Spricht man über Parteien und Demokratie in Israel, kommt einem automatisch die Weimarer Republik in den Sinn: zu viele Parteien, zu wenig Demokratieverankerung. Seit Jahren hadern Medien und Politikwissenschaftler mit der Frage, ob das Jahr 1932 als Orientierungskoordinate herangezogen werden soll oder nicht. Da aber Geschichte sich im Prinzip nicht wiederholen kann, darf man doch davon ausgehen, dass die Unterschiede zwischen Deutschland 1932 und Israel 2022 (oder 2020 oder auch früher) größer sind als die Ähnlichkeiten. Das allerdings ist keineswegs ein Grund für einen sorglosen Umgang mit der israelischen Politik.
Nehmen wir zunächst einmal ein triviales Beispiel: den Wahlzettel. In Deutschland sind sämtliche Parteien auf einem Wahlzettel aufgelistet und der Wähler muss die Partei ankreuzen, die er wählen will. In Israel dagegen steckt der Wähler einen kartenspielgroßen Zettel mit dem Namen seiner Partei in den Umschlag, der in der Wahlurne landet. Auf dem Zettel steht nicht nur der Name der Partei, sondern oben, groß und fett gedruckt – als ein oder mehrere Buchstaben – das Kennzeichen der Partei.
Die Kennzeichnung durch einen Buchstaben ist meist, nicht anders als in Deutschland, eine Abkürzung des Namens der Partei (wie SPD oder CDU), sie kann aber auch eine programmatische Absicht verraten. So prangt über dem Namen der „Partei der religiösen Zionisten“ der Buchstabe T. Damit verweist die Partei auf ihr Programm: T steht für „Transfer“, und zwar für den „Transfer“ der Palästinenser. Das ist die Partei, die bei den Wahlen am 1. November den größten Erfolg verzeichnete.
Von links nach rechts
Um im Wirrwarr der Parteienlandschaft den Überblick zu bewahren, ist eine kurze historische Rückschau hilfreich. Seit Beginn der zionistischen Auswanderung nach Palästina vor etwa 125 Jahren lassen sich vier politische Lager erkennen: der Arbeiter- beziehungsweise sozialdemokratische Block, der bürgerlich-liberale Block, der rechtsnationalistische Block sowie der zionistisch-religiöse Block. Ein fünfter Block, der der ultraorthodoxen Antizionisten, repräsentierte vornehmlich den alten „Jischuv“ im Lande („Gesellschaft“; das heißt, die jüdische Bevölkerung in Palästina vor der Staatsgründung Israels).
Vor und nach der Gründung Israels bildete der erste Block, zusammen mit den Bürgerlichen oder mit den Religiösen, die Regierung. Im Jahr 1977 – zehn Jahre nach Beginn der Besatzung der palästinensischen Westbank – kamen die Rechtsnationalisten an die Macht und sind seitdem, mit nur kurzen Unterbrechungen, an der Macht geblieben.
Will man die Geschichte der israelischen Parteienlandschaft zusammenfassen, so bietet sich die Überschrift „Von links nach rechts“ an. Dabei hat sich nicht nur das Kräfteverhältnis verschoben: Die rechtsnationalistische Partei „Likud“ wurde zur größten Partei, während gleichzeitig der sozialdemokratische Block immer kleiner und an den Rand gedrückt wurde. Die zionistisch Religiösen wurden immer nationalistischer. Die Mehrheit im bürgerlichen Block schloss sich den Rechtsnationalisten an. Anders als in Weimar gab es auf Kosten der moderaten Mitte keine Symmetrie der Radikalisierung, rechts und links, sondern allein den Rechtsruck, während sowohl die radikalere Linke als auch die moderate Linke marginalisiert wurden.
Palästina-Politik als einziges Politikum
Paradox ist auch die Entwicklung im ursprünglich anti-zionistischen ultraorthodoxen Block. Der Zionismus war ursprünglich a-religiös. Im Zuge der Einwanderung von orthodoxen Juden aus den arabischen Ländern seit 1948, aber auch wegen der durch religiöses Sentiment beeinflussten Siedlungsbewegung seit dem Sechstagekrieg 1967, änderte er seine säkulare Grundhaltung. Das führte dazu, dass Ultraorthodoxe sich nun mit dem neuen, vom jüdischen Fundamentalismus motivierten Zionismus anfreunden und sogar die Zusammenarbeit mit dem rechtsnationalistischen Block vorziehen.
