GeistesgeschichteWie Nietzsches Stimme wieder hörbar wurde

Mittlerweile sei das Bild der geldgierigen Elisabeth Förster-Nietzsche, die ihren „geisteskranken Bruder“ vermarktet habe, „einer differenzierteren Einschätzung“ gewichen, erklärt Philipp Felsch in seinem „Nietzsche“-Buch. Tatsächlich aber, meint der Autor, sei es die Schwester gewesen, die dem Publikum – ein Jahr nach dem Tod des Philosophen – mit dem „Willen zur Macht“ (1901) ein völkisch manipuliertes „Hauptwerk“ präsentierte. Deshalb war es geradezu unvermeidbar, so der Kulturwissenschaftler, dass Friedrich Nietzsches Werk mit dem Untergang des „Dritten Reiches“ 1945 einer Damnatio memoriae anheimfiel.

Temporeich und spannend schildert Felsch, warum es ausgerechnet zwei linke italienische Literaturwissenschaftler waren, Giorgio Colli und sein Lieblingsschüler Mazzino Montinari, denen es – als vertrauenswürdigen Antifaschisten und Bündnisgenossen der DDR – gelang, Nietzsche „aus der Kälte“ herauszuholen. Sie erlösten den unzeitgemäßen Denker aus der Katakomben-Existenz des Weimarer Archivs und trugen zur Rehabilitierung seines Denkens bei: durch ihr Lebenswerk einer fünfzehnbändigen wortgetreuen Kritischen Gesamtausgabe (de Gruyter).

„Während unter manchen westdeutschen Nietzscheanern noch immer das Gerücht kursiert, Nietzsches Nachlass sei nach dem Krieg auf einen sowjetischen LKW verladen worden“ und in Moskau gelandet, macht sich Montinari im April 1961 auf den Weg. „‚Diese Reise nach Weimar ist vielleicht das wichtigste Ereignis meines Lebens‘, schreibt er wenige Tage später an Colli.“ In den folgenden knapp zwei Jahrzehnten berichtet er regelmäßig aus seiner Textwerkstatt und verfällt dabei einer geradezu obsessiven Suche nach philologischer Genauigkeit.

Mit ihrer Buchstabentreue, so Felsch, vollbrachten die nur noch als Colli/Montinari zitierten Herausgeber der Gesamtausgabe eine gewaltige Vorleistung für die Forschung. Sie ließen sich dabei von der Idee leiten: Ohne die Wiederherstellung von Friedrich Nietzsches Text-Welt sei überhaupt kein angemessenes Verständnis unseres Zeitalters möglich; sie machten die Stimme des Philosophen wieder hörbar. Felsch hat recht: Das bleibt „eine philologische Großtat“. Thomas Brose

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Philipp Felsch

Wie Nietzsche aus der Kälte kamGeschichte einer Rettung

C.H. Beck, München 2022. 287 S. 26,00 € (D)