Wir haben uns geirrt“, heißt es in einem offenen Brief vom 14. März 2022 von „Pax Christi“ an die Mitglieder der Organisation: „Wir konnten uns nicht vorstellen, dass es zu diesem Krieg kommt.“ Die internationale katholische Friedensbewegung gesteht offen ein, dass sie sich angesichts des militärischen Angriffs Russlands auf die Ukraine getäuscht habe und sich nun in ihrem Selbstverständnis als christliche Friedensbewegung in außergewöhnlicher Weise herausgefordert sieht. Auch in der Evangelischen Kirche in Deutschland ist die Diskussion um Krieg und Frieden neu entbrannt (vgl. dieses Heft, 13–16).
Religion ohne Staat
Eine nach wie vor sehr lesenswerte Stellungnahme, die nichts von ihrer Aktualität verloren hat, ist das Wort der deutschen Bischöfe „Gerechter Friede“ vom 27. September 2000. Diese „Magna Charta“ der katholischen Friedensethik in Deutschland zeichnet sich durch eine sehr differenzierte biblische Grundlegung sowie eine starke ethische Argumentation aus. Sie erliegt nicht den subtilen Täuschungen und verbreiteten Illusionen, sondern nimmt mit einem durch die biblische Offenbarung geschärften Sinn die Welt als eine „Welt der Gewalt“ wahr und weiß, dass das „Trachten des menschlichen Herzens böse ist von Jugend an“ (Gen 8,22). Nur wenn diese Realität nicht verdrängt, sondern nüchtern zur Kenntnis genommen wird, eröffnet die Mahnung des Psalmisten: „Suche Frieden und jage ihm nach!“ (Ps 34,15) eine realistische Perspektive für die Welt.
Wenn wir mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil daran festhalten, dass die Bibel, Altes wie Neues Testament, Zeugnis der Offenbarung Gottes ist und alle Teile der Heiligen Schrift von Gott inspiriert sind, dann hat uns das Alte Testament in Fragen von Krieg und Frieden Wegweisendes zu sagen. Denn die im Alten Testament versammelten Schriften erzählen und reflektieren eine lange Geschichte, in der Israel in vielfältiger Weise mit der Realität des Krieges und der Gewalt konfrontiert war.
Im Unterschied zu den imperialen Großmächten wie Ägypten, Assyrien, Babylonien, Persien, den hellenistischen Diadochenreichen der Ptolemäer und Seleukiden sowie dem Römischen Reich, die in verschiedenen Epochen zwischen 1500 v. Chr. bis 70 n. Chr. die syro-palästinische Landbrücke beherrschten, war Israel im Laufe seiner gesamten Geschichte kein Großreich, auch nicht unter den Königen David und Salomo, sondern immer nur eine Regionalmacht, die sich zwischen den Großmächten, in den meisten Fällen in Abhängigkeit von ihnen oder als eine nicht-staatlich organisierte „Bürger-Tempel-Gemeinde“ unter ihrer Oberherrschaft, zu behaupten hatte.
Eine auf territoriale Expansion sowie politische, militärische oder wirtschaftliche Hegemonie ausgerichtete Politik, wie sie zum Selbstverständnis einer klassischen imperialen Herrschaft gehört und von den altorientalischen Großreichen auch mit Erfolg praktiziert wurde, lässt sich in der Geschichte Israels nicht nachweisen. Das einzige Expansionsstreben, das sich als Identitätskern Israels im Laufe seiner Geschichte immer deutlicher herauskristallisierte, war in der Religion dieses Volkes angelegt, die sich im Verlaufe ihrer biblisch bezeugten Geschichte immer deutlicher als eine streng monotheistische Religion verstand und sich in zunehmendem Maße mit einem universalen Geltungsanspruch verband, der sich auf alle Nationen der Erde erstreckte.
Unter diesem Gesichtspunkt war das politisch und militärisch weitgehend unbedeutende Israel die erfolgreichste altorientalische Großmacht, hat sich doch sein Glaube an den einen Gott unter allen Völkern der Erde verbreitet, während die Religionen der zu ihrer Zeit starken und militärisch erfolgreichen Hegemonialmächte mit diesen untergegangen sind. Das Erfolgsrezept des biblischen Monotheismus bestand darin, dass er sich – nicht ohne Schmerzen und schwere Erschütterungen – aus der Symbiose mit dem Staat und seinen machtpolitischen Optionen löste und mit der Kanonisierung einer Heiligen Schrift als dem primären Medium seiner Verständigung und Vergegenwärtigung ein „portatives Vaterland“ (Heinrich Heine) schuf, das die Anhänger dieser Religion auch außerhalb ihrer angestammten Heimat bewohnen konnten.
