Präventionsprogramme gegen VerschwörungstheorienMit Wissen gegen die Angst

Verschwörungserzählungen stellen eine Gefahr für die Demokratie dar, der mit gesellschaftspolitischen Aufklärungs- und Präventionsprogrammen begegnet wird. Warum wird die kirchliche Sekten- und Weltanschauungsarbeit weniger gehört?

Bücherregal
© Pixabay

Derzeit florieren Verschwörungstheorien. In einer komplexen und vielfach unverständlichen Welt hat die Vorstellung, dass geheimnisvolle Machthaber die Geschicke der Menschheit in den Abgrund lenken, um daraus Vorteile zu ziehen, erstaunlich viele Anhänger gewonnen. Verschwörungserzählungen liefern Erklärungen für scheinbar Unerklärliches und stellen damit in Aussicht, die Realität zu durchschauen und in einer Krise wirksame Bewältigungsstrategien liefern zu können. Allerdings wird damit ein Abgleiten in gedankliche Parallelwelten in Kauf genommen, Feindbilder werden aufgebaut und öffentlichen Institutionen wird misstraut. Das isoliert ihre Anhänger zunehmend gegenüber Personen außerhalb dieser Gedankengebäude und Vernetzungen.

Wissen kann Aberglauben entlarven

Als Ausdruck heterogener sozialer Bewegungen können Verschwörungstheorien als Auswucherung politischer Radikalisierung beschrieben werden, deren Motivation auf einseitig verzerrten Glaubensüberzeugungen gründet. Solche Gedankengebäude haben neben rechtsextremistischen, islamistischen und antisemitischen Überzeugungen an Einfluss gewonnen und bedrohen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. Die spektakulären Festnahmen von Mitgliedern der Reichsbürgerbewegung im Advent 2022 haben auf erschreckende Weise ans Licht gebracht, dass sich manche Bürgerinnen und Bürger von Verschwörungserzählungen zu kriminellen Taten treiben lassen.

In den letzten Jahren zählte der Kampf gegen islamistischen Terrorismus zweifellos zu den großen innenpolitischen Themen. Dabei spielte die Prävention gegen die islamistische Radikalisierung Jugendlicher eine wichtige Rolle. Beispielsweise haben Bund, Länder und Kommunen im Jahr 2019 in den großen Bundesprogrammen „Demokratie leben!“ und „Nationales Präventionsprogramm“ jeweils einen dreistelligen Millionenbetrag zur Förderung von Präventionsprojekten aufgewendet. Staatlicherseits versucht man, religiös-ideologischer Radikalisierung mit zahlreichen Informations- und Beratungsangeboten zu begegnen. Das ist unverzichtbar, denn Wissen kann Aberglauben entlarven. Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) hält deshalb eine große Auswahl an kostenlosen Materialien zum Thema Verschwörungstheorien bereit.

In gewisser Hinsicht variiert der Verschwörungsglaube ein einseitig verzerrtes Weltbild, das Ähnlichkeiten zum religiösen Fundamentalismus aufweist. Wenn religiöse Eiferer etwa ihre gesamte Freizeit der Mission Ungläubiger widmen aus Angst, sonst von Gott bestraft zu werden, sind einzelne Bibelverse ohne theologische Reflexion und Einordnung aus dem Zusammenhang gerissen worden und können von Gruppenleitern als Druckmittel verwendet werden. Ohne Zweifel berichtet die Bibel von einem richtenden Gott. Viel häufiger aber ist die Rede von einer liebevollen Schöpferkraft und einem barmherzigen Vater. Auch Verschwörungstheorien haben oft einen wahren Kern. Aber ihre Anhänger verknüpfen Details fehlerhaft und gelangen zu falschen Schlüssen.

Psychologisch gesehen kommen religiöse Eiferer und Anhänger von Verschwörungstheorien schlecht mit Ambivalenzen und Unsicherheiten zurecht. Die stark vereinfachende Unterteilung der Welt in eine breite Masse Unwissender und eine elitäre Gruppe Verschworener, die im Geheimen das Weltgeschehen zum eigenen Nutzen steuert, bietet Betroffenen ein Feindbild, gegen das zu kämpfen wichtig erscheint. Es ist eine Mischung aus Macht- und Kontrollverlust im eigenen Leben und aus dem Wunsch nach einfachen und klaren Ordnungen, die Menschen dazu neigen lässt, sich einer radikalen religiösen Gruppe anzuschließen oder Verschwörungstheorien zu glauben. Einzelne neureligiöse Gruppen wie Scientology haben sogar Verschwörungserzählungen in ihre Lehre integriert (siehe Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands [Hg.], Verschwörungsmythen und Verschwörungsglaube. Hannover 2021, digital verfügbar unter www.velkd.de).

