Kritische Beobachtungen zu Dorothee SölleDer Triumph des Homo Faber

Die Theologie Dorothee Sölles legt Heil und Rettung in die Hände der Menschen, die die Welt gestalten wollen. Doch sie bietet keine Hoffnung für die Opfer der Geschichte und keinen Trost für diejenigen, die das Leben nicht belohnt hat.

Mehrere Hände
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Der Theologin Dorothee Sölle bin ich nur einmal persönlich begegnet. Es waren die wilden Jahre des beginnenden kirchlichen Privatrundfunks, als ich sie als junger Theologiestudent mit journalistischem Interesse für ein kleines Feature interviewte. Über eine Stunde lang hatte sie im rappelvollen Reutlinger Alber-Haus die Zuhörerinnen und Zuhörer in ihren Bann gezogen. Hoch konzentriert und zugleich weltläufig in ihren Ausführungen, theologisch kreativ und doch auch rhetorisch unerbittlich hart in der Diktion, persönlich so zerbrechlich hinter einem großen Pult stehend, war sie eine tief beeindruckende Erscheinung. Nur weil ich mich als Theologe outete, ließ sie sich auf diesen Menschen vom Privatradio ein.

Im Theologiestudium in Tübingen spielte ihre Theologie keine Rolle. Aber als ich 1984 in die USA ging, galt sie dort als große deutsche Gegenwartstheologin. Ihre Texte waren auf vielen reading lists. Als junger Student aus Deutschland galt ich ungefragt als vermeintlicher Experte ihrer Theologie. So begann meine Lektüre und die Auseinandersetzung mit ihrer Theologie und deren Entwicklung.

Nach der Rückkehr nach Deutschland fiel mir immer wieder auf, dass die Theologie Dorothee Sölles bedauerlicherweise entweder unkritisch bewundernd nachgesprochen oder schlicht aktiv beschwiegen wird. Selten wird das inhaltlich kritische Gespräch mit ihr gesucht.

Dorothee Sölle gehört zu den systematischen Theologen, für die Auschwitz als kultureller Epochenbruch zugleich eine Schwelle darstellt, die ein neues Theologisieren erfordert. Darin ist ihr unbedingt zuzustimmen. Obwohl die Fragen nach dem Leiden der Menschen und der Gerechtigkeit Gottes in der Geschichte eine Daueraktualität haben, erfuhren sie für die Theologie eine ungeahnte Zuspitzung durch den Holocaust.

Theodizee oder Anthropodizee?

Dorothee Sölle stellt für die Situation nach dem Holocaust lapidar fest: „Kein Himmel kann so etwas wie Auschwitz wiedergutmachen“ (Leiden, Stuttgart 1973, 182f.). Das auf diesem ihrem Befund aufbauende Programm eines „Atheistisch an Gott glauben“ (Olten 1968) bekennt den Glauben als ein Leben, „das ohne die supranaturale, überweltliche Vorstellung eines himmlischen Wesens auskommt, ohne die Beruhigung und den Trost, den eine solche Vorstellung schenken kann“ (79). Die „Welt mit den Augen Gottes ansehen“ ist dann der mystische Ausdruck für einen Blick der Liebe auf das Elend dieser Welt. Auch für den atheistischen Glauben Sölles lebt Christus in den Passionen der Völker. Er ist auferstanden in die Geschichte aller Menschen in deren Kampf gegen Unterdrückung. Christus ist es, der, so Sölle, zum Glauben verlockt, weil eben dieser Mensch die Macht machtloser Liebe gezeigt hat.

Dieser Verzicht auf eine göttliche Entität jenseits der Welt führt, so Sölle, zu einem neuen Zugang zum Menschen – sowohl seines Leidens als auch seines Protestes und seiner Solidarität. Ohne jegliches „überweltlich Rettendes“ (87) gilt das vielzitierte Diktum: „Gott hat keine anderen Hände als unsere Hände.“ Man könnte auch formulieren: „Wir sind unter uns.“ Die Frage ist: Kann dies die einzige theologisch verantwortliche Konsequenz aus Auschwitz sein?

