Die Dimension Europa ist nicht nur in der deutschen Gesellschaft und Politik fast allgegenwärtig. Im Hintergrund steht dabei nicht zuletzt die Frage nach der europäischen Identität, wobei das Christentum als insgesamt in Europa dominierende Religion unvermeidlicherweise in den Blick gerät. Das Buch von Wolfgang Sander ist hier hilfreich, weil es überblicksartig einige klare Schneisen in dieses umstrittene Gelände schlägt. Seine Grundthese: Eine Entchristlichung Europas wäre nicht Ausdruck einer Modernisierung der europäischen Kultur und Identität, sondern von deren Auflösung. Deshalb brauche es eine „neue Renaissance, die sich auf die christlichen Traditionen Europas bezieht und diese für die Zukunft der europäischen Identität fruchtbar macht“.
Sander beschäftigt sich in seinem knapp gehaltenen und erfreulich gut lesbaren Buch mit den christlichen Wurzeln Europas in seiner Geschichte seit der Antike und thematisiert neben den positiv prägenden Grundentscheidungen des christlichen Verständnisses von Freiheit und staatlicher Gemeinschaft auch Negativa wie Kreuzzüge und Inquisition. Ein sehr pointiertes Kapitel gilt den Auffassung nach falschen Wegen bei der Suche nach europäischer Identität, einer radikalisierten Aufklärung, dem Setzen auf eine unaufhaltsam fortschreitende Säkularisierung oder auf neue Formen des Religiösen, die er als Regressionsphänomene kennzeichnet. Sander verweist auf das „ungelöste Problem der Normativität Europas“ und grenzt sich dabei etwa von einem säkularen Humanismus oder von der „postmodernen Faszination für Vielfalt“ ab.
Als produktive Option für die Zukunft Europas plädiert er einerseits dafür, dem kulturellen Konstrukt Europa ein stabileres Fundament in normativer Hinsicht zu ermöglichen, und empfiehlt gleichzeitig dem europäischen Christentum eine Erneuerung mit dem Ziel einer „sprach- und handlungsfähigen, kritisch-konstruktiven Mitgestaltung der europäischen Moderne“. Es gehe für Europa um eine Erneuerung des Gottes- und Weltbezugs, des Freiheitsverständnisses und der Bildung. Zu allen diesen Dimensionen enthält das Buch anregende Überlegungen.
Ulrich Ruh