Eine neue Ordnung

Eine binäre Geschlechterordnung wird als Identitätsmarker des Christentums angesehen; Inter- und Transmenschen kämpfen deshalb um Anerkennung. Dabei lagen fixe Kategorisierungen des Menschen auch der christlichen Tradition lange fern.

Figuren in Regenbogenfarben
© Pixabay

Von „missglückt“ bis „bahnbrechend“ reichten die Urteile in der Feedbackrunde einer Tagung über Inter- und Transgeschlechtlichkeit Ende Oktober in der Katholischen Akademie in Bayern. Auch als wenige Tage später die ARD-Doku „Wie Gott uns schuf “ den katholischen Medienpreis gewann, wurde die ambivalente Wahrnehmung des Themas „Geschlecht“ greifbar. Die ARD-Moderatorin Anne Will griff in ihrer Laudatio die Empfindungen von Mitgliedern der Initiative auf: „Solange seitens der Bischöfe keine konkreten Taten folgen, nimmt ‚Out In Church‘ die Verleihung eines Medienpreises als Versuch einer reinen Imagekampagne auf dem Rücken queerer Menschen wahr.“ Zwei Beispiele, die einen offenen Konflikt in der katholischen Kirche zeigen: Wie mit Menschen umgehen, die nicht in die Auffassung einer binären Mann-Frau-Geschlechterordnung passen (vgl. HK, November 2022, 28–30)? Für die Theologie und das Lehramt stellt sich zudem grundsätzlich die Frage: Wie mit dieser Ordnung umgehen?

Die Initiative „Out In Church“ machte es vor: „Betroffene“ treten aus der Anonymität und benennen ihre Verletzungen. Auch bei der Münchner Tagung trugen Trans- und Intermenschen den gut 75 Teilnehmenden aus der Pastoral und aus queeren Interessenvertretungen vor, wie sie ihr Leben erfahren. Wie angemerkt wurde, folgte dies dem Gedanken des Philosophen Ernst Bloch von 1961: „Der Beginn der Ethik ist, dass ein Einzelner aufbegehrt und nachdenkt: Ist es gerecht?“ So muss auch eine Ordnung hinterfragt werden, wenn sie dem Menschen nicht gerecht wird; in den Worten Jesu: „Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat“ (Mk 2,27). Oder entspricht eine binäre Kategorisierung doch der menschlichen Seinsweise?

In München gaben gleich mehrere Vortragende Crashkurse in Biologie. Demnach gibt es eine unübersichtliche Anzahl allein schon an biologischen Geschlechtsaspekten. Variation gehört zwingend zum Konzept geschlechtlicher Fortpflanzung. Die Geschlechtsidentität bezieht sich auf das Wissen jedes Menschen, welchem Geschlecht er angehört. Bei der Transgeschlechtlichkeit gibt es verschiedene Geschlechter in einem Organismus. Intergeschlechtlichkeit dagegen bezeichnet angeborene körperliche Merkmale, die nicht in die gesellschaftliche Norm von männlich und weiblich passen. Manchmal sehen die Geschlechtsorgane nicht eindeutig männlich oder weiblich aus, „sondern eindeutig intergeschlechtlich“, wie Ursula Rosen erläuterte, Expertin für geschlechtliche Vielfalt.

„Die Natur liebt Vielfalt, die Theologie liebt Ordnungen“, konstatierte der Theologe Gerhard Schreiber. Denn die biologischen Erkenntnisse prallen auf die strikt duale Auffassung der heutigen Kirche. Laut „Katechismus der Katholischen Kirche“ folgt die Annahme der Zweigeschlechtlichkeit aus einer scheinbar gottgegebenen und damit lebensbestimmenden Festlegung eines traditionellen Menschenbilds: „Jeder Mensch, ob Mann oder Frau, muss seine Geschlechtlichkeit anerkennen und annehmen“ (Nr. 2333). Menschen, die dies nicht können, sind dazu verdammt, allein zu bleiben.

