Herr Köhlmeier, Sie äußern sich immer wieder auch mit beißender Kritik zum Thema Glauben, trotzdem finden sich in Ihren Romanen viele religiöse Stoffe und Motive, Figuren und Zitate. Welche Rolle spielt für Sie die Religion?
Michael Köhlmeier: Sogar wenn wir keine Religion haben, benötigen wir so etwas wie Religion. Auch wenn es stimmt, dass Gott nach Nietzsche tot ist, brauchen wir ihn so sehr. Vielleicht sind wir einfach noch nicht reif dazu: Aber es geht sich logisch nicht aus, dass man selbst die eigene Instanz für alles ist. Es wäre ein Widerspruch in sich, wenn wir alle unsere ethischen Kriterien und alle Phantasie, allen Glauben und allen Sinn selbst machen wollten oder als von uns selbst gemacht ansehen wollten. Das gilt auch dann, wenn man alles selbst gemacht hat. Das Paradoxe ist doch: Selbst wenn wir den Gott gemacht haben, an den wir glauben, so glauben wir doch an ihn. Nach der Aufklärung und durch die Naturwissenschaften stehen wir da in einem großen Dilemma.
Was hat sich denn in den vergangenen Jahrhunderten so grundlegend geändert?
Köhlmeier: Wenn man die Aufklärung konsequent zu Ende denken wollte, würde Trost im Leben nur aus uns selbst kommen. Mit dieser Selbstbezüglichkeit können wir aber nur schwer umgehen. Natürlich kann man sich selbst einreden, wie toll man ist. Wem dies nützt, nützt’s. Aber ich bin da sehr skeptisch. Für mich gibt es nur einen Ausweg aus diesem Dilemma, das uns die Aufklärung eingebrockt hat. Das ist die Kunst, in meinem speziellen Fall: die Literatur. Die Literatur spielt sich per se im Modus des Als ob ab. Wenn ich so tue, als ob es einen Gott gibt, der mir einen Sinn im Leben oder moralische Richtlinien in der Form der Zehn Gebote vorgibt, ich aber nicht daran glaube, ist das der Modus des Als ob. Genauso ist das in der Literatur. Wenn man so will, ist es eine Schizophrenie, wenn ich schreibe und so tue, als ob das Geschriebene die Realität sei. Dabei ist für mich die Welt der Literatur realer als jede Realität. Es gibt den schönen Satz von Henri Michaux: Nie ist man sich der Realität gewisser, als wenn sie eine Illusion ist. Denn dann ist sie Realität kraft innerer Zustimmung.
Im Modus des Als ob kann man auch als Glaubender sein, wenn man auf Gott und die Vollendung der Welt vertraut und daraus Kraft schöpft, obwohl die Gegenwart eher als Gottesfinsternis wahrgenommen wird.
Köhlmeier: Meine Mutter hätte sich darüber empört. Sie hätte gesagt: Nein, nein, ich tue nicht einfach so, als ob es Gott gibt, als ob er die Schöpfung gemacht hat. Er existiert, und die Welt ist so, wie sie ist. Aber genau in diesen Glauben ist uns die Aufklärung reingegrätscht.
Finden sich hier die entscheidenden Wurzeln, warum Traditionsbestände wie die Bibel in Ihrem Werk so eine große Rolle spielen...?