Dieser Protest-Atheismus, der manche Religionskritik des 19. Jahrhunderts bewusst oder unbewusst aufnimmt und gezielt die Barbareien des 20. Jahrhunderts ins Auge fasst, hat eine eigentümliche Rückseite. Dem Scheitern des für tot erklärten Gottes als Herrn und Lenker der Geschichte stehen, so das von Sölle mit Verve vorgetragene Programm, Menschen gegenüber, die als mündige Subjekte eine Befreiungsgeschichte, eine Geschichte der Solidarität und der Liebe anstoßen und ausbreiten können.

Wie auch immer man zu dem machtvollen Herrn der Geschichte Sölles steht – und ich denke, man muss diese Konzeption da kritisieren, wo es sie tatsächlich gab –, die vorgeschlagene Alternative eines Umbaus in eine optimistische Anthropologie ist mit vielen Fragezeichen zu versehen. Es sind doch die gleichen Geschichten, die die Allmacht Gottes infrage stellen, die dann vollständig in die Verantwortung des Menschen fallen.

Sind es nicht die als Weltverbesserungsprojekte begonnenen Barbareien des 20. Jahrhunderts, die Fragen an das Gutsein des Menschen stellen lassen? Begründet nicht der betont atheistische Blick auf die Geschichte(n) trotz aller Inseln der Mitmenschlichkeit, Liebe und Solidarität eine tief pessimistische Anthropologie? Der Optimismus des Aktivismus zugunsten von Gerechtigkeit auf den großen Leinwänden der Geschichte ist – zugespitzt formuliert – so wenig plausibel wie der von Sölle verabschiedete Gott der Metaphysik. Nicht nur das Scheitern der Theodizee ist eine Klippe, an der die Theologie zu zerschellen droht. Angesichts der Dummheit, der Bosheit, der Gewaltbereitschaft, des Vernichtungswillens und nicht zuletzt der Illusionsbereitschaft der Menschen ist auch das Scheitern der Anthropodizee eine Klippe. Es gilt immer noch der realistische Befund aus Genesis 6,12: Gewalt in allem Fleisch. Warum sollte man bei einem radikal atheistischen Blick auf die Geschichte (bei dem auch der Mann aus Nazareth nicht mehr ist als eine kleine Insel der Humanität und Liebe) nicht aus einem tiefen Pessimismus heraus zu dem Schluss kommen, dass eine an Friedrich Nietzsche angelehnte Philosophie der Selbstbehauptung des starken Lebens letztendlich realistisch ist? Kurz: Zwischen einem Theismus, der an der Theodizee scheitert, und einem aktivistischen theologischen Atheismus, der an der Anthropodizee scheitert, besteht zumindest ein Patt.

Die immanente Transzendenz des Lebens

Das besondere Profil Dorothee Sölles innerhalb der theologischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts tritt plastisch hervor, wenn man in ihrer pointiert atheistischen Theologie nicht eine Verabschiedung, sondern einen Umbau der Transzendenz sieht. Die Verabschiedung der Transzendenz eines Gottes, der der Welt nicht nur, aber auch gegenübersteht, geht einher mit der Einführung einer, in meinen Worten formuliert, in Bildern der Mystik fassbaren Transzendenz des Lebens.

Schon in frühen Texten Dorothee Sölles finden sich Andeutungen eines dem eigenen Leben gegenüber transzendenten Gesamtzusammenhangs, der in seiner radikalen Diesseitigkeit doch religiös aufgeladen ist. Es ist diese immanente Transzendenz, die dann in Dorothee Sölles Schöpfungstheologie nicht zuletzt durch die Aufnahme prozesstheologischer Impulse zu einer Theologie des Lebens ausgebaut wird. „Die Teilhabe am Gesamtzusammenhang“ (89), so die noch vage, frühe Formulierung, lässt auch in Ohnmacht und Resignation das eigene Leben überschreiten. Die prozesstheologische Inspiration mit ökofeministischen Einsichten verwebend, geht es Sölle darum, in der Schöpfung, und hier in so partikularen Erfahrungen wie der eines blühenden Magnolienstrauches, eine „Ganzheit des Lebens“ (Lieben und Arbeiten, München 1984, 12) zu erkennen und die Einsicht zu gewinnen: „die Erde ist heilig“ (13). Eine theistisch-christliche Frömmigkeit wird so ersetzt durch eine „Spiritualität der ganzen Erde“ (16).

