Achtung, Missverständnisse sind programmiert, insbesondere bei Themen mit hoher ethischer Brisanz und langer Geschichte: Wenn die Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes in einer Zeitschrift für Gesellschaft und Religion vor der Gefahr der Normalisierung des Suizids warnt, muss das wohl ein weiteres Beispiel dafür sein, wie schwer sich Kirche damit tut, neue Wirklichkeiten zur Kenntnis zu nehmen. Man weiß ja, wie lange „die katholische Kirche gebraucht (hat), die Freiheiten, die zur Demokratie gehören, als legitim anzuerkennen“ (vgl. Bernhard Schlink im Interview, Bei Suizid quält uns immer die Warum-Frage, Cicero, Nr. 6/2022; vgl. auch dieses Heft, 13–15).
Vielleicht hätte Schlink, nachdenklicher Juraprofessor und erfolgreicher Romanautor, das Normalisierungs-Zitat anders verstanden, wenn er es nicht als Position einer Kirchenvertreterin, sondern als Einschätzung einer Verhaltensökonomin gelesen hätte. Die Warum-Frage nämlich, die Schlink stellt, wenn er über Entscheidungen von Tragweite spricht, wird durch die Forschungen der modernen Verhaltensökonomie mit ernüchternder Klarheit beantwortet: Menschliche Entscheidungen sind begrenzt rational (bounded rational). Umgebungsfaktoren spielen eine erhebliche Rolle. Durch zusätzliche Alternativen sich verschiebender Prioritäten wirken sie nicht selten irrational.
Der Preis etwa, den wir für ein Gut zu zahlen bereit sind, hängt davon ab, ob er als Sonderangebot oder Mengenrabatt erscheint. Je nachdem, ob das Gehalt sich aus Grundlohn mit Boni oder Abschlägen ergibt, werden sehr unterschiedliche Verhaltensanreize wirksam. Entscheidungen für oder gegen eine Option hängen davon ab, welche Alternativen im Zeitverlauf als möglich wahrgenommen werden, wobei strukturelle Verzerrungen der Wahrscheinlichkeiten zu beobachten sind.
Keine Wirklichkeitsverweigerung
Was die Verhaltensökonomie in umfangreichen Laborstudien beobachtet, deckt sich mit dem Erfahrungswissen der Caritas. Autonome Entscheidungen als Ausdruck freien Willens und rationaler Abwägung sind selten. Die Freiheit, das eigene Leben selbstbestimmt zu leben, ist aufs Engste verknüpft mit ökonomischen Spielräumen. Wer arm ist, ist weit entfernt von der Autonomie, die Schlink im Sinn hat, wenn er sie als Freiheit beschreibt, unter Gesetzen zu leben, die er oder sie sich selber gibt. Wer arm ist, hat wenig Möglichkeit, eigene Autonomieräume auszugestalten. Wer arm ist, fällt zur Last, muss sich mit dem begnügen, was übrig bleibt. Fühlt sich verloren und verlassen. Und wer sich verloren und verlassen fühlt, hat Angst vor der Armut und der Last, die er zu werden droht.
In unserer Leistungsgesellschaft, die diejenigen wertschätzt, die Leistungsbeiträge liefern, die Tempo halten, die selbst Kontakte knüpfen …, ist Freiheit vor allem denen zugänglich, die diesen Anforderungen genügen. Wer nicht zu den Schönen, Starken, Reichen zählt, gerät leicht unter Druck, sein Weiterleben vor sich selbst und der Umwelt begründen zu müssen. Und in einer Welt knapper Ressourcen haben diejenigen schlechte Karten bei dieser Begründung, die nicht in Aussicht stellen können, dass sich die für sie anfallenden Kosten (für Pflege, Medizin, Betreuung) noch irgendwie „lohnen“ oder „auszahlen“ werden. Die Warnung vor einer Normalisierung des Suizids als jederzeit zu prüfender Verhaltensalternative ist daher das Gegenteil einer Wirklichkeitsverweigerung.