Köhlmeier: Ich bin hier tatsächlich von meinen Eltern stark geprägt worden. Vielleicht weniger von meinem Vater, der zwar sehr gläubig war und betend gestorben ist, gleichzeitig aber auch ein sehr aufgeklärter Mensch war. Er hat deshalb sehr mit sich gerungen, mehr als ich. Bei meiner Mutter war das nie so. Sie war eine tiefgläubige, einen großen Teil ihres Lebens kranke Frau, die im Rollstuhl gesessen ist und nicht gehen konnte. Sie ist nicht durch ihre Krankheit zum Glauben gekommen. Aber es ist ihr durch ihren Glauben leichter gefallen, ihre Krankheit zu ertragen. Alle vier Jahre sind meine Eltern nach Lourdes gefahren; das ist mir bis heute ein so schönes Vorbild. Sie sind immer im Juli dorthin gefahren und waren dort eine Woche oder auch etwas länger. Meine Mutter hat dann gesagt: Wenn ich zurückkomme, musst du mir noch etwas Zeit geben, bis ich wieder gehen kann, aber an deinem Geburtstag, im Oktober, gehen wir auf die Hohe Kugel, unseren Hausberg hier in Hohenems. Dann kamen sie zurück – und sie konnte nicht gehen. Man könnte erwarten, dass sie deshalb niedergeschlagen, deprimiert, desillusioniert gewesen wäre. Aber das war überhaupt nicht der Fall. Im Gegenteil: Meine Mutter wurde durch die Atmosphäre in dem Wallfahrtsort, den meine Eltern gerne scherzhaft auch als Republik der Krüppel bezeichnet haben, so aufgebaut, dass sie zwei Jahre lang von der Erinnerung und die nächsten zwei Jahre von der Vorfreude auf den nächsten Besuch dort gezehrt hat. Das ist doch auch ein Wunder. Für sie war das alles sehr real.
Welche Rolle hat die Bibel in der Kindheit gespielt?
Köhlmeier: Vor allem das Neue Testament war sehr präsent, das schon. Darüber haben wir viel geredet. Meine erste Begegnung mit dem Alten Testament hatte ich im Internat bei den Kapuzinern. Wenn man das Glück hatte und krank geworden ist, also mindestens 38 Grad Fieber hatte, ist man in eines der beiden Krankenzimmer verlegt worden. Man hat dort ein gutes Essen bekommen. Wenn man noch mehr Glück hatte, war man allein. Dort gab es nur ein Buch. Und das war die Bibel. Ich war ein ziemlich lesesüchtiger Bub, hätte es nicht ausgehalten, allein zu sein, ohne etwas zu lesen. Natürlich wusste ich als Gymnasiast, wer Adam und Eva waren. Aber selbst gelesen habe ich in der Bibel damals erst im Krankenzimmer, angefangen bei der Genesis. Wie weit ich gekommen bin, weiß ich nicht mehr, aber die fünf Bücher Mose waren es schon, wenn ich auch manches überblättert habe. Ich habe diese Texte allerdings nicht unter einem religiösen Aspekt gelesen, die Geschichten haben mir gefallen.
Was reizt Sie so besonders an der Bibel, die Sie selbst ja dann auch später für das Radio und in Büchern nacherzählt haben?
Köhlmeier: Ich habe zuerst die griechische Mythologie nacherzählt und mir dann erst die hebräische vorgenommen. Was mich da so erstaunt hat, waren Geschichten wie die vom Turmbau zu Babel. Sie hat die abendländische Kultur geprägt. Wenn man allein an die Bilder von Pieter Bruegel denkt, die doch kunsthistorische Ikonen sind: In der Bibel ist das eine Geschichte mit einem Text von nicht einmal einer Seite Umfang. Das andere ist die umfangreichere Geschichte von Joseph in Ägypten. Ich kann auch hier gut nachvollziehen, wie Thomas Mann die Anregung von Goethe aufgegriffen und sich gesagt hat, dass man diesen Erzählstoff beim Nacherzählen ausbauen muss. „Joseph und seine Brüder“ gehört für mich zu den Büchern, die ich in meinem Leben überhaupt am liebsten gelesen habe. Und hier dann den unmittelbaren Vergleich mit dem Text der Bibel vorzunehmen, war für mich unglaublich erhellend.
Gab es dann beim heranwachsenden Michael Köhlmeier Konflikte mit der tiefgläubigen Mutter?