Diese Entwicklung stellte sich vor allem als Folge jener Katastrophe ein, die zum Untergang des Südstaates Juda mit der Eroberung der Hauptstadt Jerusalem, der Zerstörung des Tempels und dem Ende der davidischen Dynastie im Jahre 587 v. Chr. führte. Sie lässt sich auf die Formel bringen: Der Staat ging zugrunde, die Religion überlebte. Dieser vor allem von den Propheten forcierte und begleitete Prozess der Ausdifferenzierung von Religion und Politik kann im Rahmen des antiken Religionsverständnisses als eine geistesgeschichtliche Revolution bezeichnet werden. Denn es entstand eine Religion, die sich unabhängig von einem Staat, und das heißt vor allem: unabhängig von staatlicher Gewalt behaupten und verbreiten konnte. Der Glaube Israels ging aus der Krise des staatlichen Zusammenbruchs gestärkt und geläutert hervor. Damit ist im Keim jener Prozess grundgelegt, der im Judentum ebenso wie im Christentum dazu führte, dass sich diese Religion, wenn sie ihrer Ursprungsidee treu blieb, ohne Anwendung von Gewalt verbreitete.
Krieg als Metapher
Doch stehen dem nicht zahlreiche Texte des Alten Testaments entgegen? Werden darin nicht völlig andere Bilder aufgerufen, wenn, wie beispielsweise in Psalm 18, der König in engster Verbindung mit Gott seine Feinde niederschlägt und vernichtet und dabei bekennt: „Er (Gott) lehrte meine Hände zu kämpfen, meine Arme, den ehernen Bogen zu spannen. (…) Ich verfolge meine Feinde und hole sie ein, ich kehre nicht um, bis sie vernichtet sind. Ich schlage sie nieder; sie können nicht mehr aufstehen, sie fallen und liegen unter meinen Füßen“ (Ps 18,35–39)?
Und was ist mit der Landnahme Israels? Hat das Volk nicht von Gott den Auftrag bekommen, beim Einzug in das Land der Verheißung dessen Bewohner auszurotten? Richard Dawkins vergleicht Israels „Einzug ins Gelobte Land“ mit einem Genozid (Der Gotteswahn, 10. Auflage, Berlin 2007, 342). Gehören diese Geschichten nicht zum Kern des in der Bibel bezeugten Glaubens?
Dass die Landnahme Israels, historisch gesehen, kein kriegerischer Eroberungszug war, dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben. Alle archäologischen und literarischen Zeugnisse belegen dies. Georg Braulik nennt die „kompromisslos-gewaltsame Landeroberung“ ein ideelles Konstrukt und spricht von einer „Metaphorisierung der Kriegstheologie“ im Deuteronomium. Gerade die Landverheißung zeigt in aller Deutlichkeit, dass das religiöse Symbolsystem Israels – im Unterschied zu demjenigen vieler anderer Religionen – nicht darauf angelegt war, sich im Sinne einer Unterwerfung anderer Völker und einer Eroberung anderer Länder auszubreiten. Die Landnahme war, kanonisch gelesen, ein zeitlich und räumlich klar abgegrenztes „historisches Ereignis“. Sie war nicht der Auftakt zu weiteren territorialen Expansionen und sie konnte nicht wiederholt werden.
Gleichwohl war und ist der Glaube Israels keine partikularistische Stammesreligion, sondern er enthält einen universalen Geltungsanspruch, der besonders in den jüngeren Texten des Alten Testaments deutlich hervortritt. Dieser im Glauben Israels angelegte und dann vor allem in der christlichen Rezeption expansiv ausgelegte Universalismus verwirklicht sich jedoch gerade nicht, so das einhellige Zeugnis des Alten wie des Neuen Testaments, in der politischen oder gar militärischen Unterwerfung und einer mit Gewalt herbeigeführten Bekehrung anderer Völker, sondern darin, dass diese Völker sich aufgrund des Zeugnisses Israels freiwillig und infolge eigener Einsicht zum Gott Israels bekennen und sich seiner Herrschaft unterwerfen.
Die Wallfahrt der Völker zum Zion erfolgt ohne Anwendung von Gewalt, allein aufgrund der Einsicht, dass die im Gottesvolk gelebte Tora eine Lebensform darstellt, in der nicht das Recht des Stärkeren, sondern die Stärke des Rechts gilt. Ihr wollen die Völker aus freier Einsicht und Entscheidung beitreten und infolge davon ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden (Jes 2,1–5).
