Herr Landesbischof Meister, Sie haben sich intensiv mit den kulturellen Aspekten des Glaubens befasst. Wie steht es angesichts der vielen kirchlichen Krisenphänomene um die kulturprägende Kraft des Christentums im 21. Jahrhundert?
Ralf Meister: So schlecht sieht es gar nicht aus. Ich bin Vorstandsvorsitzender der Stiftung Kirchbau, die sich um Hilfen für den Bestand der rund 21.000 evangelischen Kirchengebäude kümmert, weil sie der sichtbare Ausdruck einer Glaubensüberzeugung sind. Selbst im säkularen Kontext setzen sich viele Menschen dafür ein, dass diese erhalten werden. Es geht ihnen dabei um Symbolorte der Gemeinschaft, zu der diese Kirchen bis heute gehören. Und wenn man sich anschaut, was jetzt im November und Dezember an Musik aufgeführt wird, sind achtzig oder neunzig Prozent, von den Requien bis zum Weihnachtsoratorium, zutiefst christliche Werke. Deshalb bin ich bei dieser Frage gar nicht so skeptisch. Und wir müssen auch nicht nur auf die ästhetischen Gesichtspunkte schauen, sondern ebenso auf die Lebenshaltungen der Menschen wie die Inhalte der Narrationen, die in unserer Gesellschaft nach wie vor eine große Bedeutung haben.
Woran denken Sie da zum Beispiel?
Meister: Ich bin fest davon überzeugt, dass die Landschaft der Barmherzigkeit, in der wir nach wie vor in unserem Land leben, signifikant nicht nur von christlicher Tradition, sondern fundamental von gelebten christlichen Überzeugungen mitgeprägt wird. Das Christentum und die Kirche gibt es immer nur in Formen der Inkulturation. Beim großen Engagement der Aufnahme von Menschen auf der Flucht in den Jahren 2015 wie 2016 und jetzt auch wieder angesichts der Menschen aus der Ukraine gestehen fast alle ein, die fair auf die Situation schauen, dass das eine enorme Leistung unter anderem der Kirchen in unserer Gesellschaft war und ist. Dasselbe gilt auch dafür, wie wir heute über Frieden sprechen – selbst wenn die Menschen nicht jeweils voranstellen, dass sie das dezidiert als Christ tun.
Aber diese Überzeugungen werden doch immer weniger mit der Institution Kirche verbunden.
Meister: Ein großes Defizit ist dies nur auf den ersten Blick. Es ist in erster Linie eine Herausforderung für uns als kirchliche Repräsentanten. Wir müssen darauf aufmerksam machen, dass diese Markierungen in unserer Gesellschaft nicht vom Himmel gefallen sind, sondern aus der christlichen Erzählung und aus dem gelebten Nachvollzug eine Gestalt gewinnen. Das wird plausibler, wenn man sich in anderen Gesellschaften umsieht, in denen es diese Traditionen nicht gibt. Hier muss man beim Ausdruck christlich immer ergänzen: jüdisch-christlich. Ein Großteil der gelebten christlichen Glaubensvorstellung, wie wir sie heute sehen, ist gar nicht so sehr christologisch zentriert, sondern viel stärker von der Psalmenfrömmigkeit mit ihrer gesamten Bandbreite geprägt: von der Verzweiflung über das Schweigen bis zu den Sehnsüchten nach Frieden und Gerechtigkeit sowie der Wirkmacht Gottes über die gesamte Schöpfung bis hin zur Wertschätzung meines eigenen individuellen Lebens.
Gehört nicht zur Kehrseite der Medaille, dass sich christliche Überzeugungen in einem guten Sinne, beispielsweise in unserem Sozialstaat, so tief inkulturiert haben, dass es auch deshalb eine zurückgehende kirchliche Verbundenheit der Mitglieder und massive Austrittszahlen in beiden Kirchen gibt?
Meister: Das stimmt vollständig. Die Verbindung eines christlich gelebten, auch politisch wirksamen Ethos muss in keiner Weise mehr eng an Kirchenmitgliedschaft gebunden werden. Differenziert zeigt dies auch die neue Untersuchung zur Kirchenmitgliedschaft: Die im engeren Sinne kirchlich Religiösen machen nur noch 13 Prozent aus. Daneben gibt es viele, die man als religiös distanziert bezeichnen kann, und zunehmend mehr Menschen mit einem säkularen Weltbild. Auch unter ihnen sind zwar durchaus Kirchenmitglieder, sie können aber explizit mit dieser Tradition nicht mehr viel anfangen. Ich glaube an Jesus Christus – diese christologische Pointe teilen nicht mehr viele, auch nicht mehr alle Kirchenmitglieder. Wenn überhaupt, haben sie ein weiter gefasstes Gottesbild als das traditionell-christliche. Man könnte dies als einen Riss bezeichnen. Umso dankbarer können wir dafür sein, dass der Ertrag, den die Kirchen institutionell verkörpern, nach wie vor wirkt in unserem Land.
