Methode zur Lösung angestauter Probleme“ sei. Am 4. März 2022 war Hilarion zu Gast bei Patriarch Johannes X. von Antiochien in Syrien, wo er Kirchen besichtigte, die während des Kriegs in Syrien zerstört und anschließend mit russischer Beteiligung restauriert worden waren.

Über den zeitgleichen Beschuss von Gotteshäusern in der Ukraine durch die russische Armee, deren zerstörerisches Vorgehen in Aleppo als Blaupause für den jetzigen Krieg in der Ukraine diente, verlor er jedoch kein Wort. Die Äußerungen und Nicht-Äußerungen von Metropolit Hilarion zu dem von ihm so bezeichneten „Konflikt“ mit der Ukraine sind mithin viel weniger eindeutig und ambivalenter als in dem Text von Hallensleben gezeichnet.

Sie begründet die öffentliche Zurückhaltung Hilarions mit den begrenzten Handlungsmöglichkeiten in autoritären und totalitären Regimen und verweist in diesem Zusammenhang auf das am 4. März 2022 von der Duma verabschiedete Gesetz gegen „Fake News“ über die russischen Streitkräfte, das hohe Strafen bei einer angeblichen Diskreditierung der Armee vorsieht. Dies hat zum einen mutige Russinnen und Russen dennoch nicht davon abgehalten, sich öffentlich gegen den Krieg zu positionieren. Zum anderen ist fraglich, ob Hilarion bei öffentlicher Kritik wirklich einschneidende Repressionen gedroht hätten: Metropolit Ioann (Popov) von Belgorod hat Anfang Juli zu einem Ende des Blutvergießens in der Ukraine aufgerufen, nachdem die südrussische Stadt Ziel eines ukrainischen Raketenangriffs geworden war. Über Sanktionen gegen den Metropoliten aufgrund seiner Kritik an der russischen Kriegsführung ist bisher nichts bekannt geworden.

Forderungen nach einer deutlicheren Positionierung von Metropolit Hilarion gegenüber dem russischen Angriffskrieg weist Hallensleben mit der Bemerkung zurück, dass sich solche leicht „aus der bequemen Perspektive westlicher Schreibtische“ einfordern ließen. Der Metropolit sei kein „‚Dissident‘, wie der Westen sie gerne hat und herumreicht, um das eigene Weltbild nicht hinterfragen zu müssen. Selbst echte Dissidenten haben für diese Attitüde eher ironischen Spott bereit.“

Mit diesen Äußerungen blendet Hallensleben erstens völlig die innerorthodoxe Kritik an der Haltung von Metropolit Hilarion aus; es waren nicht nur „westliche“ Stimmen, die an den vormaligen Leiter des Außenamts appellierten, doch deutlich zum Krieg Stellung zu beziehen, sondern auch orthodoxe Theologinnen und Theologen. Mit der Gegenüberstellung von dem „Westen“ und Russland perpetuiert Hallensleben ein vereinfachendes Framing, das der Debattenlage keineswegs gerecht wird. Zweitens sprechen ihre Äußerungen zu Dissidenten den realen Nöten dissidentischer Stimmen aus Russland, wie Lutschenko sie schildert, Hohn.

Und drittens – und am wichtigsten – hoffen auch zahlreiche orthodoxe Gläubige in Russland auf ein klares Wort ihrer Hierarchen: In der September-Ausgabe der Zeitschrift „Religion & Gesellschaft in Ost und West“ schreibt ein orthodoxer Theologe, dessen Text zur Sicherheit seiner Person und seiner Familie nur unter Pseudonym veröffentlicht werden konnte: „Der 24. Februar 2022 hat unser Leben in ein Vor- und Nachher gespalten. Einige emigrierten, die Mehrheit blieb jedoch in Russland, und andere stehen immer noch vor einer schwierigen Wahl. Denn wir sind alle erschrocken und empört, dass praktisch keiner der höchsten Hierarchen der ROK die Kraft hat, zum Stopp des Krieges aufzurufen – außer Metropolit Ioann (Popov), aber auch dieser erst drei Monate nach Kriegsbeginn. (...) Wir sind ratlos, niedergeschlagen und verängstigt. (...)Wir möchten eine Sprache finden, um darüber mit Gott und den Menschen zu sprechen. Doch in der offiziellen ROK ist das unmöglich.“

Im Juni wurde Metropolit Hilarion vom Heiligen Synod der ROK als Leiter des Außenamts abgesetzt und zum Leiter der Diözese Budapest-Ungarn bestimmt. Dies ist – darin ist Hallensleben recht zu geben – eine Degradierung, deren Grund auf die fehlende deutliche Unterstützung Hilarions für den Krieg Russlands gegen die Ukraine zurückzuführen ist. Ob Hilarions neue Diözese so „unbedeutend“ ist, wie von Hallensleben dargestellt, ist allerdings fraglich – schließlich war es der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, der Patriarch Kyrill vor EU-Sanktionen bewahrte und der wie die russische Kirchenleitung von einem christlichen Kampf gegen ein aggressives säkulares Wertesystem spricht.

Eines ist Hilarions neuer, ihm zufolge selbst gewählter Aufenthaltsort sicherlich nicht – ein Exil. Der Metropolit erklärte Anfang August in einer Videobotschaft: „Viele Menschen glauben, ich sei hierher ins Exil oder zur Strafe geschickt worden. Aber zunächst einmal gab es nichts zu bestrafen, denn ich bin weder vor der Kirche noch vor dem Patriarchen noch vor meinem Heimatland schuldig geworden. Und zweitens schickt man niemanden an so schöne Orte ins Exil.“ Metropolit Hilarion musste weder wie die politischen Emigranten unter dramatischen Umständen Russland verlassen, noch lebt er in Budapest unter so prekären Umständen wie viele andere Ausgewanderte.

Selbstkritische Aufarbeitung

Seit seiner Ankunft in Ungarn hat er mit keinem Wort die russische Aggression verurteilt, obwohl er dort keinen unmittelbaren Gefährdungen ausgesetzt ist. Seine Mahnung, dem – inzwischen von unabhängigen Medien gesäuberten – russischen „Informationsraum“ mehr Gehör zu schenken, überzeugt nicht.

Metropolit Hilarion ist einer der lautstarken Vertreter einer „strategischen Allianz“ zwischen der ROK und der römisch-katholischen Kirche mit dem Ziel, „traditionelle Werte“ in einer sich immer weiter säkularisierenden Gesellschaft gemeinsam zu verteidigen. Diese Idee hat Patriarch Kyrill mit seiner Rede vom „metaphysischen Kampf“ gegen die Sünde als Rechtfertigung für den Krieg in der Ukraine ins Groteske gesteigert. Angesichts dessen ist eine (selbst-)kritische Aufarbeitung des ökumenischen Gesprächs mit der ROK und der Rolle von Metropolit Hilarion nötig (vgl. HK, August 2022, 24–25). Dies sollte eine conditio sine qua non für zukünftige Gespräche mit der Kirchenleitung der ROK sein.

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