Frau Sichelschmidt, wann waren Sie das erste Mal in Rom?
Eva Sichelschmidt: Das erste Mal in Rom war ich 1990, gemeinsam mit einer Freundin. Wir sind mit dem Auto von Berlin aus angereist und haben die Stadt auf der Suche nach der richtigen Ausfahrt vom Grande Raccordo, wo der römische Freund eines Berliner Bekannten auf uns wartete, bestimmt dreimal umrundet. Solche von langer Hand geplanten Treffen waren damals ohne Handy noch ein echtes Abenteuer. Die Liebe zu Rom war im Übrigen unmittelbar. Ich war schon verzaubert, als ich nur die Peripherie mit ihren Neubauten gesehen hatte.
Was war so eindrücklich daran?
Sichelschmidt: Das Licht war der erste überwältigende Eindruck. Dann kam die Begeisterung für die melodiöse Sprache, die verheißungsvollen Lebensmittel, den Habitus der Menschen, den Umgang miteinander dazu. Es kommt mir so vor, als würden in Rom alle Sinne geschärft. Ich stamme ursprünglich aus einer eher tristen westdeutschen Provinz. Da bedeuteten für mich schon die römischen Vororte jenseits des Autobahnrings einen größtmöglichen Kontrast, was Lebensart angeht. Und auch wenn man sich irgendwann an die vielen angenehmem Sinneseindrücke gewöhnt, das Glücksgefühl, das sich in Rom einstellt, ist mir immer geblieben. 2009 konnte ich dann ein ganzes Jahr in Rom verbringen, mein Mann war damals Stipendiat der Deutschen Akademie Villa Massimo. In diesem Jahr bin ich oft morgens früh, wenn die Sonne gerade so anheimelnd rosarot aufging, joggen gegangen, entlang des Forum Romanum und ums Kolosseum herum. Und jedes Mal dachte ich: Das ist mir wirklich nicht an der Wiege gesungen worden, dass ich hier tatsächlich einmal leben kann. Diese überwältigende Schönheit, die Grazie, die Tiefe – all das begeistert mich bis heute.
Was ist die Villa Massimo für ein Ort?
In der Villa Massimo zeigt sich Deutschland von seiner besten Seite. Es handelt sich um liebevoll gepflegten deutschen Boden in Italien. Die Villa ist einer der schönsten Orte in der Stadt. Und weil es so angenehm und luxuriös ist, gibt es Künstler, die sich während ihres gesamten Aufenthalts kaum vors Tor wagen. Das ist verständlich: Es ist für alles gesorgt und man kann sich dort aufhalten, ohne etwas zu vermissen. Wir hatten uns allerdings dazu entschieden, täglich die Stadt zu erkunden. Bis heute habe ich das Gefühl, dass unsere Lebenszeit nicht ausreichen wird, um alles zu sehen, was es in Rom zu entdecken gibt. Wir wären damals auch gern sofort nach Ablauf des einen Jahres in der Stadt geblieben, doch ein Leben in Rom auf eigene Faust zu organisieren, nachdem man ein Jahr lang perfekt umsorgt worden war, stellte sich als ziemlich kompliziert heraus. Es dauerte dann noch bis 2013, bis wir mit der Familie ganz dorthin gezogen sind.
Nun schwelgten die Eltern in der römischen Schönheit. Und die Kinder …
Sichelschmidt: … die ärgerten sich darüber, jeden Tag kilometerweit mit dem Schulbus in die deutsche Schule fahren zu müssen. Meine Töchter sind in Berlin geboren, sie empfanden Rom als klein, beengend. Die Kinder und Jugendlichen genießen dort nicht annähernd ähnliche Freiheiten wie in der deutschen Hauptstadt. Aber dafür haben unsere Töchter ziemlich schnell Italienisch gelernt – natürlich besser als die Eltern. Sie haben Freundschaften geschlossen und in einer anderen Kultur gelebt. Allein dafür hat sich die Zeit mit den Kindern in Rom gelohnt.
Sie sind wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Auf Dauer stellte sich das Familienleben in Rom dann doch als zu schwierig heraus?
Sichelschmidt: Wir lebten in Rom in einer winzigen Wohnung. Schon aus wirtschaftlichen Erwägungen wäre es uns gar nicht möglich gewesen, als Familie für immer in Rom zu bleiben.
Inzwischen ist Rom neben Berlin immerhin Ihr zweiter Wohnsitz. Wie sehr kann Rom für einen Deutschen zur Heimat werden?