Wird es aber, wenn sich der Traditionsabbruch fortsetzt, in ein, zwei Generationen noch gelingen, der Gesellschaft die positiven Impulse zu geben? Braucht es die Institution Kirche nicht als Träger des christlichen Gedächtnisses?
Meister: Absolut. Ich muss gestehen, dass ich bis vor einigen Jahren die Kirche noch als einigermaßen starke zivilgesellschaftliche Gruppe gesehen habe, die natürlich organisiert sein muss – darüber hinaus aber war ich recht institutionsskeptisch. Hier muss ich heute korrigieren. Wir brauchen eine institutionelle Form als Gewährleistung dafür, dass die gelebten Überzeugungen und Haltungen an kommende Generationen tradiert werden. Das muss im Diskurs mit der Gesellschaft geschehen und gelingt auch nie eins zu eins. Aber es braucht Orte, an denen jene Einstellungen bewahrt und die lebensdienlichen Narrationen neu erzählt werden, und dafür ist der institutionelle Charakter der Kirchen sehr wichtig.
Was heißt das mit Blick auf junge Leute, die besonders wenig mit der Kirche zu tun haben wollen?
Meister: Natürlich schauen wir alle genau, ob unsere Angebote für jüngere Menschen, Jugendliche, aber auch junge Erwachsene attraktiv genug sind. Hier ist die Kommunikation über digitale Medien und soziale Netzwerke stark berührt. Da wir mitten im rasanten Wandel solche langfristigen Traditionsbildungsprozesse, wie wir sie früher kannten, nicht mehr sehen, ist der institutionelle Charakter der Kirche umso wichtiger. Wir versuchen hier eine ganz Menge. Beispielsweise gibt es in unserer Landeskirche seit vielen Jahren zusätzlich zur Synode auch eine eigene Jugendsynode, die zur Hälfte von Jugenddelegierten und zur Hälfte von den regulären Synodenmitgliedern gebildet wird. Deren Beschlüsse bedeuten jeweils ein Aufgabenpaket für unsere Synode. Bei diesem Mitbestimmungsinstrument geht es nicht nur um Information und Anhörung.
In der digitalen Welt wird Kirche mit den vergleichsweise wenigen Klickzahlen und Followern ihrer Angebote außerhalb der eigenen Blase ohnehin kaum wahrgenommen …
Meister: Das ist richtig. Ich hinterfrage als über 60-Jähriger auch manches kritisch. Was macht Cristiano Ronaldo als der größte Instagram-Star mit 600 Millionen Followern für das Wohl und Wehe dieser Welt aus? Großartige Unterhaltung, hervorragender Fußball, glänzende Tore: Aber wie substanziell ist es, dass die Kirche da mithalten müsste? Wir müssen mit der Ernsthaftigkeit, die uns antreibt, Resonanzen suchen. Soziale Medien können natürlich sehr positive Effekte haben, solange sie nicht missbraucht werden – ich bin da kritischer als andere. Aber die schnelle Mode wird nie unser Maßstab sein.
Was bedeutet es in diesem Zusammenhang, dass die finanziellen und personellen Ressourcen schwinden? Wie lässt sich angesichts dessen verhindern, dass sich die Kirche hier wie dort zurückzieht?
Meister: Aus den digitalen Netzwerken werden wir uns jedenfalls mit Sicherheit nicht verabschieden, sondern immer wieder auch neue Formen ausprobieren. Gerade nach der Corona-Pandemie agieren wir in vielen Gemeinden weiterhin sowohl analog als auch digital. Wir haben in Präsenz noch nicht die Zahlen wie vorher, die ebenfalls nicht immer und überall glorreich waren. Auf Kosten der digitalen Angebote werden wir deshalb nicht sparen. Diese Form der Kommunikation wird wichtiger werden, was noch keine Vorentscheidung über die einzelnen Kanäle beinhaltet. In jedem Fall aber wird das eine ganz entscheidende Schnittstelle sein, um Menschen zu begleiten.
Sie hatten zuletzt bereits darauf hingewiesen, dass der 10-Uhr-Gottesdienst am Sonntagmorgen nicht das Maß aller Dinge sein sollte.