Köhlmeier: Gegenüber dem Alten Testament war sie skeptisch. Auch Familien haben ihre Legendenbildung. Bei uns gehört die Geschichte dazu, wie ich meiner Mutter vorgehalten habe, dass der Gott im Alten Testament doch jähzornig, rachsüchtig, teilweise sogar bösartig sei – er zumindest nicht verurteilt, wie viele Menschen umgebracht werden. Meine Mutter sagte daraufhin nur den in unserer Familie so berühmten Satz: Ja, damals war er halt noch jung. Das für sie grundlegende Buch aber war schon das Neue Testament.
Jesus haben auch Sie ein eigenes Buch gewidmet…
Köhlmeier: Die Figur des Jesus im Neuen Testament hat mich irritiert, aber auch gerührt. Der amerikanische Literaturwissenschaftler und Theologe Harold Bloom hat einmal gesagt, es gebe in der gesamten Literatur nur zwei wirklich charismatische Figuren: Hamlet von Shakespeare und den Jesus im Matthäusevangelium.
Worin besteht für Sie die Stärke dieser Figur?
Köhlmeier: Die Frage ist ja nicht, warum es die Kirche noch gibt. Das kann man auch politisch erklären. Interessant ist, warum sich eine Figur wie Jesus so lange in unserem Bewusstsein gehalten hat. Es ist doch erstaunlich, dass so viel Mythisches sich über zweitausend Jahre hält – und immer noch Leute inspiriert. Ich meine: Da ist so viel tief Menschliches auf den Punkt gebracht in einer Person. Ich weiß allerdings auf der anderen Seite nicht, ob man ihm gerne begegnet wäre. Bei Charismatikern muss man sehr aufpassen, weil sie auch oft Verführer, maligne Narzissten sind. Wir haben in Österreich politische Zeiten hinter uns, wo Charismatiker die Leute verführt haben. Da gab es den Haider, den Grasser und jetzt den Kurz. Die Österreicher haben ein Faible für so etwas. Ich bin nicht anfällig für Charismatiker. Nichts in mir ruft nach einem Guru.
Aber Jesus ist da doch ein ganz anderer…
Köhlmeier: Ja. Aber was ist ein Charismatiker? Jemand, der auf vollkommen unberechenbare Weise anziehend ist und zugleich abstößt. So jemand ist Jesus. Wenn du für mich nicht Mutter, Vater und Ehefrau verlässt, will ich mit dir nichts zu schaffen haben, sagt Jesus. Das würde ich aber für niemanden tun. Wenn er etwa den Jüngern die Füße waschen will, Petrus protestiert und Jesus dann antwortet, dass er ansonsten nichts mit ihm zu tun haben wolle, ist das doch ein Affront, der unglaublich provoziert haben muss. Skandalös ist auch, wie Jesus mit seiner Mutter umgeht. Ich habe meine Mutter oft damit konfrontiert, dass es sie tief verletzen würde, hätte ich sie je so verleugnet. Sie sagte dann immer nur: Das verstehst du falsch. Das alles ist für mich, so faszinierend Jesus sein mag, sehr, sehr irritierend. Letztlich geht es für uns um das ewige Rätsel, das mit dem Wort Hingabe zu beschreiben ist.
Worin besteht dieses Rätsel?
Köhlmeier: Einerseits kann die Hingabe hinführen zu Fanatismus und Guruanhängertum. Andererseits wissen wir, dass eine Liebe ohne Hingabe gar nicht möglich ist. Ein Mensch, der nicht vertrauen kann, ist ein armseliger Mensch. Wie bringt man das zusammen? Das sind Dinge, auf die die Aufklärung jedenfalls keine befriedigenden Antworten geben kann – so wie man auch nicht das Rätsel von Mozarts 40. Sinfonie einfach löst, indem ein Taktometer die Schwingungen aufzeigt.
Die Aufklärung habe die beste Essenz der Religion in sich aufgenommen, haben Sie immerhin einmal in einem Interview gesagt. Wie meinen Sie das mit Blick auf das Christentum konkret?