Um das Bild zu ergänzen, muss auf die Parteien der arabischen (palästinensischen) Minderheit in Israel hingewiesen werden. Nach Gründung des Staates 1948, nach der Flucht und Vertreibung von Arabern aus dem Staatsgebiet, machte diese Minderheit etwa ein Zehntel, heute jedoch bereits ein Fünftel der Staatsbürger aus. Die Mehrheit dieser Minderheit wählt arabische Parteien, die naturgemäß auf einem nicht-zionistischen Fundament beruhen. Für die meisten jüdischen Parteien gilt eine Koalition mit den arabischen Parteien deshalb als Grenzüberschreitung, als Tabubruch. Der einzige israelische Ministerpräsident vor Naftali Bennett und Jair Lapid, der mithilfe der arabischen Abgeordneten eine parlamentarische Mehrheit zustande gebracht hat, war Ytzhak Rabin. Diese Tatsache war der eigentliche Auslöser für seine Ermordung – das gab der Mörder zu, kurz nachdem er die drei tödlichen Schüsse abgegeben hatte und festgenommen wurde.
Die Geschichte der Parteienlandschaft in Israel seit 1977, seitdem der Nationalist Menachem Begin Ministerpräsident wurde, ist die eindeutige, wenn auch wechselhafte Geschichte eines Rechtsrucks. Dabei muss betont werden, dass der Unterschied zwischen rechts und links in Israel im Endeffekt nur von einem einzigen Thema bestimmt wird – von der Einstellung zur Palästinapolitik.
„Rechts“ stehen heißt: Zustimmung zur Fortsetzung einer unnachgiebigen Politik gegenüber den Palästinensern, für eine uneingeschränkte Siedlungspolitik und für die Vorherrschaft der Juden im Judenstaat. „Links“ heißt: Zustimmung zur Zweistaaten-Lösung, zu einem Israel, in dem Juden und Araber gleiche Rechte haben.
Aufgepasst: Sogar auf dem linken Flügel der israelischen Politik ist sowohl die liberale als auch die sozialdemokratische Überzeugung nur schwach vertreten, jedenfalls in den letzten zwei Jahrzehnten. Nur unter dieser Prämisse ist der Prozess zu verstehen, den ich hier als Rechtsruck bezeichne.
Der Rechtsruck zeigt sich sowohl in der zunehmenden Anzahl an rechtsorientierten Abgeordneten im israelischen Parlament, Knesset genannt, als auch in der Radikalisierung dieses Lagers. Die Wahlen am 1. November darf man als Krönung dieses Prozesses betrachten. Benjamin Netanjahus Partei „Likud“ („Zusammenhalt“) hat nun mehr als ein Viertel der Sitze im Parlament inne und ist die stärkste Kraft auf dem rechten Flügel, flankiert von den noch weiter rechts stehenden „Religiösen Zionisten“ und zwei Parteien der Ultraorthodoxie, eine der sephardischen (Einwanderer aus den arabischen Ländern) und die andere der aschkenasischen (aus Osteuropa eingewanderten) Juden. Beide ultraorthodoxen Parteien leiten ihre rechtsnationalistische Haltung aus der biblischen Verheißung ab. Dieser Block hat 64 von 120 Sitzen im Parlament gewonnen, er steht weit rechts und kann ohne Weiteres eine Regierung bilden.
Die bisherige Pattsituation zwischen dem von Netanjahu geführten Rechtsblock und den anderen Parteien, die seit März 2020 fünf Knesset-Wahlen nacheinander erforderte, ist nun aufgehoben, und zwar eindeutig.
Oft wird nicht zur Kenntnis genommen, dass das andere Lager in dieser historischen Pattsituation keineswegs jemals ein „Mitte-Links“-Lager war und jetzt auch keine „Mitte-Links“-Opposition bilden kann. Denn zu diesem Lager gehören auch diese zwei Parteien: „Das zionistische Lager“, geführt vom ehemaligen Generalstabschef Benni Gantz, sowie „Israel, unser Haus“, eine Partei der Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, geführt von Netanjahus früherem Weggefährten Avigdor Lieberman. Beide stehen ideologisch rechts; sie halten zusammen 17 Parlamentssitze.