Vor allem in der Epoche nach dem Untergang des Staates Juda, also seit dem sechsten Jahrhundert v. Chr., da Israel keinerlei politische und militärische Macht mehr besaß, konnte man, ohne dass es zu Missverständnis kam, offen davon sprechen, dass sich der Glaube an den einen wahren Gott allen Widerständen zum Trotz durchsetzen wird. Die Widerstände werden überwunden – aber ohne reale Anwendung von Gewalt von Seiten des Gottesvolkes. Da der Krieg fester Bestandteil der altorientalischen Lebenswelt war und Israel in den meisten Fällen als Opfer mit Kriegen vertraut war, sind große Teile der alttestamentlichen Kriegsrhetorik in einem metaphorischen Sinn zu verstehen, und zwar dahingehend, dass der universale Geltungsanspruch des Glaubens Israels mit einer der damaligen Lebenswelt vertrauten Sprache von Kampf und Gewalt, von Sieg und Niederlage, von Herrschaft und Unterwerfung zum Ausdruck gebracht wurde.
In Psalm 2 ruft der messianische König vom Zion die rebellierenden Völker und ihre Könige dazu auf, doch endlich Einsicht anzunehmen und die Herrschaft JHWHs und seines Gesalbten anzuerkennen. Der Psalm „greift auf Elemente und Bilder der altorientalischen Königsideologie zurück, zu der solche Universalansprüche gehören (Ps 72,8), aber es geht nicht um Herrschaft eines Reiches über andere Völker, sondern um universale Gottesherrschaft vermittels eines idealen Königs ‚auf dem Zion‘.“ (Dieter Böhler, Psalmen 1–50, HThKAT, Freiburg 2021, 85).
Natürlich gab es auch reale Kriege, in die Israel verstrickt war. Als Kleinstaaten mussten sich Israel und Juda in den oft schwer einzuschätzenden wechselnden Machtverhältnissen zwischen den Großmächten behaupten. Propheten spielten in diesen Auseinandersetzungen eine wichtige Rolle. In den Jahren vor dem Untergang Judas, etwa ab 605 v. Chr., als der Aufstieg Babylons abzusehen war, kam es unter den Verantwortungsträgern in Jerusalem zu heftigen Auseinandersetzungen um die angemessene politische und militärische Strategie. Sollte man in einer Koalition mit Ägypten der babylonischen Expansion beherzt entgegentreten? Oder wäre es klüger, mit den Babyloniern zu kooperieren und den Vasallenstatus zu akzeptieren? Der Prophet Jeremia plädierte im Sinne der Güterabwägung entschieden für die zweite Option. Widerstand, so der Prophet, sei zwecklos. Dem König Zidkija gab er den dringenden Rat: „Beugt euren Nacken unter das Joch des Königs von Babel und dient ihm und seinem Volk; dann werdet ihr leben! Warum sollt ihr, du und dein Volk, durch Schwert, Hunger und Pest umkommen, wie der HERR dem Volk, das dem König von Babel nicht dienen will, angedroht hat?“ (Jer 27,12f).
Die Nationalreligiösen dagegen warfen dem Propheten Wehrkraftzersetzung vor (Jer 38,4) und vertrauten auf das Wunder von 701 v. Chr. Damals hatte der „HERR“ Jerusalem im letzten Moment vor der Eroberung durch die Assyrer gerettet, so eine von dieser Gruppe verbreitete Deutung (2 Kön 19,35–37). Man setzte auf das Modell „David gegen Goliath“. Allerdings hatte der fromme König Hiskija durch eine kräftige Tributzahlung dem göttlichen Wunder auf die Sprünge geholfen (2 Kön 18,13–16). Das Land Juda war verwüstet, die assyrischen Truppen zogen ab, die Hauptstadt Jerusalem war noch einmal gerettet. Doch gut hundert Jahre später war man mit diesem Modell gescheitert. Der Staat Juda kollabierte, die davidische Dynastie verschwand nach einer gut vierhundertjährigen Geschichte: „Du hast den Bund mit deinem Knecht zerbrochen, seine Krone entweiht, sie zu Boden geworfen“, klagt der Beter im 89. Psalm.
