In „Hab keine Angst, erzähl alles“ versammelt die Autorin und Aktivistin Esther Dischereit Stimmen der Überlebenden des Attentats von Halle zu einem wichtigen Zeitdokument. Für den 9. Oktober 2019, zu Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, plant der Attentäter einen Anschlag auf die an jemem Tag besonders hoch frequentierte Synagoge in Halle. Seine selbstgebauten Waffen können die Tür der Synagoge nicht durchschlagen, er flieht, erschießt dabei Kevin S., der sich in einem Dönerladen aufhält, und Jana L., weil sie ihn anspricht, bevor er weitere Opfer verletzt.
Nun sind endlich Verhandlungsprotokolle, Aussagen und Essays versammelt, die den Anschlag multiperspektivisch in all seiner Grausamkeit darstellen. Viele Überlebende berichten im Detail, wie sie die Tat, die Behandlung durch die Polizei und die Anwohner erlebten, aber auch vom jüdischen Leben in Deutschland. So erzählt Rabbinerin Rebecca Blady die Geschichte ihrer Großmutter, die Auschwitz überlebte, um auf die Retraumatisierung einer solchen Tat aufmerksam zu machen. Der Titel des Buchs „Hab keine Angst, erzähl alles“ ist das Zitat ebendieser Großmutter, die ihre Enkelin dazu ermutigt, endlich die Familiengeschichte öffentlich in einem deutschen Gericht auszusprechen. Ismet Tekin, der Besitzer des Imbisses, in dem der Attentäter schoss, schildert die Tat und seinen Kampf, überhaupt als Nebenkläger zugelassen zu. Vor Gericht sagt er aus: „Diesen Tag zu beschreiben, dafür habe ich in vier Sprachen keine Wörter gefunden, gleich, welche Wörter man benutzt. Aber für den Mörder habe ich einen Namen gefunden: Feigling.“
Daneben fügt Dischereit auch Essays von Sachverständigen in dieses Kaleidoskop einer grausamen Gewalttat ein. Wir als Gesamtgesellschaft werden darin mit der Frage konfrontiert, wie dieser sowie all die Täter vor ihm ihre antisemitischen und fremdenfeindlichen Ideologien ausleben konnten. Auch wird das brüchige System im Polizeiapparat, in der Justiz und Medienaufsicht sowie nicht zuletzt ein ziviles Wegschauen entlarvt. Dieses Buch wird die Stimmen der Opfer des Hasses hoffentlich lange nachhallen lassen. Nastasja Penzar