Im Zuge der Kritik einer leibfeindlichen Theologie wird dann für Sölle die „Sexualität (…) ein Sakrament“ (206) des Lebens und „zum Zeichen der Gnade Gottes“ (208), indem eben die Liebe in besonderer Weise innerhalb der Dimensionen des geschöpflichen Lebens erfahren wird. Zu dieser Schöpfungsfrömmigkeit, die die Schöpfung „aus der Perspektive der Zärtlichkeit und nicht der Herrschaft sieht“ (37), gehört auch eine positive Aufwertung des Todes. „So können wir unser kleines Dasein als Teil des großen Seins verstehen, in das wir zurückkehren werden: als Schwester zur Schwester Tod, als Kind zur Mutter Erde, als Bruder zum Bruder Sonne, als Tropfen zu den großen Wassern und als Flamme ins Licht“ (232).

Überzeugt jedoch dieser Blick auf die Schöpfung in ihrer naturalen Seite? Nicht nur nach der Corona-Pandemie erstaunt die intensiv romantische Grundierung dieser Schöpfungsspiritualität. Nicht nur der Blick auf das im ersten Kapitel der Genesis entfaltete Drama der Schöpfung entfällt. Auch der theologische Blick in die Welt Charles Darwins wird nicht gewagt. Ist der Himmel weggewischt und die Erlösung in die Praxis der Befreiung verschoben, so kann eine kosmische Erlösung auch der Natur gar nicht mehr gedacht werden. In Dorothee Sölles theologischer Welt wären dies Kinderträume, infantile Vorstellungen einer göttlichen Zaubermacht. Es könnte aber auch umgekehrt so sein, dass es just der Ausfall einer Neuschöpfung von Himmel und Erde ist, der den so nüchternen wie notwendigen Blick auf die Schatten- und Nachtseiten der Schöpfung, konkret die Konstellationen des Kampfes und der Gewalt in der Natur, sich nicht zugestehen kann. Was wäre gewesen, wenn neben die Betrachtung eines Magnolienstrauches ein Gang über eine Kinderonkologie-Station getreten wäre?

An wen soll sich die Klage richten?

Gibt es für die Totenfelder der Geschichte, für die Verlierer, die von keiner rettenden menschlichen Solidarität noch erreicht werden können, eine letzte Hoffnung? Gibt es für die Opfer lebenszerstörender Prozesse, die von Krankheit zerstörten Leben eine Hoffnung einer kommenden Gerechtigkeit?

Können Juden und Christen, nicht für sich selbst, sondern für diese vielen für uns namenlosen Opfer, noch radikal hoffen? Die jüdischen Marxisten Walter Benjamin und Theodor Adorno meinten, dies tun zu müssen. Kann eine solche Hoffnung auf eine machtvolle Rettung und Erlösung der unschuldigen Opfer mit dem Stempel „infantiles Trostbedürfnis“ versehen werden (Sölle, Das Fenster der Verwundbarkeit, München 1987, 98)? Dokumentiert sich in der Hoffnung auf einen solchen eschatologischen Machterweis tatsächlich eine „Verleugnung der eigenen Stärke“ (101)?

Für die toten Gewaltopfer kann und darf es in Sölles Theologie keine Hoffnung geben – außer in der prozesstheologischen Vorstellung eines Aufgehens in einer irgendwie gedachten Allverbundenheit und Alleinheit. Die berechtigte Zurückweisung eines Trostes ohne Gerechtigkeit verliert am Ende beides: eine eschatologische Gerechtigkeit und einen Trost jenseits menschlicher Möglichkeiten, der dafür die Erinnerung wachhält (Johann Baptist Metz). Sind die Hoffnungen auf einen eschatologischen Machterweis Gottes, die tief in jüdische und christliche Traditionen eingeschrieben sind, tatsächlich „phallokratische Phantasien“ (78)? Hier gilt es zu widersprechen.

