Empowerment sexueller Integrität und IdentitätEs braucht ein Ja zur Sexualerziehung

Bei der Weltsynode im Oktober in Rom kann das Reizthema Geschlechteranthropologie durch Rückgriff auf die Gottebenbildlichkeits- und Tugendlehre entschärft und die Auffassung sexueller Integrität und Identität des Menschen gestärkt werden. Wie aber geht das genau?

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Wie kann man bei dieser Vielfalt von Kulturen bei einem Thema wie Ehe, Familie und Sexualität eine gemeinsame Sprache finden? Von den soziokulturellen Unterschieden her ist das fast unmöglich.“ Dieses Statement stammt von Kardinal Reinhard Marx. Er sagte es bei der Familien-Doppelsynode (2014/2015). Es passt nicht weniger zu dem im Oktober 2023 stattfindenden ersten Treffen der Weltsynode zur Synodalität: Sie wird sich ebenfalls mit dem „kulturellen Pluralismus, der heute die gesamte Welt erfasst“ (Instrumentum laboris [IL], Nr. 4) auseinandersetzen. Genannt sei dazu ein Zitat aus dem nachsynodalen apostolischen Schreiben „Amoris Laetitia“ (AL, 2016). Es kann bereits als ein Versuch gelesen werden, kulturelle Diversität nicht als Infragestellung kirchlicher Lehre zu verstehen, sondern die divergierende Pluralität der Stimmen als „kostbares, aus vielen berechtigten Besorgnissen und ehrlichen, aufrichtigen Fragen zusammengesetztes Polyeder“ (AL 4) anzuerkennen.

Über die Wertschätzung kultureller Vielfalt hinaus finden sich in den Ausführungen von „Amoris Laetitia“ Linien, in denen Papst Franziskus die Sexuallehre der Kirche – die kulturübergreifend Orientierung geben will – in signifikanter Weise fortschreibt. Mehrere mit der suggestiven Überschrift „Ja zur Sexualerziehung“ überschriebene Absätze (AL 280–286) widmen sich explizit sexualpädagogischen Themen.

Selbstkritisches Hinterfragen

Mit Bezug auf das Zweite Vatikanische Konzil unterstreicht Papst Franziskus die „Notwendigkeit, die Kinder und Jugendlichen ‚durch eine positive und kluge Geschlechtserziehung‘ zu unterweisen, die ‚den jeweiligen Altersstufen‘ angepasst ist und die die ‚Fortschritte der psychologischen, der pädagogischen und der didaktischen Wissenschaft‘ verwertet“ (AL 280). Dabei blickt er selbstkritisch auf kirchliches Versagen: „Wir müssten uns fragen, ob unsere Erziehungseinrichtungen diese Herausforderung angenommen haben. (…) Wer spricht heute über diese Dinge? Wer ist fähig, die jungen Menschen ernst zu nehmen? (…) Mit der Sexualerziehung wird sehr leichtfertig umgegangen.“

Sprachlosigkeit angesichts des Versagens in Fragen der Sexualität stand auch am Anfang der Auseinandersetzung mit dem Ende 2018 veröffentlichten MHG-Gutachten zum Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche in Deutschland: „Die Sexualmoral der Kirche hat entscheidende Erkenntnisse aus Theologie und Humanwissenschaften noch nicht rezipiert. Die personale Bedeutung der Sexualität findet keine hinreichende Beachtung. (…) Wir spüren, wie oft wir nicht sprachfähig sind in den Fragen an das heutige Sexualverhalten.“

Dieses Eingeständnis der deutschen Bischöfe im Frühjahr 2019 blieb nicht ohne Folgen: Anfang 2020 begann die Deutsche Bischofskonferenz zusammen mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken das Reformprojekt Synodaler Weg. Die zum 1. Januar 2020 in Kraft gesetzte „Rahmenordnung – Prävention gegen sexualisierte Gewalt an Minderjährigen und schutz- oder hilfebedürftigen Erwachsenen im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ verfügt, dass in „allen pädagogischen Einrichtungen (…) eine Sexualpädagogik vermittelt werden (soll), die Selbstbestimmung und Selbstschutz stärkt“ und „Schnittstellenthemen wie z.B. (…) geschlechter- und kultursensible Bildung“ einzubeziehen seien. Eine analoge Forderung findet sich in dem Handlungstext „Sexualpädagogische Begleitung und Förderung sexualpädagogischer Konzepte in allen pädagogischen und pastoralen Einrichtungen“ (www.synodalerweg.de/beschluesse).

