Die derzeit viel diskutierten Staatsleistungen sind das beste Beispiel: Offensichtlich ist Bewegung in das Verhältnis von Staat und Kirche gekommen. Auch wenn Anne Gidion, die Bevollmächtigte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), zuletzt in einem Interview zu Recht davor gewarnt hat, der Ampelkoalition eine per se kirchenfeindliche Agenda zu unterstellen: Der Koalitionsvertrag, der beispielsweise die seit Jahrzehnten überfällige Ablösung der Staatsleistungen endlich angehen will, beweist, dass Religionspolitik ein intensiv beackertes Thema ist.
Das gilt gerade angesichts der Situation der Kirchen, die durch abnehmende Resonanz auf ihre Botschaft, Glaubwürdigkeitsprobleme und stark sinkende Mitgliederzahlen geschwächt sind. Denn einerseits erhöht der Wegfall früherer Selbstverständlichkeiten den Regelungsbedarf, andererseits wissen gerade Politiker von Bund, Ländern und Kommunen nur zu gut, wie wichtig die Kirchen für ein funktionierendes Gemeinwesen sind.
Das gilt auch, aber längst nicht nur für die schwierige Diskussion über für das gesellschaftliche Zusammenleben wichtige Werte, sondern ganz konkret auch für karitatives und anderes zivilgesellschaftliches Engagement, nicht zuletzt durch zahlreiche Ehrenamtliche. Auf der anderen Seite sind viele Neujustierungen notwendig, weil durch die Migration der Islam als Religion in Deutschland zunehmend ins Blickfeld geraten ist, aber auch das Christentum weniger denn je auf die Varianten evangelisch oder katholisch reduziert werden darf. Pluralisierung und Individualisierung tun ihr Übriges, sodass das Feld von Religionen und Weltanschauungen insgesamt komplexer wird.
Unterschiedlichste Kontexte
Die Komplexität betrifft auch die Akteure. Bei den Staatsleistungen etwa wird zwar auf Bundesebene über ein Ablösegesetz, das sogenannte Grundsätzegesetz, diskutiert, das vom Bundestag beschlossen werden müsste. Auch bei vielen anderen Politikfeldern in Berlin sind Belange der Kirchen und anderer Religionsgemeinschaften tangiert. Letztlich jedoch sind die allermeisten Fragen der Beziehung zum Staat aufgrund des Föderalismus Ländersache: Das gilt für die Staatsleistungen als Ausgleich für die Säkularisierung von Kircheneigentum, aber auch für den Religionsunterricht als Teil der Bildungs- und für die theologischen Fakultäten als Teil der Hochschulpolitik, oder etwa für die Kategorialseelsorge bei Militär, Polizei und in Gefängnissen als weitere klassische Res-Mixtae-Themen. Je nach historischer Prägung und politischen Machtverhältnissen gibt es in den Ländern unterschiedliche Kontexte, die nicht ohne Weiteres in Einklang zu bringen sind.
Gerade aufgrund der Trennung von Staat und Kirche in Deutschland auf der einen und auf der anderen Seite dem Wesen von Religion, das im Kern aufgrund der Gewissensfreiheit politischem Handeln entzogen ist, ist es gar nicht selbstverständlich, von Religionspolitik zu reden. Der Chef der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf, Nathanael Liminski, forderte jüngst bei den Essener Gesprächen in der Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“ dazu auf, sie aus der „Schmuddelecke“ zu holen. Sie sei zu lange verpönt gewesen, weil man sie mit autokratischen Systemen verbunden habe – im Sinne einer staatlichen Einflussnahme oder gar einer Beschränkung religiöser Freiheit. Gleichwohl handele es sich um kein gewöhnliches Politikfeld, das nicht von Parteiinteressen dominiert werden dürfe. Wichtigster Grundsatz sei in Deutschland die Achtung der Trennung von Staat und Kirche beziehungsweise Religion.