Köhlmeier: Schon am Beispiel der Bergpredigt und dem großen humanistischen Impetus in den Evangelien kann man das gut festmachen. Angesichts der Kriminalgeschichte des Christentums vergisst man, wie hier die gesamte Menschheit unter göttlichen Schutz gestellt wird. Die Ägypter hatten ihren Gott, der Gott der Juden bezeichnet sich als eifersüchtigen Gott – auch wenn mein Freund Jan Assmann inzwischen präzisiert hat, welche Entwicklungen es hier gibt. Durch das Christentum gibt es einen Gott, der für alle da ist. Das Entscheidende dabei: Alle Menschen sind gleich, jeder trägt einen göttlichen Funken in sich. Dieser Gedanke wurde über die zweitausend Jahre ständig getreten und pervertiert, verfälscht und verleumdet. Aber er hat sich gehalten. Das ist der tiefe Kern der Humanität. Den hat die Aufklärung mit der Erklärung der Menschenrechte aufgenommen, auch hier mit der Pervertierung in der Französischen Revolution.
Was ist die Pointe des Gedankens dabei?
Köhlmeier: Ich habe über mir nur eine Instanz, der ich rechenschaftspflichtig bin, die sich mir in meinem Gewissen kundtut. Beim Gewissen geht es nicht in erster Linie darum, was gut und richtig ist, sondern darum, dass ich in der Lage bin zu urteilen. Erst der nächste Schritt ist das Urteil, was gut und schlecht, richtig und falsch, schön und hässlich ist. Das ist ein ungeheurer Emanzipationsschritt, der nicht von Kant oder Rousseau oder wem auch immer kommt, sondern aus der großen humanistischen Tradition des Christentums.
Warum ist es trotzdem reizvoll und wichtig, sich auch heute – nach der Aufklärung – mit den biblischen Geschichten zu befassen, sie nachzuerzählen und es nicht einfach bei der philosophischen Reformulierung durch die Moderne zu belassen?
Köhlmeier: Im Grunde lautet die Frage, warum mir archaische Geschichten überhaupt so gut gefallen. Sibylle Lewitscharoff hat mich dafür zwar einmal heftig kritisiert, aber ich sehe keinen wesentlichen Unterschied zu den griechischen Mythologien, die voll sind mit exemplarischen Geschichten. Die griechische Mythologie ist entstanden zu einer Zeit, in der es keine verpflichtende Gerichtsbarkeit gegeben hat. Die Geschichten sind ein Katalog von Präzedenzfällen. Da widerfährt jemand etwas – wie dem Theseus oder einem anderen Protagonisten dieser Geschichten. Bei der Bibel gibt es zwar recht früh schon die Zehn Gebote, aber die sind so abstrakt, dass es eben doch auch die Geschichten braucht. Ganz grundsätzlich aber gilt: Archaische Geschichten sind die, die sich über Tausende von Jahren gehalten haben. Also muss an ihnen etwas dran sein. Da gibt es auch Konjunkturen. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurde zum Beispiel die Odyssee von manchen Altphilologen als Machwerk angesehen, anders hingegen die Ilias. Dass Achilles in seiner Ehre gekränkt wurde, war damals ein großes Thema – Ehre! – ist es heute aber nicht mehr. Der Kriegsheimkehrer Odysseus wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Leitfigur. Dass er ein Migrant war, interessiert uns, während die Ilias in den Hintergrund getreten ist. Ein Epos darüber, dass jemand beleidigt worden ist, kommt uns heute übertrieben vor. Ähnlich ist es mit manchen apokryphen Geschichten der Bibel, so wie es heute viele Märchen gibt, die uns nichts mehr sagen – während andere uns ganz nahe sind. Alle erfolgreichen Geschichten aber enthalten archetypische Bilder wie ein ferner Spiegel.