Offensichtlich laufen dabei verschiedene Ebenen ineinander. Ethische Ordnungen müssen Infragestellungen standhalten; ebenso schöpfungstheologische. Die Kirche musste im Laufe der Zeit anerkennen, dass die Erde nicht im Mittelpunkt des Universums steht. Jetzt ist die Zeit, anzuerkennen, dass auch eine starre Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit und erst recht eine allein daraus abgeleitete Sexualmoral obsolet sind. Sie werden dem Menschen in seiner Komplexität nicht gerecht.

Das allerdings ist kein Allgemeingut. So sah der Moraltheologe Franz-Josef Bormann aus „der Perspektive einer ganzheitlichen Anthropologie heraus“ keinerlei Anlass, die Annahme der Zweigeschlechtlichkeit als Rahmenkonzept grundsätzlich infrage zu stellen, da die Polarität der beiden Geschlechter Raum für vielfältige Variationen biete. Inter- und Transgeschlechtlichkeit seien Sammelbegriffe, die verschiedene biologische, soziale und psychische Konstellationen umfassen. Statt die Anzahl der Geschlechter durch die Isolierung einzelner Dimensionen des komplexen Geschlechterbegriffs zu vermehren, sollte die Individualität der geschlechtlichen Entwicklung des Menschen angemessen berücksichtigt werden. Andere Befürworter der Binarität betonen zudem, dass sich die Dualität gegen eine generelle Vergleichgültigung stelle. In einer Vermischung von Geschlecht und Sexualität wird betont, dass sich die Sexuallehre nicht an partikularen Interessen ausrichten solle. Die Pflicht des Einzelnen zur Einordnung stehe gegen eine selbstbezogene Autonomie.

Dahinter verbirgt sich ein kirchlich gestützter gesellschaftlicher Einordnungszwang, der die Autonomie des Einzelnen verletzt statt ermöglicht. Das zeigt der Vergleich der Behandlung von Inter- und Transmenschen. Noch immer werden an gesunden intergeschlechtlichen Säuglingen und Kleinkindern medizinisch nicht notwendige Eingriffe durchgeführt, um ihre Körper zu „normalisieren“. Diese Eingriffe sind in der Regel nicht rückgängig zu machen und können schwerwiegende, langfristige körperliche und psychische Leiden verursachen. Umgekehrt werden bei Transmenschen geschlechtsangleichende Operationen vehement abgelehnt und erschwert. Menschen, die sich nach einer Übereinstimmung von Gewissheit und Körperlichkeit sehnen, werden verurteilt. Dabei zeigen sich 99 Prozent der operierten Transmenschen zufrieden.

Keine Polarität der Geschlechter

Ist es aber nicht doch die Bibel höchstselbst, die Mann und Frau als Abbild Gottes aufführt? Tatsächlich führte vor allem Martin Luther die Zweigeschlechtlichkeit auf die Schöpfungsgeschichte zurück, als er übersetzte: „und schuf sie als Mann und Frau“. Es ist quasi eine lutherische Tradition, anzunehmen, Gott habe der Menschheit eine urständische Ordnung mitgegeben, auch wenn derzeit die protestantischen Kirchen in der Anerkennung queerer Menschen tendenziell weiter fortgeschritten sind als die katholische Kirche. Immerhin übersetzt die Einheitsübersetzung von 2016 wörtlicher: „männlich und weiblich erschuf er sie“ (Gen 1,27). Im Urtext scheint nicht einmal von Menschen im Plural, sondern nur von einem einzigen Menschen die Rede zu sein: Der Mensch als Gattungswesen erscheint männlich und weiblich zugleich, mal mehr in die eine, mal mehr in die andere Richtung – heutigen biologischen Erkenntnissen entsprechend; auf der Ebene des Seins, nicht der Befindlichkeit.

Auch das Neue Testament kennt – sichtbar je nach Übersetzung – queere Menschen. Jesus spricht ebenbürtig von „Eunuchen, die so aus der Mutter Leib geboren“, von Eunuchen, die „von den Menschen dazu gemacht worden“ sind, und von „Eunuchen, die sich selbst wegen der Nähe (des Reiches) Gottes dazu gemacht haben“ (Mt 19,12, zitiert nach „Bibel in gerechter Sprache“). In der Apostelgeschichte tauft Philippus auf Weisung des Geistes einen äthiopischen Eunuchen (Apg 8,26–39).