Tatsächlich kann es bei der Religionspolitik immer nur um einen institutionellen Rahmen gehen. Da der Regelungsbedarf jedoch enorm ist, ist das Feld gleichwohl aufgespannt. Diese Komplexität von Religionspolitik als zunehmend selbstverständlich verwendeter Begriff stand dieses Jahr denn auch im Mittelpunkt der Essener Gespräche – jenem Veranstaltungsformat, das ursprünglich vor allem Staatskirchenrechtlern und anderen Juristen galt, das sich in den vergangenen Jahren aber breiter aufgestellt hat.
Anders als bei der Gesundheits- oder der Umweltpolitik geht es eben nicht einfach um einen mehr oder weniger klar umrissenen Politikbereich – bezeichnenderweise gibt es im Bundestag keinen religionspolitischen Ausschuss. Das zeigte am anschaulichsten der Münsteraner Rechtswissenschaftler Janbernd Oebbecke auf. Religionspolitische Akteure hätten sehr unterschiedliche Interessen und Motive, die sie nicht unbedingt offenlegten. Politiker könnten Handlungen eine religionspolitische Bedeutung geben, welche ihnen von Haus aus nicht unbedingt zukomme. Oft genug werde etwas, was ohnehin geschehe, symbolpolitisch aufgeladen. Ob etwas religionspolitisch verstanden werde, sei dann bereits eine religionspolitische Entscheidung, so Oebbecke. Dabei reagierten religionspolitische Akteure „gelegentlich reflexhaft auf bestimmte Reize“, wie er am Beispiel des Kreuzes in der Öffentlichkeit ausführte. Wer hier die ersten Akzente setze, bestimme oft genug den Diskurs.
Und offenkundig mit Blick auf die Kirchen und Religionsgemeinschaften fügte Oebbecke hinzu: „Gehören einer Einheit, die für ihr politisches Handeln auf Geschlossenheit und Glaubwürdigkeit angewiesen ist, mehrere potenzielle Akteure an, kann jeder von ihnen mit politischer Wirkung für die ganze Einheit handeln. Solche Einheiten sind deshalb für Alleingänge anfällig.“ Umgekehrt führe das Anstreben von Einmütigkeit dazu, dass im Erfolgsfall vielfach alles beim Alten bleibt.
Selbstkritisch mahnte der Präsident des Kirchenamtes der EKD in Hannover, Hans Ulrich Anke, die Kirchen zur Zurückhaltung bei der Einforderung von Sonderrechten: „Aus kirchlicher Sicht sollte noch selbstverständlicher werden, dass abweichende Gestaltungen von üblichen Mustern nur dort angezeigt sind, wo es dafür gute kirchenspezifische Gründe gibt“, so Anke, nicht nur mit Blick auf das Arbeitsrecht. Dann gebe es für sie auch neue Möglichkeiten. Denn die öffentlichen Haushalte dürften umgekehrt nicht „offen oder verdeckt staatliche beziehungsweise kommunale Träger gegenüber kirchlichen, diakonischen und karitativen tendenziell bevorzugen“, weil das den freiheitlichen Anforderungen des Subsidiaritätsprinzips nicht gerecht werde. Warum, so die Rückfrage, verzichte man bei vielen Diskussionen wie um den Paragrafen 218 des Strafgesetzbuches auf die erfahrungsgesättigte Perspektive der Kirche? Auch in anderen Fragen hätte sie aufgrund eigener Expertise viel zum gesellschaftlichen Diskurs beizutragen. In diesem Sinne, so eine mehrfach erhobene Forderung, müsse Religionspolitik auch mehr als „Grundrechtsoptimierung“ (Hans Michael Heinig) sein, als ob lediglich gelte, bestmögliche Bedingungen für die Religionsfreiheit in diesem Land zu schaffen.
Braucht es mehr Vernetzung?