Der einzige Grund für ihre Zugehörigkeit zum „Gegenlager“ ist die gemeinsame Ablehnung der Person Netanjahu, nicht zuletzt aufgrund des gegen ihn laufenden Verfahrens wegen Korruption. Wäre Netanjahu nicht mehr im Spiel, hätten sich beide Parteien ohne Weiteres der von der Likud geführten Koalition anschließen können. Spricht man also von Rechtsruck und von der parlamentarischen Mehrheit der rechten Parteien, muss man über Netanjahus „Lager“ hinausschauen: Etwa zwei Drittel der Abgeordneten vertreten eine rechte, nationalistische Weltanschauung und eine rechtsnationalistische Wählerschaft.
Eindeutige Mehrheitsverhältnisse
Nun ist auch das übrige Drittel der Abgeordneten keineswegs als „Linke“ zu bezeichnen. Die zweitgrößte Knesset-Partei, die „Zukunftspartei“ (24 Sitze), geführt von Jair Lapid, ist eine „Mitte-Rechts“-Partei.
Die noch als „Linke“ zu bezeichnenden Gewählten erhielten 6,5 Prozent der Stimmen und nur vier Sitze, sie sind also eine politische Marginalie, ein kümmerliches Überbleibsel der einst stolzen Arbeitspartei, die größte in Alt-Israel. Die arabischen, nicht-zionistischen Parteien, die 2020 noch eine Einheitsliste aufgestellt und damals 15 Sitze erhalten hatten, haben sich mittlerweile in drei Parteien zersplittert und gewannen nun nur noch zehn Sitze.
Interne Konflikte sowohl auf dem linken Flügel wie auch bei den arabischen Parteien führten dazu, dass sowohl eine linke als auch eine arabische Partei an der 3,25-Prozent-Hürde scheiterte und somit dem rechten Flügel zu einem noch größeren Erfolg verhalfen.
Radikalisierung des rechten Lagers
Rein rechnerisch macht also die Rechte in Israel seit Langem die klare Mehrheit aus, eine Mehrheit, die sich im Wachsen befindet. Noch signifikanter ist jedoch die Radikalisierung dieses rechten Lagers. Aus den Reihen der Likud-Partei ertönen schrille Forderungen: Entscheidungen des Obersten Gerichts, die sich gegen Siedlungen oder gegen andere illegale Beschlüsse der Regierung richten, sollen vom Parlament rückgängig gemacht werden können; Rechte der Palästinenser in den besetzten Gebieten sollen weiter beschnitten werden und so weiter und so fort.
Schass, die Partei der orientalischen Ultraorthodoxie, möchte die religiöse Gesetzgebung weiter forcieren, sie besteht auf einem Erziehungssystem, das sich voll und ganz auf religiöse Werte konzentriert. Gleiches wünscht sich auch die Partei „Judentum der Tora“, also die Partei der osteuropäischen Ultraorthodoxen.
Am deutlichsten zeichnet sich die Radikalisierung bei den „Religiösen Zionisten“ ab, die bei den letzten Wahlen unverblümt Ethnozentrismus, Rassismus und Verdrängung der Palästinenser in ihr Programm aufnahmen. Die Lehre des Rabbi Meir Kahane, die so rechtsradikal und rassistisch ist, dass seine Partei seinerzeit vom Obersten Gericht verboten wurde, ist nun die legitime Richtschnur für Abgeordnete dieser Partei. Sie wird voraussichtlich an der Regierung teilhaben. Sie will nicht nur die besetzten Gebiete annektieren, sondern auch den israelischen Arabern, die Staatsbürger sind, zeigen, „wer Herr im Hause ist“, um somit ein für alle Mal klarzustellen, was man nun unter Israel als jüdischem Staat zu verstehen hat.
Nicht allein die potenziellen Koalitionspartner, sondern auch Politiker und Wähler der „Mitte-Rechts“-Parteien haben von der Zweistaaten-Lösung praktisch Abschied genommen und sich auf einen ewigen Kampf gegen „die Araber“ eingestellt.