Doch unbeschadet dieser Absichtserklärungen muss man fünf Jahre nach der Veröffentlichung der MHG-Studie konstatieren, dass von einzelnen Ausnahmen abgesehen von einem verstärkten Engagement sexueller Bildung weiterhin keine Rede sein kann.

Was meint Sexualpädagogik überhaupt, die in einigen Medien in katholischer Trägerschaft nur in einer polemischen Zuspitzung und im Zerrbild einer (Früh-)Sexualisierung von Kindern und Jugendlichen zu existieren scheint?

Sexualpädagogik als Empowerment, als Stärkung der Persönlichkeit

Das im Frühjahr 2021 verabschiedete „Positionspapier zur Gestaltung der Schnittstelle von Prävention sexualisierter Gewalt und sexueller Bildung“ der Bundeskonferenz der diözesanen Präventionsbeauftragten beschreibt Sexualpädagogik im Sinne eines „Empowerments sexueller Integrität und Identität“ für Kinder und Jugendliche: „Damit ist gemeint, dass die Stärkung der Persönlichkeit eines Kindes zunächst begleitet und gezielt gefördert werden muss. Zu ermöglichen, die eigene Identität zu entfalten und zu gestalten, eigene Potenziale zu entdecken und verantwortlich zu leben, heißt, dabei zu helfen, dass eine Basis für alles Weitere an positiver Persönlichkeitsentwicklung entsteht.“

Die sechs Aspekte des Empowerments umfassen Sprachfähigkeit, positive Körper- und Beziehungserfahrungen, Umgang mit Lust, Geschlechterrolle und Fruchtbarkeit. Sie lassen sich in der Form eines Zirkels anordnen und finden sich auch in den Abschnitten zur Sexualerziehung in „Amoris Laetitia“. Einige Zitate können das Verständnis des Empowerments sexueller Integrität und Identität erleichtern.

Zunächst heißt es zum Thema Sprachfähigkeit: „Die Sexualerziehung bietet Information, jedoch ohne zu vergessen, dass die Kinder und die Jugendlichen nicht die volle Reife erlangt haben. Die Information muss im geeigneten Moment kommen und in einer Weise, die der Phase ihres Lebens angepasst ist. (…) Ebenso müssen wir akzeptieren, dass sich ‚die Notwendigkeit einer neuen und angemesseneren Sprache (…) vor allem (zeigt), wenn Kinder und Jugendliche in das Thema der Sexualität eingeführt werden sollen‘“ (AL 281).

Zweitens wird ein positives Körpergefühl angesprochen: „Eine Sexualerziehung, die ein gewisses Schamgefühl hütet, ist ein unermesslicher Wert, auch wenn heute manche meinen, das sei eine Frage anderer Zeiten. Es ist eine natürliche Verteidigung des Menschen, der seine Innerlichkeit schützt und vermeidet, zu einem bloßen Objekt zu werden. (…) Jenseits der verständlichen Schwierigkeiten, die jeder erleben mag, muss man helfen, den eigenen Körper so zu akzeptieren, wie er geschaffen wurde“ (AL 282, 285).

Weiter geht es mit dem Hinweis auf positive Beziehungserfahrungen: „Man darf die jungen Menschen nicht täuschen, indem man sie die Ebenen verwechseln lässt: Die sexuelle Anziehung ‚schafft zwar im Augenblick die Illusion der Vereinigung, aber ohne Liebe bleiben nach dieser »Vereinigung« Fremde zurück, die genauso weit voneinander entfernt sind wie vorher‘“ (AL 284 mit Zitat aus Erich Fromms „Die Kunst des Liebens“).

Viertens wird der Umgang mit der eigenen Lust erläutert: „Der Sexualtrieb kann geschult werden in einem Weg der Selbsterkenntnis und der Entwicklung einer Fähigkeit zur Selbstbeherrschung, die helfen können, wertvolle Fähigkeiten zur Freude und zur liebevollen Begegnung zutage zu fördern. (…) Die Körpersprache verlangt eine geduldige Lehrzeit, die ermöglicht, das eigene Verlangen zu deuten und zu erziehen, um sich wirklich hinzugeben“ (AL 280, 284).