Eine fixe Dualität war weder damals noch ist sie heute ein Alleinstellungsmerkmal des Christentums. Ein Blick ringsum zeigt, dass zunehmend fundamentalistische Gruppierungen eine Polarität der Geschlechter propagieren, wie der Rechtsextremismus und der Islamismus. Demnach ist die katholische Lehre weniger auf dem Weg der Vergleichgültigung denn der Vereindeutigung.

Die „Vereindeutigung der Welt“ auf allen Ebenen beklagte der Islamwissenschaftler Thomas Bauer 2018 in seinem gleichnamigen Büchlein. Es gebe allüberall einen Verlust der Vielfalt: im Tier- und Pflanzenreich, in Kunst und Musik, auch in der Religion. Es mache sich ein Erstarken von Schubladendenken, gleichmacherischem Rassismus, das Zurückdrängen des Unangepassten breit. Der gegenteilige Pol bestehe aus Beliebigkeit. So müsse sich die Suche nach einer Richtschnur zwischen den beiden Polen „eine einzige Bedeutung“ und „gar keine Bedeutung“ bewähren, zwischen Fundamentalismus und Gleichgültigkeit. Es geht um ein stetes Aushandeln der wahrscheinlich angemessensten Lösung. Bauer plädiert für eine Ambiguitätstoleranz, die auch die Kirche jahrhundertelang geprägt und ihr Überleben gesichert hat.

Ambiguitätstoleranz ist eine anstrengende Angelegenheit, die kein Gesetz, keine Definition, keine Kategorie als unhinterfragbar ansehen kann: Der Sabbat ist für den Menschen da. Derzeit mangelt es der Kirche an der Fähigkeit, Bedeutungsvielfalt zuzulassen, nicht nur eine Deutung vorzuschreiben, sich mit Argumenten statt Autorität durchzusetzen.

Bauer ist kein Befürworter eines „Buchstabensalats“ LGBTQ. Ambiguität könne auch beseitigt werden wollen, indem „die Welt in Kästchen“ sortiert wird, „innerhalb derer dann aber wenigstens größtmögliche Eindeutigkeit herrschen soll“. Eine solche Kästchenbildung begann demnach für Sexualität Ende des 19. Jahrhunderts. Vorher hatten Menschen Sex, aber keine Sexualität. Heute seien zur Homo/Hetero-Binarität viele weitere Kästchen hinzugekommen. Befreiungsdiskurse würden in ihr Gegenteil verkehrt, wenn es wieder um einen Einordnungszwang gehe, dann in viele statt in zwei Kästchen. Letztlich also muss es um Akzeptanz des generell Nichteinsortierbaren gehen, um die Einsicht, dass Kategorisierungen zwar zur Orientierung notwendig sind, aber niemals die Realität abbilden können: Sie sind und bleiben ambig.

Ein unangefochtener Identitätsmarker des Christentums ist die Trinität. Sollte nicht die Drei, die kleinste Vielheit, Symbol für die allumfassende Göttlichkeit sein? Voller Dynamik, voller fließender Metaphorik?

In München bedauerte Mara Klein, als Transmensch, nicht als Theolog*in eingeladen worden zu sein. Viele Gäste hätten sich endlich einen Theologieansatz erwartet, der ausbricht aus Schubladendenken. Theologie solle nicht „überwältigen“, sondern zu Gegenseitigkeit finden. Wenn Menschen wie Klein sich darauf konzentrieren könnten, theologisch zu forschen, statt sich für ihr Geschlecht zu rechtfertigen: Welche neuen Wege könnten sie beschreiten! Vielleicht mit einer neuen Imagekampagne: Die Fülle des Lebens ist (in) Ordnung.

Achim Budde, Direktor der Katholischen Akademie, verwies darauf, dass das beliebteste Symbol für Glück das vierblättrige Kleeblatt sei, die Ausnahmeerscheinung, biologisch gesprochen: die Mutation. Er träume von einer Kirche, die ihre Vielfalt als Glück empfinde. Er versprach, den Lernprozess im Rahmen eines Folgeprojekts weiterzuführen. Applaus. naurath@herder.de

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