Schon das Grundgesetz hat sich nicht auf das Christentum festgelegt, sondern behält die Breite von Religiosität im Blick. Der wohl größte Knackpunkt bleibt in diesem Zusammenhang die schwierige Frage nach der Repräsentanz der Millionen muslimischer Gläubige in diesem Land. Die Kriterien für die Anerkennung als Religionsgemeinschaft sind weiterhin nicht eindeutig genug; Muslime dürften sich nicht mit einem „Körperschaftsstatus light“ (Heinrich de Wall) zufriedengeben. Ganz ähnlich forderte Dagmar Mensink, Referentin zur Koordinierung religionspolitischer Grundsatzfragen in der Staatskanzlei von Rheinland-Pfalz in Mainz: „Damit hinzukommende Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ihre verfassungsmäßigen Rechte auch tatsächlich geltend machen können, müssen die Bedingungen für eine Kooperation mit dem Staat etwa beim Religionsunterricht transparent, vermittelbar und für die Verwaltung handhabbar formuliert werden.“
Angelika Günzel, Leiterin des Militärrabbinats in Berlin, insistierte mit Blick auf das Judentum, dass das Argument der (kleinen) Zahl nicht in jedem Fall zum Zuge kommen dürfe – auch wenn das System bei immer mehr Minderheiten an Grenzen stoße, was nicht nur für die Organisation von Religionsunterricht gilt. Dass im Fall des Judentums besondere Umstände gelten, ist offenkundig. Sicherheitsmaßnahmen verursachen Kosten, unabhängig von der Anzahl der Besucher einer Synagoge, wie Günzel betonte. Umgekehrt hob sie hervor, dass eben das Militärrabbinat nicht einfach Teil eines staatlichen Antisemitismusprogramms sei und eine Synagoge aus Sicht der jeweiligen Gemeinde kein Denkmal, sondern ein Bethaus.
Auch daneben stellt sich die immer größere Vielfalt an Glaubensgemeinschaften unterschiedlichster Couleur als Herausforderung dar. Paradoxerweise, so der Rechtswissenschaftler Hinnerk Wißmann (ebenfalls Münster), sei im Grundgesetz vergleichsweise breit von den Religionen die Rede, dann aber nur sehr knapp von „Weltanschauungen“, die ihnen vielfach beigesellt werden – und das, obwohl man sich von der Weltanschauung der Nationalsozialisten absetzen wollte, die man bei der Niederschrift der Verfassung ausdrücklich hinter sich lassen wollte.
Gerade angesichts der Vielfalt aus Kirchen, Religionen und anderen weltanschaulichen Gruppierungen ließ sich deshalb in Mühlheim immer wieder der Ruf nach mehr Kohärenz in der Religionspolitik hören. Der evangelische Staatskirchenrechtler Hans Michael Heinig forderte gar eine Religionsministerkonferenz und Dagmar Mensink schlug mehr Koordination durch eine „plural zusammengesetzte, interdisziplinäre Arbeitsgruppe mit Vertretern und Vertreterinnen von Bund, Ländern und auch den Kommunen“ vor.
Ob man will oder nicht: Das Religionsverfassungsrecht wird sich weiterentwickeln – und man wird gerade aufseiten der Kirchen gut daran tun, sich aktiv zu beteiligen. Angefangen von den katholischen Büros auf Länder- wie auf Bundesebene geschieht dies auch. Franz-Josef Overbeck, Bischof von Essen und damit Gastgeber der Gespräche, hatte schon zu Beginn darauf aufmerksam gemacht, dass angesichts einer „Volkskirche im Schwinden“ kirchlicherseits ein schlichtes „Weiter so!“ der Institution Kirche in die vollkommene Bedeutungslosigkeit führen würde. Nur bei ehrlicher Erneuerung nach dem Missbrauchsskandal und einer Anerkennung der Säkularität und ihrer Bedingungen sei es möglich, gesellschaftliche Strukturen für neue, bescheidenere Formen christlicher Identität zu schaffen.
Wie sagte Wißmann so schön: Die Gewissheit der Bonner Republik, immer auf beiden Seiten des Tisches zu sitzen, hat sich jedenfalls erledigt.