Der Blick der Caritas in die lebensweltlichen Unterschiede und Zwänge macht skeptisch, ob sich mit der gesetzlichen Vorgabe einer (ärztlichen) Mehrfachberatung die rationale Begründetheit eines Suizidwunsches abklären lässt. So heroisch wie das Freiheitsverständnis des Bundesverfassungsgerichts in entscheidenden Passagen seines Urteils zur Suizidhilfe vom Februar 2020 ist das ihm folgende Vertrauen in die Kraft einer begutachtenden Beratung, die einen legitimen freien vom unfreien Suizidgedanken zweifelsfrei unterscheiden zu können hofft.
Gerade in Bezug auf Menschen, die einen Suizid in Betracht ziehen, sind die Erkenntnisse der Verhaltensökonomie eine Warnung vor allzu heroischen Erwartungen an „rationale“ autonome Entscheidungen. Wer im Verlaufe einer Krankheit, im Alter, durch eine Behinderung oder auch nur in schwierigen Phasen des eigenen Lebens sich selbst überwiegend als Kostenfaktor und Belastung für Zeit und Geld der Angehörigen empfindet, wird Entscheidungen anders treffen, je nachdem, ob die Möglichkeit der Suizidhilfe als gesellschaftliche Normalität angesehen und erreichbar angeboten wird oder nicht.
Verlust von Autonomie
Eine wachsende gesellschaftliche Erwartung, Suizid und Suizidhilfe als Optionen regelhaft in Erwägung ziehen zu dürfen, kann schnell tatsächlich oder vermeintlich zum sublimen Druck der Familie und des sozialen Umfeldes mutieren, diese Option ernsthaft zu prüfen. Es ist ökonomische Realität, dass Menschen im Alter relativ hohe Kosten verursachen, oft ihr im Leben mühsam Erspartes aufzehren müssen, auf dessen Erwerb sie stolz waren. Dagegen steht die Erwartung, selbst keinen wirklichen Gewinn durch das fortgesetzte Leben mehr zu erfahren, niemand anderem von Nutzen zu sein. So entsteht – auch ohne zusätzliche Nachhilfe Dritter – Druck, der einer Veralltäglichung des Suizids (im Alter) Vorschub leistet.
Eine Studie aus den Niederlanden zeigt, wie Menschen ihre Entscheidungen im Rahmen der dort bereits seit 2002 geltenden Suizidhilfe-freundlichen Regelungen nach Kriterien der eigenen Nützlichkeit abwägen. Die Analyse der Aussagen zur Begründung des Sterbewunsches ergab: Der Verlust von Autonomie im Alter oder in der Krankheit wird als Verlust des Selbstwertes empfunden, weil dieser an die Disposition zur Unabhängigkeit geknüpft wird, so dass das „selbstbestimmte Sterben“ vorzugswürdig erscheint.
Andere sehen sich ihres Lebenssinns dadurch beraubt, dass sie nicht mehr aktiv und produktiv an der Wertschöpfung in der Gesellschaft mitwirken können (Christoph Rehmann-Sutter u.a., Being a burden to others and wishes to die – an ethically complicated relation, in: Bioethics 33 [2019], 421ff). Es liegt in einer Welt, in der die eigenen biografischen Entscheidungen immer mehr an Werte von Effizienz und Selbstoptimierung geknüpft werden, eine Realität gar nicht so fern, in der man sich natürliches Sterben ausdrücklich leisten können muss.
Noch scheint die Freiheit, das eigene Weiterleben-Wollen nicht begründen zu müssen, in Deutschland quasi selbstverständlich, sie ist aber keineswegs „von alleine“ gesichert. Wenn das Kollektiv, dem ich angehöre, es „als Wohltat preist“, selbstbestimmt aus dem Leben scheiden zu können, werde ich mich recht bald als „Gefangene“ jener Autonomie empfinden, die von mir immer wieder neu eine Entscheidung in Sterbensangelegenheiten fordert, so Jean-Pierre Wils hellsichtig in seinem Buch über den Suizid als letzte Emanzipation (Sich den Tod geben, Stuttgart 2021, 21).