Meister: Das Interessante ist doch, dass wir in den sozialen Netzwerken oft recht konventionelle Angebote machen – und diese gut funktionieren. Wenn wir ein Gebet zur Verfügung stellen, gibt es eine besonders hohe Interaktionsquote. Man muss nichts Spektakuläres machen. Gerade junge Menschen sagen: Da gibt es tolle Angebote und ich kann daran teilnehmen, obwohl sie nicht hier bei uns in der Stadt oder der Region verortet sind. Das wird in Zukunft noch selbstverständlicher werden. Hier bieten sich uns Chancen, weil Menschen sehr einfach an dieser Kommunikation teilhaben können. Nicht zuletzt die analoge Glaubenskultur wird sich durch die digitalen Angebote weiter verändern. Immerhin muss auch ich zur Kenntnis nehmen, dass die digitale Verortung in mancher Hinsicht ein vollständiger Ersatz sein kann zur analogen Gegenwart. Gerade für die Kirchen ist dies spannend, sind sie doch Experten für das Phänomen einer medialen Präsenz, die nicht analog zu fassen ist. In der Eucharistie feiern wir die Gegenwart von etwas, was da ist, uns auch sensorisch erfahrbar wird und doch über die leibliche Dimension hinausgeht und geglaubt wird. In vielen biblischen Geschichten ist genau das die beschriebene Situation: Etwas wird als anwesend erfahren, ohne dass es leiblich da ist. Ich gebe zu: Ich erfasse das theologisch schneller, als dass ich es rational verstehe.
Muss sich angesichts dieses Bedeutungswandels der Institution Kirche wie des Schrumpfens der Ressourcen nicht strukturell noch viel mehr tun? Warum braucht es fünf Landeskirchen unterschiedlicher Größen beispielsweise in Niedersachsen?
Meister: Wir sind in der Evangelischen Kirche in Deutschland schon dabei, und im Norden und im Osten hat sich auch bereits viel verändert. Ich halte es für wichtig, viel nüchterner zu schauen, welche Einsparungen erzielt werden können. Es geht gar nicht um das Personal der im weitesten Sinne verkündigenden Berufe bis hin zu den Kirchenmusikern und -musikerinnen und den diakonischen Diensten, sondern um die Verwaltung. Manche Reformen ergaben am Ende andere Ergebnisse als erwartet. Wo sie sinnvoll sind, werde ich sie weiter fordern. Aber das ist letztlich keine entscheidende Frage. Bei den katholischen Geschwistern ist eines der Top-Themen die Zusammenlegung zu Großgemeinden, die oftmals als Überforderung erlebt wird. Wie will man eine religiöse Nachfolgegemeinschaft sein, wenn man die sozialen Verbindungen nicht halten kann, weil die Entfernungen zu groß sind? Deshalb sollten wir bei Fusionen vorsichtig sein, weil sich der Niedergang sonst beschleunigen wird.
Apropos Verschlankung. Inwiefern braucht es die innerevangelischen konfessionellen Bünde wie die VELKD als Zusammenschluss der Lutheraner, deren leitender Bischof Sie sind? Gesellschaftlich gut verstanden werden sie jedenfalls nicht.
Meister: Genau … (lacht). Als ich meinen Eltern erzählte, dass ich zum leitenden Bischof der VELKD gewählt worden bin, guckten die mich rätselnd an. Dabei sind meine Eltern volkskirchlich geprägte lutherische Christen – denen die Existenz eines solchen Zusammenschlusses jedoch überhaupt nicht einleuchtete. Nun kostet die VELKD im Vergleich mit anderen Dingen nicht viel Geld und wir werden uns weiterhin verschlanken. Zugleich ist die VELKD mit dem Deutschen Nationalkomitee des Lutherischen Weltbunds zusammen ein wichtiges Moment der Internationalität der lutherischen Konfession. Das ist eine Verpflichtung, wie auch die Vollversammlung des Lutherischen Weltbunds in Krakau im September gezeigt hat. Es bedeutet eine engere Verbindung, wenn sich Menschen gleicher Konfession treffen. Krakau hat gerade wegen der Internationalität gleichzeitig einen Gegenimpuls gegeben. Der katholische Priester und Religionsphilosoph Tomáš Halík hat als zentraler Redner gefordert, dass Christen überkonfessionell, interreligiös und kulturoffen die Botschaft verkündigen müssen, weil sie sonst ihren Auftrag verwirken. Über alle Konfessionsgrenzen hinweg schulden wir diese Botschaft der Weltgemeinschaft.
