Wer möchte ihn in Zukunft noch entgegennehmen, wenn man davon ausgehen muss, dass er von diesem Ständigen Rat gebilligt werden muss und dass der nur innerhalb eines so ganz engen und katholisch-christlichen Spektrums zu billigen bereit ist?“, fragte Kirsten Boie im vergangenen Jahr – und sprach dabei vom Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis. Die Entscheidung des Ständigen Rates, das von der Jury damals ausgewählte Preisbuch „Papierklavier“ von Elisabeth Steinkellner nicht auszuzeichnen, sorgte für heftige Diskussionen. Boie war eine der prominentesten von 222 Kinder- und Jugendbuchautorinnen und -autoren, die die Entscheidung in einem Offenen Brief kritisiert hatten. Die Zukunft des Preises war unsicher. Nach einer Statutenänderung – der Ständige Rat muss die Entscheidung der Jury zukünftig nicht mehr gutheißen – kann die Auszeichnung nun weiter verliehen werden. Und Kirsten Boie, eine Grande Dame der deutschen Kinder- und Jugendliteratur, erhält ihn dieses Jahr für ihren Jugendroman „Dunkelnacht“.
Dass sie Preisträgerin sein könnte, damit habe sie nicht gerechnet; immerhin habe sie sich sehr kritisch zur damaligen Entscheidung geäußert. Umso größer sei die Freude gewesen, nicht nur weil es einer der ganz großen Kinder- und Jugendbuchpreise sei, so Boie jetzt gegenüber der „Herder Korrespondenz“. Immerhin gehe es „bei diesem Preis nicht nur um literarische Qualität, sondern auch um Werte und um ein christliches Menschenbild“. Sie halte es für sehr wichtig, dass Bücher dafür ausgezeichnet werden, dass es in ihnen um Menschlichkeit gehe.
Mit „Dunkelnacht“ hat die Autorin erstmals eine Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus angesiedelt. Inspiriert wurde sie durch die sogenannte „Penzberger Mordnacht“. In der Nacht, bevor die Amerikaner in die bayrische Stadt einmarschierten, wurden 16 Menschen ermordet. „Das war für mich so unvorstellbar, man hat schon das amerikanische Artilleriefeuer gehört, sie wussten, dass der Krieg zu Ende ist und haben trotzdem so gnadenlos zugeschlagen.“
Boie legt den Finger gerne in die Wunde, macht soziale Themen zum Inhalt ihrer Bücher und schreibt über Flüchtlinge, Mobbing oder Obdachlosigkeit. Wichtig ist ihr beim Schreiben vor allem, dass ihre Geschichten und Erzählungen möglichst realistisch sind, „was die Zeichnung der Gesellschaft, das Zusammenleben von Menschen und die einzelnen Charaktere in ihren Gedanken und ihrer Gefühlswelt betrifft“. Sie schreibe selten Bücher, um mit ihnen didaktisch etwas zu bewirken. „Aber jedes Buch vermittelt immer automatisch die Haltung seines Autors.“ Sie geht dorthin, wo es schwierig ist, nicht nur in ihren Büchern. Auf eigenen Wunsch wechselt die ehemalige Lehrerin für Deutsch und Englisch von einem Gymnasium an eine Brennpunktschule.
Zum Schreiben kam Boie eher zufällig. Nach der Adoption ihres ersten Kindes verlangte das Jugendamt von ihr, die Berufstätigkeit aufzugeben. Inspiriert durch ihre eigene Situation schrieb sie ihr erstes Kinderbuch: „Paule ist ein Glücksgriff“ erschien 1985. Es folgten mehr als 100 weitere Bücher, die in zahlreiche Sprachen übersetzt worden sind. Viele sehen in der Hamburgerin die deutsche Astrid Lindgren. Eine Zuschreibung, die Boie durchaus freut: „Astrid Lindgren war die Lieblingsautorin meiner Kindheit und wenn mich jemand geprägt hat, dann sie.“ Gleichzeitig betont sie: „Aber das sind viel zu große Schuhe, da passe ich wirklich nicht rein.“
Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit engagiert sich Boie vor allem in der Leseförderung. Dass immer mehr Grundschüler beim Schulwechsel nicht gut genug lesen können, beunruhigt sie sehr. Auch das Preisgeld wird Kirsten Boie wieder spenden, so wie sie es mit all ihren Preisgeldern macht. Sie fließen in die von ihr und ihrem Mann gegründete Möwenweg-Stiftung, die Kinder in Eswatini (Swasiland) unterstützt.