Seit der Einrichtung der „Jüdischen Militärseelsorge“ in der Bundeswehr im Juni 2021 gibt es ein verstärktes Interesse an jüdischen Sichtweisen zu friedensethischen Themen. Diese Perspektiven können die Diskussion enorm bereichern. Denn in der jüdischen Tradition ist ein Prinzip verankert, das durch den Krieg in der Ukraine in den letzten Monaten in den Fokus gerückt ist: Wehrhaftigkeit. Dieser Wert wird in der jüdischen Öffentlichkeit nicht zuletzt aus der Geschichte heraus begründet. Es ist etwa ein Allgemeinplatz im christlich-jüdischen Dialog, dass man den Imperativ „nie wieder“ jüdischerseits anders versteht als christlicherseits: eher „nie wieder Schutzlosigkeit“ als „nie wieder Krieg“. Für die Diskussion besonders fruchtbar wird die Wehrhaftigkeit, wenn man sie vor allem aus der theologisch-halachischen Perspektive betrachtet.
Abgeleitet ist der Wert der Wehrhaftigkeit nicht zuletzt aus der Vorstellung des verpflichtenden Verteidigungskrieges. Was macht diesen Krieg verpflichtend? Einen wichtigen Hintergrund bildet der Umstand, dass im Judentum beinahe sämtliche Gebote dem Grundprinzip des Schutzes des Lebens unterzuordnen seien – ein Verständnis, das als Pikuach Nefesch („Bewachen der Seele“) bekannt ist. Unter dem Schutz des Menschen versteht die jüdische Tradition im Übrigen auch den Schutz seiner Rechte und seiner Freiheit – eine Folge einer anderen Vorstellung der G’ttesebenbildlichkeit des Menschen (hebräisch Zelem Elohim).
In der jüdischen Tradition werden damit einige Fähigkeiten und Eigenschaften verbunden, die außer dem Menschen nur G’tt vorbehalten sind: Sprache und Bewusstsein, Freiheit und Rechtsempfinden. Die Möglichkeit, diese Fähigkeiten auszuüben und diese Eigenschaften zu leben, stellt eine wichtige Voraussetzung dar, dass der Mensch das in seiner Eigenschaft als Ebenbild G’ttes begründete Potenzial entfalten kann.
Pikuach Nefesch betrifft nicht allein gewaltvolle Situationen, aber eben auch solche: „Du sollst nicht tatenlos zusehen, wie das Blut deines Nächsten vergossen wird“, sagt das Dritte Buch Mose (Lev 19,16). Zwar gibt es im Judentum keine Pflicht, ein Leben um den Preis eines anderen zu retten. Beim Angriff auf eine vielköpfige Gemeinschaft, erst recht einen Staat, erfordert Pikuach Nefesch aber eine andere Rechnung: Sein Leben zu riskieren, um die Gemeinschaft zu retten, gilt als Mizwa – als Gebot.
Moses wies gleichermaßen an, dass vor Beginn von Kriegshandlungen Bedingungen für den Frieden genannt werden müssen (Dtn 20,10).Doch falls die Angreifenden in ihrer Haltung verharren, wird ein Kampf verpflichtend. Wie dieser wiederum geführt werden darf, ist durch eine Vielzahl von Regeln eingeschränkt, die Unbeteiligte schützen und übermäßige Gewalt verhindern sollen. Der jüdische Rechtswissenschaftler Michael Broyde wies darauf hin, dass das jüdische ius in bello Kämpfende eher in Richtung polizeiliche als vollumfänglich militärische Aktivitäten steuert.
Die Tradition erfordert ebenso, Verteidigungsszenarien vorauszusehen und ihnen zuvorzukommen. „Wenn du ein neues Haus bauest, so mache ein Geländer um dein Dach und lass keine Blutschuld kommen auf dein Haus, wenn jemand davon herabfiele“, heißt es im Fünften Buch Mose (Dtn 22,8). Das wird in der jüdischen Tradition als Aufforderung verstanden, Schaden aus eigenen Handlungen oder Unterlassungen vorzubeugen.
Ein ostentativer Verzicht auf die Option der Gewaltausübung ist in der jüdischen Ethik deshalb keine Lösung, da neben der Tugendhaftigkeit einer Handlung auch ihre Wirksamkeit bedacht werden muss. Frieden, der nicht auf Abschreckung basiert, ist anzustreben. Doch ist er nicht erreichbar, macht sich derjenige einer groben Fahrlässigkeit schuldig, der auf Abschreckung verzichtet. Soll die Abschreckung glaubwürdig sein, muss sie auch auf die Fähigkeit zutreffen, sich zu wehren.
Es besteht freilich kein Zweifel daran, dass Krieg in der jüdischen Tradition als nichts anderes als ein notwendiges Übel angesehen wird – und notwendige Übel bleiben Übel. Umso wichtiger ist eine militärische Vorbereitung, damit moralische Kompetenz und Kampfkompetenz sich ergänzen und die Soldaten und Soldatinnen fest in der Gesellschaft verwurzelt sind, die sie beschützen. Das ist ein Idealbild einer wehrhaften Armee, das von der bekannten Vorstellung des Staatsbürgers in Uniform nicht weit entfernt ist.