Was macht angesichts dessen den Kern lutherischer Identität aus, die Thema der diesjährigen VELKD-Synode war?
Meister: Wir legen eine besondere Aufmerksamkeit auf die liturgische Form. Ende Oktober haben wir am Reformationstag in der Marktkirche in Hannover das viel diskutierte Glasfenster von Markus Lüpertz eingeweiht. Die Betrachtung von kulturellen Formen war für Martin Luther nicht beliebig. Er war ein großartiger Lieddichter, Hobbymusiker und hat darauf aufmerksam gemacht, was man aus Bildern lernen kann. Das ist für mich selbst Teil meiner lutherischen Identität. Dazu kommt dann die Internationalität.
Inwiefern ist Martin Luther mit einigen problematischen Aspekten sowohl seiner Persönlichkeit als auch seiner Schriften, die man heute oft mühsam kontextualisieren muss, Belastung – oder doch auch Rückenwind?
Meister: Die Shoa ist für die Lerngeschichte Deutschlands eine unabgeschlossene Aufgabe und eine zutiefst schmerzhafte Grunderfahrung des Irrens eines ganzen Volkes. Tatsächlich haben wir selbst viel zu lange gebraucht, um Luthers antijüdische Schriften mit der nötigen Distanz zu analysieren und uns dazu zu positionieren. Das gilt auch für seine Gewaltorgien im Zusammenhang mit dem Bauernkrieg. Und natürlich war er als Typ ein Choleriker. Aber daran lernt man, wie man sich historisch mit einem bedeutenden Schriftsteller auseinandersetzt. Es geht nicht darum, alle lutherischen Christen dafür zu verhaften, was Luther einmal gesagt hat. Das wäre unreflektiert dahergeredet. Ganz im Gegenteil ist die Lektüre Luthers heute weiterhin inspirierend. Sehr verknappt gesagt: Die Theologie beginnt bei ihm mit der Sünde und mehr noch mit dem Kreuz und fordert die Umkehr. Wie tief verwundet diese Welt ist und wie abgrundtief böse Menschen sein können, das sind zwei Grunderfahrungen, die für mich in den letzten Jahren viel deutlicher geworden sind. Sie belehren mich in meiner Naivität, auch wenn ich viele Stellen früher schon einmal gelesen hatte.
Stichwort Sünde, Stichwort Leiderfahrung: Haben Sie das Gefühl, dass es innerhalb der evangelischen Kirche inzwischen hinreichend Sensibilität für das Thema sexualisierte Gewalt gibt?
Meister: Hinreichend ist ein großer Begriff, gerade für eine gesamte Institution. Sicher aber ist ein großer Zuwachs an Sensibilität für das Thema auf unserem Weg zu bemerken. Das sage ich auch aufgrund der vielen Gespräche mit unserer Fachstelle, in unseren Präventionskursen, in der Kirchenkonferenz mit den anderen leitenden Geistlichen. Ende Januar soll die unabhängige ForuM-Studie für die evangelische Kirche vorgestellt werden. Aber jetzt schon gibt es eine enorme Wachsamkeit und auch große Aktivität mit Blick auf Schutzkonzepte, Abstandsgebot und weitere Präventionsmaßnahmen. Das ist vor einigen Jahren noch nicht so gewesen. Natürlich haben die Kirchen nach dem Jahr 2010 durchaus einen Weg zurückgelegt. Wir haben als Landeskirche schon früh Anerkennungsleistungen durch ein unabhängiges Gremium unterstützt. Nachholbedarf gibt es vor allem dabei, wie sich betroffene Personen am besten beteiligen können und vertreten sind – und zwar nicht nur informell, sondern auch in ihrer Bedeutung für Entscheidungswege und -prozesse.
Das heißt, Sie sehen der Veröffentlichung der Studie Anfang nächsten Jahres gelassen entgegen?
Meister: Gelassenheit kann es in diesem Kontext nie geben. Aber da es eine unabhängige Studie ist und da wir die Ergebnisse nicht kennen, kann ich dazu kaum etwas sagen. Ein Fall in der Landeskirche Hannovers, der auch Bestandteil der Studie ist, zeigt, wie nachlässig wir waren, als ein beschuldigter Kollege von A nach B versetzt wurde. Für die Nachbetrachtung und für die zeitgeschichtliche Einordnung des Falls, den die Betroffene mit uns gemeinsam schon vor der Studie öffentlich gemacht hatte, wird die Studie sehr wichtig sein. Natürlich gehen wir davon aus, dass die Zahl der Betroffenen größer sein wird als bisher bekannt.
