Die Lage im Nahen Osten ist, milde gesagt, komplex: die Nachwehen des Arabischen Frühlings, politische Destabilisierungen, der demografische Wandel und wirtschaftlicher Niedergang stellen die Menschen vor existenzielle Herausforderungen. In dieser Gemengelage veröffentlichte eine ökumenisch zusammengesetzte Expertengruppe 2021 ein seitdem breit diskutiertes Positionspapier: „Wir wählen das Leben in Fülle“ (vgl. HK, Juni 2022, 44). Hochkarätige christliche Wissenschaftler und Geistliche aus dem Libanon, aus Jordanien und Palästina analysieren die Situation in den Ursprungsregionen des Christentums und sprechen sich davon ausgehend für nichts weniger als einen Paradigmenwechsel aus: weg von einer Opferhaltung, eine spendenabhängige Minderheit zu sein, hin zu einem selbstbewussten Zeugnis, als Christen einen wertvollen Beitrag zum Gemeinwohl leisten zu können.
Dafür allerdings muss in den Kirchen der Geist der Synodalität wiederbelebt werden: Die Kirchen müssen ihren theologischen und kirchlichen Diskurs erneuern, um vom Volk Gottes überhaupt noch verstanden zu werden. Dazu gehört die Beteiligung von Frauen in allen Bereichen. Das kritische Denken und der Ehrgeiz für Entwicklung der Jugend müssen einbezogen werden. Und die Beziehungen zu Judentum und Islam müssen frei von Doppelzüngigkeit auf Augenhöhe gestaltet werden. Das Papier ruft Christen auf, „eine prophetische Stimme“ zu sein und sich für „Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenrechte, das Recht auf Selbstbestimmung, Demokratie und einen regelmäßigen friedlichen Machtwechsel“ einzusetzen.
Das Dokument ist online auf Arabisch, Englisch und Französisch abrufbar (www.wechooseabundantlife.com). Wer sich nicht durch die fremdsprachigen Seiten klicken möchte, dem sei das im August erschienene Heft als Ergänzung empfohlen. Die Übersetzung hält sich eng ans Original und behält indirekte und mäandernde Formulierungen bei. Es fehlt eine Einordnung in den Kontext und eine Vorstellung der Akteure. Doch verdienen diese Stimmen, die angesichts „von Leben und Tod, Segen und Fluch“ (Dtn 30,19) zu einem „Leben in Fülle“ (Joh 10,10) aufrufen, jede Aufmerksamkeit.
Hilde Naurath