Gibt es auch in Ihrem Schaffen entsprechende Konjunkturen, etwa bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Religion?
Köhlmeier: Das Archetypische in der Bibel ist mir immer wichtig gewesen. Es gibt noch eine Reihe von Geschichten, aus denen ich gerne etwas gemacht hätte, etwa die Stelle im Alten Testament, wo von den Gottessöhnen die Rede ist, bösartigen Ungeheuer, die später noch einmal im Buch Hiob vorkommen. Die Geschichte des Hiob selbst ist etwas Ewiges, auch für den gottlosesten Menschen. Sie wird nie einfach nur der Vergangenheit angehören und ist ungemein inspirierend. Man muss sich dabei vor denen verneigen, die das Hiob-Buch zur Bibel gezählt und nicht einfach gestrichen haben. Man darf nicht vergessen, dass die Rahmengeschichte eine Wette zwischen Gott und dem Teufel ist. Dass davon nur relativ lapidar die Rede ist, die Kinder zwar alle gestorben sind und er am Ende einfach neue bekommen hat, ist für uns doch unerträglich …
Und was hat Sie dann gereizt, sich recht ausführlich mit dem heiligen Antonius von Padua zu befassen? Ist das dann nicht doch etwas anderes als die archaischen Geschichten der Bibel?
Köhlmeier: Das stimmt schon. Aber der heilige Antonius begleitet mich seit meiner Kindheit. Er ist ein sehr liebenswürdiger Heiliger. Wir wissen sehr wenig über ihn und können viel in ihn hineinprojizieren. Er ist volkstümlich: Wenn man die Geldtasche verliert, beten die Menschen zu ihm. Jeder, den ich kenne sagt: Ich glaube nicht daran, aber geholfen hat es doch. Wenn man sich mit ihm beschäftigt, lernt man, dass er ein höchst intellektueller Ordensmann gewesen sein muss. Er muss ein Sprachengenie gewesen sein – und konnte sich zuletzt auch mit den italienischen Bauern verständigen, er war ja Portugiese. Der eigentliche Anlass für mein Buch war die Vorstellung, wie Antonius – schon schwer krank – es nicht mehr bis nach Padua geschafft hat. Man hat ihn auf einen Platz gelegt, und er wurde zu diesem Zeitpunkt vom Volk schon wie ein Heiliger verehrt. Es war dann auch nur eine sehr kurze Zeit, bis er heiliggesprochen worden ist. Er starb vor Durst, weil sich niemand traute, ihm Wasser zu geben oder Schatten zu spenden.
Woher diese Zurückhaltung?
Köhlmeier: Er liegt auf dem Marktplatz und wird das Opfer seines eigenen Images, seiner von den Menschen erzählten Übernatürlichkeit. Alle sind von der Überirdischkeit dieses Menschen so gebannt, dass sie ihm nicht einmal die basalen Bedürfnisse befriedigen. Nicht weil sie bösartig sind – im Gegenteil. Das war für mich der Ausgangspunkt, um die ganze Geschichte von dieser einen Situation aus zurück- und vorzuerzählen. Ganz abgesehen davon war es ein Gelübde, dieses Buch zu schreiben – auch wenn ich Ihnen natürlich nicht verraten kann, was das Gelübde beinhaltet. Aber ich habe zu ihm gesagt: Wenn das und das ist, schreibe ich diese Novelle über dich. Man kann als Schriftsteller nicht sagen, welches das beste eigene Buch ist. Aber es ist eine der Geschichten, die meinem Herzen am nächsten stehen.
Sind Sie mit einem solchen Buch, in dem Sie sich mit Verve mit einem Heiligen auseinandersetzen, in der Literaturszene heute ein Außenseiter geworden?
