Der Umgang mit der Coronapandemie ist in den vergangenen Monaten immer schärfer politisiert und auf die Frage der Impfung enggeführt worden, bis hin zu den Plänen zur Einführung einer gesetzlichen Impfpflicht. Wenn ich im Folgenden gegen eine Impfpflicht argumentiere (vgl. https://7argumente.de/), ist dies zugleich ein Plädoyer für eine offene Debatte im Respekt vor der persönlichen Entscheidung. Entscheidend dabei sind drei Aspekte: die Unterscheidung von Ziel und Mittel; das Abwägen von Nutzen und Risiken in der Sorge um die Gesamtheit wie um jede(n) Einzelnen; die Achtung vor der körperlichen Integrität und personalen Selbstbestimmung.
Die Unterscheidung von Mittel und Ziel klingt trivial, doch geschieht es gerade in politischen Krisensituationen schnell, dass Mittel erst als „alternativlos“ dargestellt und dann als Ziel in sich behandelt werden. Das ist nicht nur politisch gefährlich, weil es gegen Kritik immunisiert; es überspielt auch die Kontingenz, Endlichkeit und Fehleranfälligkeit von Entscheidungen wie die Ambivalenz, die jedem Mittel innewohnt. Wenn es in der Pandemie darum geht, Schaden abzuwenden, Leben zu schützen und menschlich miteinander umzugehen, in vorrangiger Sorge für die besonders Vulnerablen und in besonderer Verantwortung für die am härtesten Betroffenen, dann soll die Impfung ein Mittel sein, um dieses Ziel zu erreichen.
Damit die Anwendung eines Mittels als allgemeine moralische oder gar rechtliche Verpflichtung gelten kann, müsste nicht nur gesichert sein, dass der Nutzen den Schaden kollektiv überwiegt, sondern dass die Verpflichtung auch Teilgruppen und Einzelfällen gerecht wird und dass sie mit Würde und Selbstbestimmungsrecht der Person vereinbar ist. Eine solche Abwägung von Nutzen und Risiko setzt eine gesicherte Datenlage auf unabhängiger, aktueller und transparenter Grundlage voraus (vgl. mein Argumentationspapier mit Quellenverweisen: www.herder-korrespondenz.de/2-2022/impfpflicht). Hier gibt es große Defizite. Die Impfungen verhindern nicht die Infektion und ihre Weitergabe, können die Pandemie also nicht beenden, sondern das Infektionsgeschehen bestenfalls bremsen. Mit Omikron ist die Infektionsrate derzeit in den Ländern mit hoher Impfrate sogar höher als in den Ländern mit niedriger Impfrate. Die Abwägung betrifft daher vor allem das Verhältnis zwischen dem Nutzen der Impfstoffe zur Verhinderung schwerer Krankheitsverläufe und dem Risiko der Schädigung durch die Impfung selbst. Dieses Verhältnis fällt je nach Alter, Geschlecht, Vorerkrankungen und individuellen Dispositionen höchst unterschiedlich aus. Dies spricht für die Notwendigkeit einer individuellen, vom Arzt des Vertrauens begleiteten Entscheidung, die durch die Solidargemeinschaft auch anerkannt und respektiert wird.
Wie bei den an Corona Erkrankten und Gestorbenen geht es auch bei den Impfschäden nicht nur um abstrakte Zahlen, sondern um konkrete Menschen, mit zum Teil schwersten Schicksalen, die oft nicht anerkannt werden. Mir stehen dabei konkrete Personen vor Augen. Wo die Konsequenzen einer Entscheidung so weitreichend sind, muss diese auch eigenverantwortlich getroffen werden können. Im Bewusstsein der Gefahren von Corona wie der Risiken der Impfung hat die in Vertrautheit mit dem eigenen Körper und nach bester Überzeugung getroffene persönliche Entscheidung ein existentielles Gewicht, das zu respektieren ist. Hier geht es um Entscheidungen, die den Kern der Person betreffen, ihre körperliche Integrität wie ihre verantwortete Selbstbestimmung. Das Zweite Vatikanische Konzil hält im Dekret über die Religionsfreiheit fest, dass die Wahrheit nur in Freiheit gesucht werden kann, als in Freiheit erkannte Wahrheit unbedingt verpflichtet, nicht durch Zwang, sondern „kraft der Wahrheit selbst, die sanft und zugleich stark den Geist durchdringt“. Die darin zum Ausdruck kommende Würde des Menschen gilt es gerade im Umgang mit dem Leib zu respektieren, wo die Sorge um Gesundheit und die Suche nach gelingendem Leben eng verbunden sind.