Einige Bundesländer unterstützen Projekte, die vor allem Angehörigen von religiös-fundamentalistischen Gruppen und Verschwörungsgläubigen Unterstützung anbieten.

Neben Beratungsstellen, die aus dem Zusammenschluss zivilgesellschaftlicher Vereine und staatlicher Institutionen entstanden sind, gibt es drei staatlich mitfinanzierte „Sekteninfos“ in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Berlin. Diese drei Anlaufstellen haben spezialisierte Beratungsformate und Präventionsangebote entwickelt, die sowohl Verschwörungs- als auch religiöse Ideologien kritisch untersuchen. Sie beraten Betroffene von christlichem Fundamentalismus, esoterischen Geistheilern und psychospirituellen Seminarangeboten – und neuerdings auch von Verschwörungserzählungen. Das ergibt Sinn, weil sich die Gruppendynamik, die Feindbildschemata und die Erlösungsvorstellungen ähneln, auch wenn die sozialen Milieus und Weltbilder weit auseinanderliegen.

Die Anlaufstellen nutzen die zum Teil jahrzehntealten Erfahrungen in der Sektenberatung von Betroffenen von Verschwörungsdenken. In der Regel verfügt das Mitarbeiterteam über religionskundliches Hintergrundwissen, um bedrohliche Erzählungen zu entmythologisieren. Zum anderen zeigt die Erfahrung, dass bei angeblich weltanschaulichen Konflikten häufig eine psychosoziale Krise im Hintergrund steht. Ein „Sektenkonflikt“ entpuppt sich als fehlende Ablösung in einer Eltern-Kind-Beziehung oder als Sorgerechtsstreit in einer gescheiterten Ehe. Die „Sekte“ wird vorgeschoben, um die nötige Beziehungsklärung zu vermeiden. Aufmerksames Hinhören und Nachfragen kann helfen, das psychospirituelle Knäuel zu entwirren und einen roten Faden zur Lösung zu finden.

Die kirchliche Beratungsarbeit zu Weltanschauungsfragen wurde früher häufig von staatlichen Stellen in Anspruch genommen, da sie im Lauf der Jahre eine hohe Expertise im Umgang mit Betroffenen destruktiver Kulte und von deren Angehörigen entwickelt hat. Vor 30 Jahren hat etwa das Familienministerium in Zusammenarbeit mit der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (BKE) zu einer Tagung über „Beratung im Umfeld von Jugendreligionen“ eingeladen, deren Beiträge in einem renommierten Psychologie-Verlag publiziert wurden (Susanne Messner, Walter-Karl Pfeifer, Matthias Weber [Hg.], Beratung im Umfeld von Jugendreligionen, Göttingen 1984).

Neben Universitätsprofessoren, Referentinnen und Referenten der Erziehungsberatung und dem Vertreter einer Elterninitiative kamen auch kirchliche Beauftragte für Sekten- und Weltanschauungsfragen zu Wort. Der kirchliche Erfahrungsschatz bei den damals verbreiteten „Jugendreligionen“ stand außer Frage und wurde dankbar aufgegriffen, um die Entstehung und Verbreitung dieser Gruppenbewegung besser zu verstehen und angemessene Beratungsansätze für Kult-Betroffene und deren Angehörige zu entwickeln. Auch in der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“, deren Endbericht vom Deutschen Bundestag 1998 veröffentlicht wurde, haben kirchliche Experten intensiv mitgearbeitet und ihre Erfahrungen im Umgang mit manipulativen religiösen und weltanschaulichen Gruppen eingebracht.

Kirchen nur noch „Subkultur“?

Heute dagegen werden kirchliche Fachleute, die zum Thema religiöser Fundamentalismus oder Radikalisierung arbeiten und umfangreiche religionssensible Beratungsarbeit vor Ort leisten, von Politik und Gesellschaft selten zurate gezogen. Warum? Ursache dafür könnte der Bedeutungsverlust der Kirchen sein, den etwa der Religionsmonitor 2023 eindrücklich dokumentiert (vgl. HK, Februar 2022, 6). In einem Interview mit „Psychologie Heute“ (Nr. 1/2023, 44) charakterisiert der Religionspsychologe Sebastian Murken die Kirchen als eine „Subkultur“, die keine gemeinsame gesellschaftliche Klammer mehr darstelle. Der Anspruch, für die Gesellschaft als Ganzes zu stehen, sei nicht mehr gegeben.