Das Bundesverfassungsgericht sieht es – ganz ähnlich argumentierend – als notwendig an, Regulierungen zu gestalten, die vor dem Druck schützen, über Suizid und Suizidhilfe nachdenken zu müssen. Der Gesetzgeber müsse, so das Gericht 2020, „gesellschaftlichen Einwirkungen wirksam entgegentreten, die als Pressionen wirken können und das Ausschlagen von Suizidangeboten von Seiten Dritter rechtfertigungsbedürftig erscheinen lassen. Entsprechend kann er Vorkehrungen treffen, dass Personen nicht in schweren Lebenslagen in die Situation gebracht werden, sich mit solchen Angeboten auch nur näher befassen oder sich hierzu explizit verhalten zu müssen“ (Rn 235).
Schutz vor Pressionen
Diese gesetzgeberische Aufgabe ist differenziert umzusetzen – unter den Bedingungen des Lebens in einer Einrichtung der Alten- oder Eingliederungshilfe ist die Freiheit von einem solchen Druck erkennbar anders bedroht als für Menschen, die in einer Einfamilienhaussiedlung leben.
Es gehört zu den besonderen Aufgaben der Träger von sozialen Diensten und Einrichtungen, in denen alte und beeinträchtigte Menschen mit Unterstützungsbedarf leben, die Freiheiten der zu umsorgenden Menschen zu sichern – auch und gerade die Freiheit, das eigene Weiterleben nicht begründen zu müssen. Es geht um eine Garantenstellung für vulnerable Menschen beim Schutz vor gesellschaftlicher Eiseskälte – und das in einer Umgebung, die zu Temperaturstürzen neigt.
Im ersten Lockdown 2020 haben wir das schmerzlich erfahren. Wie schnell waren wir gesellschaftlich bereit, die Alten und Kranken hinter den Mauern von Einrichtungen – „zum eigenen Wohle“ – abzuschließen und selbst Sterbenden die letzte Begegnung mit ihren Angehörigen zu verweigern. Die Relecture des Bundesverfassungsgerichtsurteils mit dem Wissen zweier Pandemiejahre macht deutlich, dass der Auftrag des Gerichts zum Schutz der Freiheit als Schutz vor Pressionen auf die Besonderheiten der Situation in Einrichtungen ausdrücklich Rücksicht nehmen muss. „Niemand kann verpflichtet werden, Suizidhilfe zu leisten“ – dieser Leitsatz des Urteils muss explizit auch auf Einrichtungen Anwendung finden.
Es bedarf einer gesetzlichen Absicherung der institutionellen Freiheit, schützende Regeln zur Suizidprävention konzeptionell zu gestalten und deren Einhaltung durchzusetzen. Kein Plakat eines Suizidhilfevereins im Flur. Keine Zutrittsrechte für ausgewiesene Suizidassistenten. Keine Informationsabende über Suizidmethoden im Aufenthaltsraum. Es muss Einrichtungen freistehen, den bei ihnen lebenden Menschen und den bei ihnen arbeitenden Beschäftigten zuzusichern, dass sie unter dem Dach der Einrichtung der Option Suizidhilfe regelhaft nicht begegnen.
Derjenige, der bei der Umsetzung seines Selbsttötungsentschlusses Hilfe eines Dritten nachfragt, wirkt in die Gesellschaft hinein, so das Bundesverfassungsgericht. Das gilt besonders dort, wo die Inanspruchnahme der Suizidassistenz nicht unbemerkt bleiben kann und in der Hausgemeinschaft einer Einrichtung Mitbewohnerinnen und Mitbewohner unmittelbar berührt. Geeignete „Vorkehrungen“, die nach Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts zu treffen sind, um zu verhindern, dass Menschen „in schweren Lebenslagen“ sich mit Suizidangeboten auseinandersetzen und sich explizit zu ihnen verhalten müssen, sind daher für Einrichtungen der Alten- und Eingliederungshilfe besonders wichtig.