Im zweiten Jahrhundert v. Chr. dagegen war der militärische Widerstand der Makkabäer gegen die hochgerüstete Streitmacht der Seleukiden unter ihrem König Antiochus IV. Epiphanes erfolgreich. Die jüdischen Widerstandskämpfer schlugen eine Guerilla-Taktik ein und konnten das zahlenmäßig weitaus stärkere Heer der Seleukiden besiegen. Ihr Anführer Judas ermutigte seine Kämpfer mit den Worten: „Denn der Sieg im Kampf liegt nicht an der Größe des Heeres, sondern an der Kraft, die vom Himmel kommt. Diese Leute da ziehen voll gottlosem Hochmut gegen uns in den Kampf, um uns mit unseren Frauen und Kindern auszurotten und als Beute wegzuführen. Wir aber kämpfen für unser Leben und für unsere Gesetze. Der Himmel wird sie vor unseren Augen aufreiben. Darum habt keine Angst vor ihnen“ (1 Makk 3,20f). Er sollte Recht behalten.
Tyrannenmord
Allein dieser kleine Einblick in die Geschichte Israels und seiner Kriege zeigt, dass es keine einfachen Antworten auf die damit zusammenhängenden Fragen gibt. Im ersten und zweiten Buch der Makkabäer werden unterschiedliche Strategien verfolgt. Während sich das zweite Buch der Makkabäer mit der Wiedereinweihung des Tempels und der Wiedergewinnung der Religionsfreiheit im Jahre 164 v. Chr. zufriedengab, plädierte das erste Buch der Makkabäer für eine Fortsetzung der Kämpfe mit dem Ziel, erneut einen jüdischen Staat zu errichten, um für alle Zukunft Juden vor Verfolgungen schützen zu können. Das sollte tatsächlich im Jahre 141 v. Chr. mit der Eroberung der Akra in Jerusalem unter Simeon, dem zweiten Sohn des Mattatias, gelingen: „Das Land Juda hatte Ruhe, solange Simeon lebte. Er sorgte für das Wohl seines Volkes. Sie freuten sich jeden Tag über seine Macht und seinen Ruhm“ (1 Makk 14,4).
Eine Alternative zur Guerilla-Taktik der Makkabäer führt uns das Buch Judit vor Augen. Die schöne und gottesfürchtige Witwe Judit – Judit heißt übersetzt: die Jüdin – ist sehr wahrscheinlich als Kontrastfigur zu Judas Makkabäus, das heißt übersetzt: Judas, dem Hammer (ham-makkabi), konzipiert. Das Buch Judit löst das Problem einer gewaltigen militärischen Übermacht mit der Methode des Tyrannenmordes. Während die Ältesten der von Truppen belagerten Stadt Betulia aus Angst vergehen, bereitet sich Judit durch Gebet und Meditation auf ihre große Rettungstat vor: Gottes Macht, so bekennt sie im Gebet, „stützt sich nicht auf die große Zahl, deine Herrschaft braucht keine starken Männer, sondern du bist der Gott der Schwachen und der Helfer der Geringen; du bist der Beistand der Armen, der Beschützer der Verachteten und der Retter der Hoffnungslosen“ (Jdt 9,11). Doch die fromme Witwe belässt es nicht beim Gebet. Sie schreitet zur Tat. Noch einmal sammelt sie mit einem Gebet der Selbstermächtigung all ihren Mut und ihre Kraft: „Mach mich stark, Herr, du Gott Israels, am heutigen Tag! Und sie schlug zweimal mit ihrer ganzen Kraft auf seinen Nacken und hieb ihm den Kopf ab“ (Jdt 13,8). Der Tyrann Holofernes liegt kopflos unter dem Mückennetz seines Feldlagers.
Ob es uns passt oder nicht, auch in dieser Geschichte erweist sich, so das Zeugnis der Heiligen Schrift, Gott als ein „Gott mit uns“ (Immanu-el): „Gott ist mit uns, ja, unser Gott ist mit uns. Er offenbart in Israel seine segensreiche Macht, an unseren Feinden aber seine strafende Gewalt“ (Jdt 13,11). Die Männer der Stadt sind verwundert: „Der Herr hat ihn durch die Hand einer Frau erschlagen! (…) Das Volk war zutiefst ergriffen; sie verneigten sich, warfen sich vor Gott nieder und riefen einmütig: Gepriesen seist du, unser Gott, der du am heutigen Tag die Feinde deines Volkes vernichtet hast!“ (Jdt 13,17). Durch einen Tyrannenmord erweist sich JHWH als „ein Gott, der den Kriegen ein Ende setzt“ (Jdt 16,2).