Köhlmeier: Der extreme Fall eines religiösen Schriftstellers ist Martin Mosebach, mit dem ich sehr lange befreundet bin, weil wir beide zeitgleich unser erstes Buch bei Hoffmann und Campe verlegt haben. Er ist ein Extrem-Katholik, für den Augustinus schon ein Links-Abweichler ist – über Thomas von Aquin braucht man da gar nicht zu reden. Aber er steht dazu und hat mich mit seinen Ansichten und seinen Hinweisen immer inspiriert. Natürlich gibt es Literaturkritiker, die sich darüber mokiert haben, aber die müssen froh sein, dass man sich nicht über sie mokiert. Ich glaube, Martin Mosebach hat genauso wenig Nachteile deshalb in Kauf nehmen müssen wie jetzt Wim Wenders, der sich mit seinem Papst-Franziskus-Film abermals als religiös positioniert hat. Natürlich gab es hie und da auch Verwunderung über das Antonius-Buch, als ob ich jetzt zu den Kerzlschleckern gewechselt hätte. Aber Nachteile habe ich keine gehabt.
Werden religiöse Fragestellungen also im Gegenteil heute wieder verstärkt in der Literatur aufgegriffen?
Köhlmeier: Ja, ich glaube schon – wobei religiöse Fragestellungen der richtige Begriff ist. Ich bin kein Kirchenmann, deshalb macht mir die Abwendung von der katholischen Kirche, die durch die aktuellen Skandale vorangetrieben wird, keine Sorgen. Im Grunde ist es ja ein Vorteil, dass die Missstände, die früher passiert sind und von denen man lange nichts gewusst hat, jetzt aufgedeckt werden. Aber nachdenklich macht mich die Abwendung von der Kirche schon. Das führt nicht dazu, dass sich die Leute unbedingt von der Religion abwenden. Aber es kann dazu führen, dass sie sich in verschwurbelte esoterische Kreise zurückziehen. Sie verlieren durch das Gequatsche aber dann ihren religiösen Halt.
Was verstehen Sie unter Religiosität?
Köhlmeier: Es gibt drei Dinge, bei denen ich ganz starke religiöse Empfindungen habe. Das ist manches Mal so in der Natur, beispielsweise, wenn bei uns der Föhn weht. Das ist so in der Liebe, auch im Sex, und schließlich beim Schreiben, bei der künstlerischen Tätigkeit. Alles drei hat mit Hingabe zu tun. Wenn ich früher, als ich noch geraucht habe, beim Schreiben das Rauchen und damit auch die Zeit vergessen hatte, wusste ich, dass ich nicht mehr bei mir, sondern ganz in der Inspiration war. Das traut man sich heute kaum zu sagen: Aber ich möchte den ernsthaften Künstler kennen lernen, der bestreitet, dass seine Kunst nicht aus einer Inspiration heraus funktioniert.
Und was ist der Kern von Inspiration?
Köhlmeier: Ich will diese Frage eigentlich gar nicht beantworten, weil jede rationale Antwort die Inspiration quasi wegblasen würde. Unser jüngster Sohn ist Maler und interessiert sich kein bisschen für Religion. Aber die Inspiration beim Malen ist ihm heilig. Er sagt: Erst wenn ich mich den Formen und Farben hingebe und ich meinen Pinsel davon leiten lasse, funktioniert es. Beim Schreiben muss ich als Schriftsteller mehr denken, weil Worte rationale Produkte sind. Aber es braucht auch den Augenblick der Hingabe, man kann da durchaus von göttlicher Inspiration sprechen. Im besten Fall muss ich dann einräumen: So gescheit bin ich nicht wie das, was ich da geschrieben habe. Das ist dann ein großes Glücksempfinden – wie nicht zuletzt auch in der Liebe oder eben bei der Hingabe in der Natur.
Ist der Katholizismus kaum mehr in der Lage, das religiöse Empfinden der Menschen zu stimulieren?
