Brauchen wir die Kirche überhaupt noch? Oder hat sie sich nicht schon längst überflüssig gemacht angesichts von Glaubenskrise, Missbrauchs- und Vertrauenskrise? Der Soziologe Hartmut Rosa beantwortet die erste Frage klar mit „Ja, wir brauchen die Kirche“ oder, wie es der Buchtitel sagt: „Demokratie braucht Religion“. Rosa zeigt auf, dass sich nicht nur die Kirche in der Krise befindet, sondern die ganze Gesellschaft. Mit dem Begriff des rasenden Stillstandes beschreibt er die Geschwindigkeit, mit der sich die Gesellschaft entwickelt, das Immer-mehr, Immer-weiter, Immer-höher und den gleichzeitigen Verlust des Sinnes für die Bewegung, die Frage nach dem Wohin und Warum.
Zum ersten Mal in der Geschichte habe sich die Gesellschaft so eingerichtet, dass sie immer mehr Energie brauche, um das Bestehende zu erhalten. Dabei gehe es nicht nur um physische Energie, sondern um politische und psychische: „Ja, wir Menschen müssen nächstes Jahr schneller laufen als dieses Jahr.“ Diese Logik der gesellschaftlichen Einrichtungen stifte systematisch ein Aggressionsverhältnis zur Welt, „die To-do-Liste explodiert“. Damit verbunden sind nach Rosa die verschiedenen Krisen, denen sich die Gesellschaft aktuell ausgesetzt sieht: Öko-Krise, Krise der Debattenkultur, Klima-Krise, Wirtschaftskrise – bis hin zum um sich greifenden Phänomen des Burnouts. „Das Gefühl ‚Lange geht das nicht mehr gut‘, das ist zum kulturell dominanten Gefühl geworden“.
In diesem Aggressionsmodus könne Demokratie aber nicht funktionieren. Jeder müsse über eine Stimme verfügen, die gehört wird, über Ohren, die hören – und über ein hörendes Herz, das die anderen hören und ihnen antworten will. Gerade die Kirchen verfügten über „Narrationen, über ein kognitives Reservoir, über Riten und Praktiken, über Räume“, in denen dieses hörende Herz eingeübt werde. Vor allem der Katholizismus biete aufgrund der stärker betonten Leiblichkeit die Möglichkeit der Resonanz, also der Anrufung und Transformation des Individuums.
Ein lesenswertes Buch, das Mut macht. Denn die Kirche steckt zwar in der Krise, aber gerade sie kann auch aus der Krise, aus den Krisen herausführen. Julia-Maria Drevon