Die bewusst atheistische Theologie Sölles hat mit dieser radikalen Theologie der Immanenz der Transzendenz auch die Adresse für die Klage verloren. Mit der Adresse der Klage geht sie gleichzeitig der Verlängerung der Klage in das Eschaton verlustig (Ottmar Fuchs). Ein „Vertrauen in den Bruder Tod“ (104) dürfte in Wahrheit eine manifeste Trostlosigkeit dokumentieren.

Dieser Verzicht auf einzuklagende und auszustehende Möglichkeiten Gottes hat einen Preis: Diese politische Theologie muss, so meine Beobachtung, geradezu zwangsläufig ihre eigenen Möglichkeiten überschätzen, die Gefahr der Selbstillusionierung unterschätzen und dann den Schatten ihrer Misserfolge leugnen. Unbeabsichtigte Konsequenzen des eigenen Handelns dürfen nicht wahrgenommen werden. Doch die wirkliche politische Welt ist, bildlich gesprochen, voller verlassener Baustellen dieser politischen Theologie. Wer demonstriert heute auf Kirchentagen gegen (!) den ehemaligen nicaraguanischen Revolutionär und heutigen Diktator Daniel Ortega, der in den letzten Jahren 500 Demonstranten erschießen ließ? Wer fordert von der südafrikanischen ANC-Regierung die Aufklärung des Marikana-Massakers im August 2012? Wer demonstriert gegen die Korruption im ANC in der gegenwärtigen Stromkrise Südafrikas, welche die Ärmsten am meisten trifft?

Eine Theologie für die Starken

In ihrem Kern enthält die Theologie Dorothee Sölles, so die hier vertretene These, eine eigentümliche Paradoxie. Auf der einen Seite, sozusagen auf der „Frontstage“, steht die Betonung einer Verletzlichkeit, die Hervorhebung der Macht der Machtlosigkeit und die Akzentuierung der Kraft der riskanten Liebe.

Auf der anderen Seite gibt es eine „Backstage“, auf der sich etwas ganz anderes findet. Dort findet sich tatsächlich eine Theologie für die Starken, die Erfolgreichen und die wahrhaft Lebendigen, eben für die Sieger in der Geschichte. Es sind von Anfang an die Starken, die als moralische und politische homines fabri für Gerechtigkeit zu kämpfen in der Lage sind. Es sind die, die vom Leben belohnt wurden, die die Mutter Erde nicht zur Unzeit verschlungen hat. Diese Theologie ist für diejenigen, deren Leben ausstrahlungsreich war und in anderen Leben weiterlebt. Was aber das Leben auf der heiligen Erde nicht gegeben hat, kann auch kein Gott mehr geben und keine Klage aufrufen.

Ist die Eschatologie als Kindertraum von reifen spirituellen Heroen entsorgt, so wird die biologische und politische Weltgeschichte letztlich zum Weltgericht. Die von Sölle ins Auge gefassten Mitstreiter sind keine direkten Erben der metaphysischen Gottesprädikate. Und doch liegt nun alles in ihren Händen. So bietet diese Theologie in aller Kritik technologischer Machbarkeitsphantasien in letzter Konsequenz einen Triumph des moralischen und aktivistischen Homo Faber.

Es ist ein tatkräftiger, aber heroische Menschen fordernder Glaube, der in der von Sölle geforderten Entschiedenheit in dieser Welt für die Liebe kämpft. Eine Theologie, die die Klage als Keim der Hoffnung erkennt und nicht ohne Chuzpe mit einer Adresse für diese Gestalt des Protestes rechnet, dürfte an Verletzlichkeit, an einem tastenden Glauben, in einem Streben nach Gerechtigkeit und schließlich an einer Sensibilität für das Seufzen der Schöpfung den Vorschlägen Dorothee Sölles in nichts nachstehen. Weil wir des Trostes einer rettenden Transzendenz bedürfen und keine trostlosen Heroen sein müssen, sollen wir als Christen werden wie die Kinder (Mt 18,3). Das ist die befreiende Zumutung des Evangeliums.

 

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