Fühlen Sie sich angesichts des Themas sexualisierte Gewalt mit der katholischen Kirche in einer Art Schicksalsgemeinschaft oder bestehen Sie auf Differenzierungen?
Meister: Die Strukturen der kirchlichen Organisationen sind bekanntermaßen unterschiedlich. Diese Differenzierung muss man im Blick haben. Das gilt auch für die Ebene der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz – was unter anderem dazu führt, dass manches in der katholischen Kirche schneller ging als in der evangelischen. Immerhin steht die Gemeinsame Erklärung der EKD mit der Unabhängigen Beauftragten bei der Bundesregierung kurz vor der Unterzeichnung. Das Entscheidende aber ist, dass alle, die Kirchen zuvorderst, diesen Blickwechsel in den letzten Jahren gelernt haben und weiter vertiefen müssen. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, in der wir mittendrin stehen.
Wo steht die evangelisch-katholische Ökumene heute insgesamt?
Meister: Im Frühjahr haben wir als VELKD Kardinal Kurt Koch, den Präfekten des vatikanischen Dikasteriums zur Förderung der Einheit der Christen, ins Kloster Loccum eingeladen. Es ging nicht um einen ökumenischen Durchbruch. Tagzeitengebete strukturierten unseren Tag; er hat die Messe in einer Kapelle gefeiert. Für uns alle war eindrücklich, dass das gemeinsame geistliche Leben an einem solchen Ort uns einander mehr nähergebracht hat, als wir uns das bis dato eingestanden haben. Das wirkte auf die intensiven Dialoge ein, in denen wir uns über Wege zur Kirchengemeinschaft ausgetauscht haben. Ich habe dies als Bereicherung erlebt. Es geht nicht um konfessionsromantischen Kitsch. Im Übrigen bin ich in der unglaublich glücklichen Situation, Landesbischof in Niedersachsen zu sein und mit den katholischen Kollegen, dem Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer und bis vor Kurzem mit dem Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode, in allen Fragen sehr offen und ehrlich sprechen zu können. Wir telefonieren und treffen uns regelmäßig. Wir führen gemeinsame Projekte wie etwa den Christlichen Religionsunterricht in Niedersachsen durch, auch wenn wir wissen, dass dieses Modell momentan nicht auf andere Bundesländer übertragbar ist. Für mich ist das ein fundamentaler ökumenischer Schritt zu mehr Gemeinsamkeit, der uns nicht gleich macht, aber unsere Verantwortung für die Welt unterstreicht: wie wir das, was uns wert und teuer ist, in eine zunehmend säkulare Welt kommunizieren wollen.
Zusammen haben Sie sich auch auf ein Papier zum assistierten Suizid verständigt. Wird das Vorhaben der Bundesregierung, den Paragrafen 218 des Strafgesetzbuches zu diskutieren, jetzt zum ökumenischen Spaltkeil?
Meister: Bisher handelt es sich bei der Positionierung der EKD auch nur um einen Diskussionsentwurf. Wir werden uns auch nicht von heute auf morgen zusammenraufen. Aber wir werden an diese Frage sensibel herangehen und schnell merken, dass die Position, die die EKD skizziert hat, nicht bei allen evangelischen Kollegen eine volle Zustimmung findet – auch bei mir nicht.
Wie viel Sichtbarkeit braucht die Einheit? Was ist Ihre Vorstellung von Kircheneinheit, mit der man über den bisherigen Dissens in ekklesiologischen Fragen hinauskommt?
Meister: Zu besonderen Anlässen ist eucharistische Gastfreundschaft in Niedersachsen möglich geworden. Sie ist nicht die Regel, aber eben auch keine Ausnahme. Das ist doch ein wunderbares Zeichen. In der Meissen-Kommission bin ich zuständig für den evangelischen Dialog mit der Church of England. Auch hier ist es so, dass wir zusammen das Abendmahl austeilen und empfangen können, es aber nicht zusammen einsetzen, weil die vollständige Kirchengemeinschaft fehlt. Und dennoch leben wir fast so, als ob es diese Kirchengemeinschaft schon geben würde, weil wir zusammen Gottesdienst feiern – ganz ähnlich wie mit den Katholiken auch. Man muss immer wieder sehen, wie viel Unglaubliches in den vergangenen fünfzig Jahren schon passiert ist – gerade beim selbstverständlichen Miteinander vor Ort in den Gemeinden. Darauf setze ich meine Hoffnung, dass die gelebte Ökumene uns immer einige Schritte voraus sein wird.