Danach wird der Umgang mit der Geschlechterrolle thematisiert: „Ebenso ist die Wertschätzung des eigenen Körpers in seiner Weiblichkeit oder Männlichkeit notwendig, um in der Begegnung mit dem anderen Geschlecht sich selbst zu erkennen. (…) Doch es ist auch wahr, dass das Männliche und das Weibliche nicht etwas starr Umgrenztes ist“ (AL 285).

Schließlich wird sechstens der Umgang mit Fruchtbarkeit angesprochen: „Häufig konzentriert sich die Sexualerziehung auf die Einladung, sich zu ‚hüten‘, und für einen ‚sicheren Sex‘ zu sorgen. Diese Ausdrücke vermitteln eine negative Haltung gegenüber dem natürlichen Zeugungszweck der Geschlechtlichkeit (…). Es ist hingegen wichtig, einen Weg aufzuzeigen zu verschiedenen Ausdrucksformen der Liebe, zur gegenseitigen Fürsorge, zur respektvollen Zärtlichkeit, zu einer Kommunikation mit reichem Sinngehalt“ (AL 283).

Papst Franziskus rechnet kulturelle Unterschiede sowie einen kulturellen Wandel in „Amoris Laetitia“ ein. Das zeigt er insbesondere in der Abgrenzung von althergebrachten Geschlechterstereotypen, indem er gegen eine „Starrheit“ überkommener Geschlechterrollen hervorhebt: „Das hat sich gottlob geändert.“ (AL 286)

Auf andere derzeit diskutierte Themen geht Franziskus nicht oder nur am Rande ein, wie etwa auf verschiedene sexuelle Orientierungen, Identitäten und Lebensformen. Diese Themen spielen in Deutschland beispielsweise in Beschlüssen des Synodalen Wegs eine Rolle und sie klingen in den Rückmeldungen der kontinentalen Phase der Weltsynode aus Asien und Europa, Nord- und Südamerika und Ozeanien (in Bezug auf LGBTQ) und aus Afrika (zur Polygamie) an.

Demgegenüber räumt Franziskus der Frage der Geschlechtergerechtigkeit mehr Raum ein (vgl. AL 54–56). Geschlechtergerechtigkeit wird in allen Rückmeldungen über die Kontinentalversammlungen hinweg als drängend benannt.

Kulturübergreifende anthropologische Grundlagen

All diese Fragen – das bestätigt das im Juni veröffentlichte Instrumentum laboris (vgl. HK, dieses Heft, 9–10) – werden bei der Weltsynode anstehen. Die Erwartungen an die bis Oktober 2024 währende Weltsynode sind hoch, nicht minder die Besorgnisse, die Einheit in der Lehre zu gefährden.

Es sind aus sich heraus selbstredend keine Fliehkräfte, die in unterschiedlichen Inkulturationen kirchlicher Lehre wirksam werden. Doch bedarf es neben einer Verbindung von „Tradition und Aggiornamento“ (Europäische Kontinentalversammlung) auch einer engeren Anknüpfung an die kirchliche Lehre und Tradition, wenn kirchliche Sexuallehre auf der Ebene der Weltkirche ins Gespräch kommen soll.

Dabei rücken zuallererst die anthropologischen Grundlagen, das heißt die Würde und Personalität jedes Menschen, in den Vordergrund. Sie sind in seiner Gottesebenbildlichkeit bis in die Schöpfungsgeschichte reichend biblisch begründet. In der theologischen Tradition bildet die – lateinisch ausgedrückt – Imago Dei-Lehre eine Brücke von der allgemeinen Schöpfungslehre zur Lehre vom Menschen, seinen Handlungen und deren Prinzipien, wie es etwa Thomas von Aquin im Prolog des Zweiten Teils der „Summa Theologiae“ (STh) ausarbeitet.

