Was würde geschehen, wenn Jesus zurück auf die Erde käme? Mischa und Anastasia, die Hauptgestalten des neuen Romans von Michael Kumpfmüller (geboren 1961), sind Slawistikstudierende und vernarrt in russische Literatur. Dostojewskis Großinquisitor-Poem, in dem auf dem Höhepunkt der Inquisition im 16. Jahrhundert Jesus in Sevilla erscheint, was der greise Kardinal als unerwünschte Störung abwehrt, inspiriert sie, den Meister, wie Jesus schon in den Evangelien genannt wird, ins heutige Berlin einzuladen. Ein abgewetzter, wodkatrinkender Engel kommt zu Mischa und bittet ihn, Jeschua, wie er aramäisch eingeführt wird, zu begleiten.
„Mischa und der Meister“ ist ein literarisches Spiel mit Michail Bulgakows berühmtem Roman „Der Meister und Margarita“, am Schluss des mit viel Fantasie, Humor und Leichtigkeit erzählten Buches sind Zitate und Anspielungen nachgewiesen. Programmatisch führt das Bulgakow-Motto die auch für Kumpfmüller wichtige Infragestellung transzendenzverriegelter Diesseitseindimensionalität ein: „Es gibt nichts Übernatürliches im Leben. Weil alles darin übernatürlich ist.“
Kumpfmüller bezeichnete die Arbeit an dem von März 2019 bis Juni 2021 entstandenen Roman als „seine Corona-Gegenerfahrung“. Der erzählerisch originelle Einfall des literarisch riskanten Unternehmens – deutschsprachig wie international ist der Jesus-Roman allerdings, erstaunlich genug, ein blühendes Genre – besteht in einer „wirklich fantastischen Epidemie“: In der Straßenbahn beschimpft ein junger Mann die Umstehenden als Dreck und Abschaum. Weder Arzt noch Wundertäter, legt ihm Jeschua die Hand auf, beruhigt ihn – und löst ein regelrechtes „Infektionsgeschehen“ aus.
Es kommt zu weiteren „Vorfällen“: Ein Literaturkritiker will keine Verrisse mehr schreiben, sondern ermuntern, loben, staunen, bewundern, bei einem seiner Opfer entschuldigt er sich mit Blumen. Eine Immobilienmaklerin gibt einem wohnungssuchenden Paar das Banknotenkuvert zurück, sie sollen es für die Einrichtung der Kinderzimmer verwenden. Geben ist schöner als Nehmen! „Alles wurde neu und umwälzend anders“, resümiert der Erzähler die von Jeschua ausgehende Kraft. „An allen möglichen Orten wurde bereut; es wurde verziehen und gestaunt, und dies auf die unkomplizierteste Weise.“ Schon Bulgakows Jeschua war überzeugt, es gebe keine bösen Menschen, wer böse ist, sei dazu gemacht worden.
Wie bei Bulgakow der Satan und sein Gefolge das Leben im stalinistischen Moskau auf den Kopf stellen, ruft die Liebesepidemie eine Teufelsbande von sieben Berliner Zahnärzten, Malermeistern und Steuerberatern samt sprechendem weißen Pudel auf den Plan. Es bilden sich zwei Fraktionen, die eine will den Dingen ihren Lauf lassen, die andere eine Gegenoffensive starten, den Meister isolieren und kaltstellen, um das Infektionsgeschehen ihres „Widersachers und Bruders Jeschua“ einzudämmen und die von ihm Infizierten auf die alten Gleise zurückzubringen.
Nach Einlieferung in eine psychiatrische Klinik verschwindet Jeschua. Mischa und Anastasia heiraten, zuletzt liegen ein Engel und ein Teufel, beide ziemlich ramponiert, im Streit über die Frage, „ob der Mensch von Natur aus gut oder eher böse sei, was nun wirklich der allerdümmste Streit auf Erden war, da die allermeisten beides nicht waren, sondern einfach nur existierten und sich mühten und plagten und am Ende regelmäßig staunten, wie schnell alles vorübergegangen war“.
Erzähltechnisch wird das direkte Auftreten Jesu kombiniert mit der zentralen Einsicht der bedeutenden indirekten Jesus-Romane wie Max Brods „Der Meister“ oder Gerd Theissens „Im Schatten des Galiläers“: Was Jesus auszeichnet, zeigt sich in den Wirkungen seiner Präsenz auf die Menschen. Jesu Liebesbotschaft erfährt so eine bemerkenswerte narrative Vergegenwärtigung seitens des katholisch sozialisierten, kirchendistanziert-agnostischen Autors: „Die Blumenhändler hatten von Tag zu Tag höhere Umsätze, Mitarbeiter des Familiengerichts wurden Zeugen, wie sich verfeindete Paare in Sekundenschnelle über Unterhaltszahlungen und Aufenthaltsrechte einigten, während in den Finanzämtern allergrößte Aufregung über eine Reihe anonymer Zahlungseingänge in vier- bis sechsstelliger Höhe herrschte“. Wie die meisten Romanfiguren ist Jeschua bei Kumpfmüller weitgehend frei von Religiösem, was eine interessante neue Sicht im Jesusdiskurs eröffnen könnte, doch bleibt die Gestalt des Meisters erzählerisch farblos und ohne Tiefe. Christoph Gellner