Köhlmeier: Das ist – glaube ich – so. Obwohl ich immer gerne alleine schon wegen der Atmosphäre und dem Geruch in einer Kirche war, habe ich so etwas wie göttliche Erfahrungen nie in der Kirche erlebt. Der Katholizismus wird heute auch mehr als Institution und Organisation wahrgenommen. Natürlich gibt es nicht nur das Individuum, und Religion ist immer etwas Gemeinschaftsstiftendes. Eine extrem individualistische, anarchistische Religiosität ist deshalb gar nicht möglich. Aber es gilt doch auch der Satz, den ich mir zusammengezimmert habe: Der erste Schritt von Gott weg ist die Gründung einer Religion. Da wird ein persönliches, ganz archaisches Empfinden organisiert. Wenn es so etwas gibt wie eine Gotteserfahrung, ist diese nur in ganz seltenen Fällen etwas Rationales, sondern vielmehr eine überwältigende individuelle Empfindung – einmal abgesehen von Massen-empfindungen, bei denen ich angesichts der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts sehr skeptisch bin.
Forderungen nach Demokratisierung auf dem Feld der Religion sehen sie als problematisch an …
Köhlmeier: Die Kirche demokratisch machen, das geht vielleicht. Aber nicht die Religion, die kann man nicht demokratisieren, wenn der oberste Boss nicht gewählt wird. An diesem Punkt merkt man, dass die Organisation von Religion in der heutigen Zeit an ihre Grenzen stößt. Genauso wenig ist die Liebe demokratiefähig. Man kann ja auch nicht abstimmen, wen man zu lieben hat. Auch Kunst ist nicht demokratiefähig, weil Künstler Despoten sind. Und den lieben Gott kann man erst recht nicht in eine demokratische Vorstellung einbauen.
Ihr Rat als Literat an die kirchliche Verkündigung: Was braucht es für eine inspirierende und überzeugende Gottesrede heute?
Köhlmeier: Eine schwierige Frage, gerade weil die Antwort so offensichtlich ist. Die Astrophysik gibt Auskünfte über die Welt, angesichts derer noch die bizarrsten Sagen, die erzählt worden sind, recht banal wirken. Letztlich muss das Göttliche mit dem unglaublich Großen und allem winzig Kleinen, das wir durch die Naturwissenschaften kennen lernen, in Zusammenhang gebracht werden – und nicht allein mit der Moral. Religion ist nicht einfach ein Jenseits der Moral, aber sie darf nicht nur auf sie bezogen werden. Dann wäre die Religion auf die Philosophie reduziert. Weder für eine Moralphilosophie noch für die staatliche Gesetzgebung brauche ich heute etwas Göttliches. Das Merkwürdige besteht darin, dass die Naturwissenschaften zur Abschaffung Gottes beigetragen haben sollen. Es war allerdings immer schon doof, überall dort das Göttliche zu sehen, wo man keine Antworten auf die eigenen Fragen findet. Heute zeigt uns die Naturwissenschaft die Größe des Kosmos, dessen Unfassbarkeit und Rätselhaftigkeit. Da muss die Gottesrede ansetzen. Dieses ganze Theater soll nur für uns sein? Es fällt uns schwer, das zu glauben. Aber wir sind in der Lage zu erkennen.
Hat der Schriftsteller besondere Möglichkeiten, etwas beizutragen?
Köhlmeier: Die Schriftstellerei hat etwas Hybrides, bei dem man aufpassen muss. Als Schriftsteller bist du ein kleiner lieber Gott. Du kannst über deine Figuren bestimmen und niemand kann dich dafür zur Verantwortung ziehen. Wenn dir eine Figur nicht mehr passt, kannst du einen Blumentopf aus dem dritten Stock herunterfallen lassen – und sie ist weg. Aber: Man erschafft Welten, die Leute unter Umständen mehr zum Lachen oder Weinen bringen können als die wirkliche Welt. Jeder kennt Bücher oder auch Musik, die einen so tief ergreifen. Ich traue mich dann zu sagen, das ist etwas Göttliches.