Die in der Gottesebenbildlichkeit gründende Lehre von der gleichen Würde aller Menschen gilt als Kerngedanke christlicher Anthropologie, in deren Folge das Christentum bis heute zu den „wichtigsten Quellen des okzidentalen Individualismus“ (Peter Sloterdijk) gezählt wird. Es ist daher sehr gut begründet, die Wertschätzung geschlechtlicher Individualität und die Würdigung und Anerkennung sexueller Identität – wie sie in vielen Gesellschaften als die Existenz des Menschen prägend erfahren werden – als Vertiefung der Anthropologie und in einer christlichen Traditionslinie zu sehen. Dieser Gedanke der auf die Identität des Menschen abzielenden Bedeutung der Sexualität lässt sich auch im nachsynodalen Schreiben „Christus Vivit“ der Jugendsynode des Jahres 2018 in Nr. 81 finden.

Die anthropologische Kernaussage der Gottesebenbildlichkeit des Menschen wird schon seit der mittelalterlichen Theologie nicht einfach statisch, sondern in einer dynamischen Verwirklichung verstanden: Je mehr ein Mensch sich in seinen spezifisch menschlichen Handlungsvermögen entfaltet – so heißt es etwa in der für die katholische Tradition bedeutsam gewordenen Theologie des Thomas von Aquin –, desto mehr prägt sich die Imago Dei im Menschen aus (vgl. STh I 93). In dieser Vervollkommnungsperspektive stehen Individualität und Selbstverantwortung im Zentrum christlicher Anthropologie und Ethik.

In der mittelalterlichen Rezeption der aristotelischen Nikomachischen Ethik rückt zugleich der sich in seinen Handlungsvermögen vervollkommnende, mit anderen Worten der tugendhafte Mensch in den Blick. Der ebenfalls zum Kernfundus der kirchlichen Tradition zählende Tugendbegriff erhält damit neue Aktualität – auch und gerade hinsichtlich des Umgangs mit Sexualität.

So nimmt heute der sexualpädagogische Ansatz einen Auftrag im Sinne einer Tugendpädagogik wahr, die vielfältigen Skills und Kompetenzen sexueller Bildung zu fördern, die ein Mensch gleich welchen Alters zum Schutz und zur Entwicklung seiner sexuellen Integrität und Identität benötigt.

Josef Pieper erklärt in seinem 1964 veröffentlichten Buch „Das Viergespann“ die vier Kardinaltugenden. Als die „wahrende und wehrende Verwirklichung der inneren Ordnung“ im Menschen beschreibt er die kaum adäquat ins Deutsche zu übersetzende temperantia.

Eine Tugendethik gründet in persönlicher Verantwortung

Diese Tugend kann im Sinne des Empowerments zum Schutz und zur Förderung sexueller Identität und Integrität verstanden werden. Dementsprechend zielt auch eine Tugendpädagogik – in Piepers Worten – auf die selbstbestimmte Verwirklichung innerer Ordnung (Maß/temperantia) in Achtung und Wertschätzung gegenüber Mitmenschen und ihrer Identität (Gerechtigkeit/iustitia). Eine Tugendethik – wie ihr „sachlicher Vorrang“ (Wolfgang Kluxen) seit Thomas von Aquin apostrophiert wird – gründet in persönlicher Verantwortung, Urteil und Reflexion.

In diesem tugendethischen Verständnis können alle sechs Themen des sexualpädagogischen „Empowerment Circle“ erschlossen werden, und zwar sowohl in Bezug auf die kirchliche Tradition als auch in einem weltkirchlich offenen Kontext. Zugleich verfängt sich ein tugendethisch begründeter, anthropologischer Zugang nicht von vornherein in ideologisch geführten Debatten: hier die katholische Tradition einerseits und dort eine sexualwissenschaftliche Argumentation andererseits.

Vielmehr kann ein Rückgriff auf die die katholische Tradition prägende Gott-ebenbildlichkeitslehre, die Tugendlehre und deren Auslegung im Sinn eines Empowerments sexueller Integrität und Identität helfen, in „konkreten Schritten (…) im Licht des Nachsynodalen Apostolischen Schreibens Amoris laetitia (…) auf Menschen zuzugehen, die sich aufgrund ihrer Affektivität und Sexualität von der Kirche ausgeschlossen fühlen“ (IL B 1.2), und Spannungen, Divergenzen und Ungleichzeitigkeiten in einer synodalen Kirche überbrücken helfen, ja „Einheit in Vielfalt“ (IL 25, 50, B 1.1, B 1.3) zu erfahren.

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