Der Blick auf die Realität in Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe ist der Blick des Deutschen Caritasverbandes. Wir müssen uns besonders fragen, ob für die Menschen in unseren Einrichtungen – für die Klienten und Klientinnen, aber auch für die Beschäftigten – eine gesetzliche Regelung zur Suizidassistenz die Abwägung überzeugend gestaltet zwischen der Freiheit des Einzelnen, seinem Leben ein Ende zu setzen, und der Freiheit vulnerabler Menschen, frei von Pressionen weiter leben zu dürfen. Wir stellen uns diese Frage neu und anders, nachdem uns die Pandemie-Jahre gelehrt haben, wie sehr Menschen in Einrichtungen besonderen Schutzes bedürfen.
Im Urteil zu Benachteiligungsrisiken von Menschen mit Behinderung in der Triage kommt das Bundesverfassungsgericht im Dezember 2021 zur Überzeugung, dass sich der Schutzauftrag des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG in bestimmten Konstellationen ausgeprägter Schutzbedürftigkeit „zu einer konkreten Schutzpflicht verdichten“ kann (Leitsatz 2, 1 BvR 1541/20). „Menschen mit einer Behinderung sind in der Corona-Pandemie spezifisch gefährdet.Sie unterliegen in Heimen und Einrichtungen und bei täglicher Unterstützung durch mehrere Dritte einem hohen Infektionsrisiko und tragen ein höheres Risiko, schwerer zu erkranken.“ Die schon 2020 vom Bundesverfassungsgericht beschriebene Gefahr, „dass sich Sterbe- und Suizidhilfe – auch angesichts des steigenden Kostendrucks in den Pflege- und Gesundheitssystemen – zu normalen Formen der Lebensbeendigung in einer Gesellschaft entwickeln können, die soziale Pressionen begründen und individuelle Wahlmöglichkeiten und Entscheidungsspielräume verengen“, ist unabweisbar virulent.
„Einsamkeit, soziale Isolation, die Sorge vor finanziellen Einbußen im Alter und aufgrund von Pflegebedürftigkeit können den Wunsch einer vorzeitigen Lebensbeendigung bei älteren Menschen entstehen lassen und begünstigen. Gerade ältere Menschen sind jedoch die Zielgruppe von Sterbehilfeorganisationen“, konstatierte im vergangenen Jahr der Deutsche Hospiz- und Palliativverband. Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens konzeptionell als „sichere Orte“ zu verstehen, an denen Menschen sich aufgrund der lebensbejahenden und ganzheitlichen Sorgekultur aufgehoben fühlen können, sei ein wichtiger Baustein, um der von der WHO konstatierten zunehmenden Altersdiskriminierung entgegenzutreten.
Die Möglichkeit, sich zu äußern und gehört zu werden
In Deutschland hat sich die Zahl der Suizide seit den Achtzigerjahren nahezu halbiert, es sterben aber noch immer wesentlich mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, AIDS, illegale Drogen und Gewalttaten zusammen, und: die Zahl der Älteren, insbesondere der Männer über 70 Jahre, liegt bleibend überproportional hoch (Statista Research Department, Selbstmordrate in ausgewählten Ländern Europas nach Geschlecht 2017).
Für junge Menschen ist die Caritas seit einigen Jahren mit einem speziellen Präventionsangebot online präsent: In der „[U25] Mailberatung“ wird Suizidprävention durch ehrenamtliche Gleichaltrige („Peers“) geleistet, die niedrigschwellig und anonym über das Internet als Ansprechpersonen dienen. Häufig stellt sich heraus, dass schon die Möglichkeit, sich zu äußern und gehört zu werden, den entscheidenden Unterschied macht. Es werden die bedingten Rationalitäten des Suizidvorhabens hinterfragt und Sichtachsen auf das Leben neu eröffnet.
Die Idee, eine solche Peerberatung auch für die über 55-Jährigen, die besonders suizidgefährdeten älteren Menschen, anzubieten, gehört zu den Vorhaben, die im Rahmen einer vorsorgenden menschenfreundlichen gesetzlichen Regulierung von Suizidhilfe und Suizidprävention zukünftig bessere Rahmenbedingungen vorfinden sollten.