Nachdem der Theologe Martin Ramb und der Philosoph Holger Zaborowski sich 2019 bereits mit einem Sammelband auf die Spurensuche nach der „Heimat Europa“ begeben hatten, unternehmen sie nun mit einer in diesem Jahr begonnenen Buchreihe den Versuch, die geistige Identität unseres Kontinents zu vermessen und auf ihre aktuelle Bedeutung hin zu befragen. Dabei kommen Solidarität und Verantwortung als erste der „Koordinaten Europas“ in den Blick – eine Themensetzung, die durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine an Brisanz gewonnen hat, sind diese beiden Schlagworte seither doch mit einem robusten Zungenschlag im politischen Diskurs präsent. Dies freilich war zur Zeit der Fertigstellung des Buches noch nicht abzusehen und so ist Solidarität, wo sie als politisches Phänomen fokussiert wird, vornehmlich in ihrer sozialen Dimension akzentuiert.
Dies freilich gereicht dem Buch nicht zum Nachteil, liegt seine Stärke doch mithin gerade darin, nach den Bedingungen, philosophischen Grundlagen sowie der Bedeutungsvielfalt von Solidarität zu fragen und sich nicht zu sehr in Details politischer Programme zu verlieren. Im Zusammenspiel der unterschiedlichen disziplinären Perspektiven – von Theologie über Skandinavistik bis Medizin – gelingt es den Beiträgen, nachzuvollziehen, was es bedeutet, Solidarität – im Sinne des einleitenden Aufsatzes von Zaborowski – als „ein Postulat“ zu verstehen, „eine regulative Idee, die ins Unendliche weist und so unser endliches Handeln leitet“.
Die Essays werden ergänzt durch Gespräche der Herausgeber mit Andrea Nahles, Theo Waigel und Markus Hilgert. Nur selten – wie im Falle des österreichischen Caritas-Präsidenten Michael Landau – erliegen die beiden Verfasser Ramb und Zaborowski der Versuchung, in der sonntagsredengemäßen Beschwörung von Solidarität zu verharren. Vielmehr gelingt ihnen in der Mehrheit – exemplarisch zu nennen wäre der Soziologe Heinz Bude – eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Solidarität, die Spannungen aushält und Perspektiven weitet. Tilman Asmus Fischer