Schöpfungsordnung und Heilsordnung
Schon dieser sehr fragmentarische Einblick in die Bibel zeigt: Wer in Fragen von Krieg und Frieden eine vor dem Zeugnis der biblischen Offenbarung sowie menschlicher Erfahrung zu verantwortende Position vertreten will, kann sich nicht mit wenigen Schlagworten zufriedengeben. Das gesamte Zeugnis der Heiligen Schrift ist zudem im Lichte der Vernunft und der kirchlichen Tradition zu lesen. Wer das tut, wer dann vor allem auch mit der Lektüre und Meditation des Neuen Testaments fortfährt und dabei die biblische Schöpfungstheologie mit ihrem realistischen Blick auf die Bosheit des menschlichen Herzens nicht vergisst, der gelangt zu der Einsicht, dass die Anwendung rechtmäßiger Gewalt zur Eindämmung unrechtmäßiger Gewalt vom Alten wie vom Neuem Testament nicht verworfen wird. Eine radikal pazifistische Position lässt sich weder aus der Heiligen Schrift noch aus der Überlieferung der Kirche begründen. Der biblische Pazifismus bezieht sich auf die Heils-, nicht auf die Schöpfungsordnung.
Nach der Sintflut modifiziert Gott seinen ursprünglichen Schöpfungsauftrag. In der an Noach gerichteten Rede nach der Flut erlässt Gott erstmals Gebote zum Schutz des Lebens: „Wenn euer Blut vergossen wird, fordere ich Rechenschaft für jedes eurer Leben. (…) Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem, der es seinem Bruder nimmt. Wer Blut eines Menschen vergießt, um dieses Menschen willen wird auch sein Blut vergossen. Denn als Bild Gottes hat er den Menschen gemacht“ (Gen 9,5f). Mit diesem Gebot zum Schutz des menschlichen Lebens soll die Gewalt auf Erden in Grenzen gehalten und der Bestand der Welt gesichert werden. Es handelt sich um eine erste, noch notdürftige Bändigung der Gewalt durch die vorstaatliche Rechtsinstitution der Rache, die im weiteren Verlauf der Geschichte durch das staatliche Gewaltmonopol abgelöst wurde.
Entscheidend ist der Gedanke, dass der Fortbestand der Schöpfung jetzt dadurch gesichert wird, dass die unrechtmäßige Gewalt (vis) durch rechtmäßige Gewalt (potestas) eingedämmt wird. An die Stelle der Gewalt tritt das Recht. Doch das Recht bleibt wirkungslos, wenn es nicht mit Gewalt (potestas) ausgestattet wird. Die Monopolisierung der Gewalt und die Bindung der Gewalt an das Recht sind in Verbindung mit der Gewaltenteilung eine bedeutende zivilisatorische Errungenschaft. Sie wird auch von Jesus und vom Neuen Testament nicht in Frage gestellt (vgl. Röm 13,1–7). Doch damit ist aus biblischer Sicht das Problem der Gewalt noch nicht gelöst. Die Bosheit des menschlichen Herzens bleibt.
Um sie zu heilen, muss Gott noch einmal neu ansetzen. Wir kommen von der Schöpfungs- zur Heilsordnung. Die Bosheit des menschlichen Herzens kann nicht mit Gewalt geheilt werden. Die Eindämmung der Gewalt durch Gewalt muss von der Heilung des menschlichen Herzens durch die Gewaltlosigkeit der Liebe begleitet werden. In den Verheißungen der alttestamentlichen Propheten wird ein solcher Weg in Aussicht gestellt. Das Herz aus Stein muss durch ein Herz aus Fleisch ersetzt werden: „Ich entferne das Herz von Stein aus ihrem Fleisch und gebe ihnen ein Herz von Fleisch, damit sie meinen Satzungen folgen und meine Rechtsentscheide bewahren und sie erfüllen. Dann werden sie mir Volk sein und ich werde ihnen Gott sein“, heißt es beim Propheten Ezechiel (11,19f).
Dem vom Fluch der Gottvergessenheit heimgesuchten Volk, das in der Verbannung lebt, gilt die Verheißung: „Der HERR, dein Gott, wird dein Herz und das Herz deiner Nachkommen beschneiden. Dann wirst du den HERRN, deinen Gott, mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele lieben können, damit du leben kannst“ (Dtn 30,6).
Der christliche Glaube bekennt, dass es ein solches Herz tatsächlich gegeben hat und dass die Bosheit des menschlichen Herzens geheilt werden kann, wenn es auf das Herz Jesu schaut und sich von ihm berühren und verwandeln lässt, „denn er ist unser Friede“ (Eph 2,14).