Neben dem gesellschaftlichen Relevanzverlust der Kirchen wird kirchlichen Experten womöglich auch misstraut, weil manche Außenstehende den christlichen Glauben eng mit Begriffen wie Sünde, Endgericht und Hölle verbinden oder ihn gar mit einer Verschwörungserzählung verwechseln. Manche Experten vermuten sogar, dass religiöse Menschen oder Personen mit einem Hang zu Esoterik und Spiritualismus einen größeren Hang hin zu Verschwörungstheorien aufweisen. Tatsächlich haben manche christliche Randgruppen die Erzählung von einem unerbittlichen und strafenden Richtergott in ihrer Lehre zu einer wirkmächtigen apokalyptischen Drohkulisse komponiert, die alle Merkmale einer Verschwörungstheorie aufweist: absoluter Wahrheitsanspruch, dualistisches Weltbild (gut/böse), Errettung von wenigen Auserwählten und weiteres mehr.

Entspricht aber die christliche Lehre von Schöpfung, Sünde und Erlösung einer Verschwörungserzählung? In einem aktuellen Aufsatz der „Zeitschrift für Religionswissenschaft“ (Nr. 30/2 [2022], 321–366) vergleicht der Religionswissenschaftler Stefan Heep die Denkform des Verschwörungsglaubens mit religiösem Glauben. Als Ergebnis hält er fest, dass der christliche Glaube im Laufe seiner Geschichte Merkmale des Verschwörungsglaubens aufgezeigt habe. In einer fundamentalistischen Lesart könne der Glauben dazu dienen, Angst, Schuldgefühle und Misstrauen zu schüren, Feinde des eigenen Glaubens zu hassen und Gewalt zu rechtfertigen. Ein derartiger religiöser Verschwörungsglaube führe zu einer erheblichen Wirklichkeitsverzerrung bis hin zur Wirklichkeitsleugnung. Zudem sei die „Erlösung“, die ein solcher Verschwörungsglaube spende, nicht nachhaltig – Hass und Gewalt müssten sich immer wieder aufladen, um das Gefühl der Erlösung zu erhalten. Letztlich sei er ein misslungener Selbstheilungsversuch.

Demgegenüber könne ein reflektierter Glaube zur Selbsttranszendenz führen. In ihr werde sich der Mensch seiner „biologisch angelegten Prosozialität“ bewusst, nämlich dass er auf seine Mitmenschen, die ihm gleiche Wesen sind, angewiesen sei. Solche Selbsttranszendenz begründe nachhaltigen Lebenssinn und mache gegen Verschwörungsglauben resilient.

Auch wenn es in der Geschichte des Christentums verschwörungstheoretisch begründete Splittergruppen gab und gibt, entspricht christlicher Glaube nicht einem Verschwörungsdenken. Sicher, gemessen an einer rein naturwissenschaftlich-technischen Sicht bietet auch die Religion einen „alternativen“ Zugang zur Wirklichkeit. Allerdings richtet sie sich auf „Gott als Geheimnis der Welt“ (Eberhard Jüngel), nicht auf mysteriöse Netzwerke und geheimnisvolle Hinterwelten. Weiterhin eröffnet der Glaube einen positiven Zugang zu Gottes guter Schöpfung. Dieser alltagsprägende Glaube hat nicht vor dem drohenden Richter Angst, sondern freut sich an der Entdeckung und Begegnung mit seinen Wohltaten. Eine reflektierte Theologie stellt die Menschenfreundlichkeit Gottes ins Zentrum.

Die psychosoziale Beratungsarbeit im Umfeld religiöser Radikalisierung und des Verschwörungsdenkens kann auch heute von theologisch geschulten kirchlichen Expertinnen und Experten profitieren. Diese Expertise füllt eine Lücke, weil die meisten Projektmitarbeiter auf dem weiten Feld des religiös begründeten Extremismus und des Verschwörungsdenkens zwar meist über hohe psychosoziale Fähigkeiten und Ausbildungen verfügen, aber nur geringe religionskundliche und theologisch-seelsorgliche Kompetenzen und Erfahrungen haben.

Anzeige: Geschichte der Päpste seit 1800. Von Jörg Ernesti

Die Herder Korrespondenz im Abo

Die Herder Korrespondenz berichtet über aktuelle Themen aus Kirche, Theologie und Religion sowie ihrem jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld. 

Zum Kennenlernen: 2 Ausgaben gratis

Jetzt testen