Folgt man mancher Definition, dann ist eigentlich jedes gemeinsame geistliche Leben mit einer gewissen Intensität „geistlicher Missbrauch“: Man unterwirft sich einer strengen Askese und folgt einer von außen auferlegten Ordnung, die das eigene Ich zum Verschwinden bringt.
Dysmas de Lassus ist Generalprior des Kartäuserordens – und damit der Gemeinschaft mit der strengsten Lebensform in der westlichen Christenheit. Sein Buch über geistlichen Missbrauch in Orden und Gemeinschaften der katholischen Kirche ist die wohl differenzierteste Auseinandersetzung mit einem Thema, das erst seit einigen Jahren verstärkt in das öffentliche Bewusstsein getreten ist. Dabei ist das Phänomen alt. Dysmas de Lassus nennt das Beispiel der heiligen Johanna Franziska von Chantal (1572–1641), die sich aus den Fängen eines missbräuchlichen geistlichen Begleiters befreien musste.
Überaus anschaulich schildert de Lassus die Risiken, die entstehen, wenn die Prinzipen des geistlichen Wachstums vernachlässigt werden. Seelenführer und Novizen können versucht sein, den Weg der Askese abzukürzen – nach dem Prinzip: „Diese Arznei hat mich innerhalb einer Woche geheilt. Nehmen Sie siebenmal so viel davon und sie werden morgen geheilt sein.“ Dies Vorgehen gleiche dem Versuch, „einer Pflanze beim Wachsen zu helfen, indem man an ihr zieht.“
De Lassus hebt hervor, dass Entsagung kein Selbstzweck ist, sondern nur um eines größeren Gutes willen sinnvoll ist: „Wenn die Sonne aufgeht, verschwinden die Sterne. (...) Je weiter man in der Entdeckung Gottes voranschreitet, desto mehr verblassen die kleinen Sterne der Welt. (...) Diese Gleichzeitigkeit führt manchmal zu der Annahme, dass es genügt, alle Sterne auszulöschen, damit die Sonne erscheint. (...) Selbstvergessenheit kann nur praktiziert werden, wenn die Person ein gut aufgebautes und solides Selbst hat, sowohl psychisch als auch spirituell, sonst wird die Leere leer bleiben.“
Eine geistliche Führung ist erforderlich, aber auch sie ist kein Selbstzweck. Das Motorflugzeug, so de Lassus wieder anschaulich, zieht das Segelflugzeug zwar in die Luft, muss sich dann aber von ihm lösen. Benjamin Leven