Die Hoffnung auf eine Verständigung mit den Palästinensern, die im Jahr 1993 zur Unterzeichnung des Osloer Abkommens zwischen Israel und der „Palästinensischen Befreiungsorganisation“ (PLO) geführt hatte, ist verflogen. Mehr noch, die Liberalen und die Sozialdemokraten, die dieses Abkommen herbeigeführt und unterstützt hatten, stellen gegenwärtig nicht mehr als eine verschwindend kleine Minderheit in der Gesellschaft und sind es im Parlament geblieben, nicht zuletzt deswegen, weil die israelische Rechte es über die Zeit geschafft hat, das Osloer Abkommen als Verrat am Zionismus darzustellen.
Die Epoche, die mit dem Fall der Mauer 1989 begann, war für die liberalen Kräfte weltweit eine Zeit der Hoffnung und des strotzenden Selbstbewusstseins – es waren die Jahre nach dem „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama). Doch die anti-liberalen und anti-aufklärerischen Kräfte haben seit 1989 aus der Geschichte gelernt, sich zusammengerafft und sind zum Gegenangriff übergegangen.
Den ersten Erfolg verzeichnete der militante Islamismus an Nine-Eleven. Es war die Kampfansage, die erste große Warnung an die liberale Demokratie. In den nächsten zwei Jahrzehnten konnten auch andere autoritäre Strukturen Fuß fassen – als Beispiele ragen hier Russland und Belarus heraus. Aber auch innerhalb der Europäischen Union befinden sich bekanntlich autoritäre, nationalistische, rechtsgerichtete Parteien und Regimes auf dem Vormarsch.
Israels politische Klasse reihte sich in diesen doppelköpfigen Angriff auf die liberale Demokratie – religiöse Intoleranz und nationalistischer Eifer – gut ein, übernahm hier sogar eine Vorreiterrolle. Es wundert nicht, dass Donald Trump, Viktor Orbán, Rodrigo Duterte und andere mit dem alt-neuen israelischen Regierungschef Netanjahu und mit seinem politischen Umfeld engste Kontakte knüpfen konnten, und dass auch die europäischen Rechtsradikalen in den Niederlanden, in Italien, auch in Deutschland, ihre Sympathien für dieses Israel bekunden und direkte Kontakte zu ihren Vertretern herstellen. Israels rechtsorientierte Politiker hegen diesbezüglich keinerlei Bedenken, schon gar nicht dann, wenn es um die Partner des Abraham-Abkommens geht, die für ihren undemokratischen Charakter bekannt sind. Nach Gründung der neuen israelischen Regierung kann sich diese Tendenz nur noch weiter festigen.
Das Wahlverhalten der jüngeren Generation verheißt nichts Gutes
Die politische Landschaft in Israel bleibt von den großen ideologischen Debatten nicht unberührt. Die Shoa wird als Instrument der Politik gebraucht und missbraucht – Kritik an Israel wird als Shoa-Leugnung und Antisemitismus zurückgewiesen. Postkoloniale Argumente, die die Shoa und andere Genozide unter einen Hut bringen, werden ebenso heftig als Antisemitismus zurückgewiesen, während gleichzeitig im internen Streit zwischen Aschkenasim und Sephardim den Aschkenasim vorgeworfen wird, eine koloniale, „weiße“ Haltung praktiziert zu haben. Doch am Ende bleiben die Entscheidung über den „jüdischen Charakter“ des Staates, das Problem der „Religionisierung“ dieser Gesellschaft und der Konflikt mit den Palästinensern die zentralen Herausforderungen.
Möchte man eine Prognose wagen, wie es weitergeht, sollte man auf die jüngere Generation schauen. Meinungsforscher haben vor den letzten Wahlen feststellen können: Während sich 57 Prozent der gesamten Bevölkerung als rechtsorientiert bezeichnen, tun dies unter den jungen Wählern zwischen 18 und 25 Jahren sagenhafte 71 Prozent! Die zweitbeliebteste Partei bei dieser jungen Gruppe sind die „Religiösen Zionisten“. Da weiß man, wohin der Hase läuft.