Sichelschmidt: Rom und Berlin verhalten sich wie Kontrapunkte zueinander. Am besten klingen beide zusammen. Was der einen Stadt fehlt, das hat die andere. Rom besitzt die Schönheit, Berlin die Funktionalität und so weiter. Aber beide Städte sind unkompliziert, was das Neu-Dazukommen angeht. Die Italiener sind sehr offen und mögen es, sich mit Fremden, mit Freunden aus Berlin zu umgeben. Doch man sollte sich keinen Illusionen hingeben: Man bleibt in Rom immer „der Deutsche“. Aber das ist ja eine ganz komfortable Position, in der man seit Jahrhunderten bekannt und willkommen ist.
Sie stammen aus einer protestantischen Gegend. Rom ist die Stadt des Katholizismus. Wie groß ist der Kontrast?
Sichelschmidt: Er könnte größer nicht sein. Ich bin in einer freien evangelischen Gemeinde aufgewachsen, in der ich mich nie wohlgefühlt habe. Ich hatte überhaupt immer das Gefühl, in eine Familie, in einen Landstrich und auch in einen religiösen Zusammenhang hineingeboren zu sein, die überhaupt nicht zu mir passen. Als hätte mich der Klapperstorch an der falschen Stelle fallen gelassen. In Rom bin ich dann ziemlich ahnungslos in katholische Gottesdienste geraten – und habe plötzlich ein großes Verlangen nach einer Ästhetik verspürt, die ich in der Kirche meiner Heimat immer vermisst habe, die für mich aber von religiöser Überzeugung nicht zu trennen ist. Kunst und Religion gehören zusammen. Ich habe durchaus meine Bibelstunden absolviert, eine gewisse religiöse Erziehung genossen. Aber wenn man die „Verzückung der heiligen Theresa“ von Lorenzo Bernini in Santa Maria della Vittoria sieht, dann wird einem klar, dass der Glaube auch einen sinnlichen Aspekt hat. Man kann sich in einem trockenen Unterricht mit Jesus beschäftigen. Aber in dem Gekreuzigten von Guido Reni in San Lorenzo in Lucina nähert sich einem die Figur Jesus auf vollkommen andere Art.
Worin besteht der Unterschied, ob man sich solche Werke in Berlin im Bode-Museum anschaut oder in Rom in einer Kirche?
Sichelschmidt: Der Unterschied ist enorm. Im Museum fehlt jeder Kontext: zu Raum und Bestimmung, Ort und Zeit. Es gibt so viel Kunst, die man hervorragend in Museen ausstellen kann, aber die sakrale Kunst gehört meiner Meinung nach definitiv nicht dazu.
In Ihrem autofiktionalen Roman „Bis wieder einer weint“, der 2021 erschienen ist, gibt es einige Figuren, die die religiöse Welt Ihrer Heimat verkörpern. Keine von ihnen besitzt irgendeine Überzeugungskraft. Haben Sie später im Leben Menschen getroffen, die ihren Glauben authentischer vertreten haben?
Sichelschmidt: Es gab in dieser Gemeinde, aus der ich stamme, durchaus eine spürbare Überzeugung. Ich möchte über diese Menschen nicht richten. Es war nur so, dass ich das Gefühl hatte: Das passt nicht zu mir. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn im Gottesdienst das Wort Liebe fiel, habe ich mich als Kind immer umgeschaut, konnte aber das Gefühl der Liebe nirgendwo finden, weder im Gesicht des Pfarrers noch zwischen den Brüdern und Schwestern in den Bankreihen. Das erlebe ich in einer katholischen Kirche anders. Nicht immer, aber zumindest manchmal. Inzwischen spüre ich auch wieder eine Sehnsucht nach einer religiösen Zugehörigkeit. Dann denke ich darüber nach, mich katholisch taufen zu lassen, denn ich bin ja immer noch ungetauft: In meiner Gemeinde wurde die Gläubigentaufe praktiziert – und als es so weit hätte sein sollen, hatte ich andere Dinge im Kopf. Doch dann hält mich mein protestantisch geprägtes Zweifeln wieder von den entscheidenden Schritten ab. Ich martere mich dann mit Fragen: Was sind meine Beweggründe? Steht mir dieser Schritt wirklich zu? Und wie lässt sich ein solches Unterfangen überhaupt bewerkstelligen?
Heute pendeln Sie zwischen Berlin und Rom. Welches Gefühl haben Sie, wenn Sie dort ankommen?
Sichelschmidt: Ich bin jedes Mal aufs Neue vollkommen aus dem Häuschen und bekomme schon gute Laune, wenn ich nur in Fiumicino das Rollfeld unter mir sehe. Es ist mir selbst ein Rätsel, warum das so ist, aber ich bin umgehend hochgradig zufrieden, wenn ich dort ankomme. Ich kann in Rom auch einfach am besten arbeiten.
Sie fahren nach Rom und setzen sich an den Schreibtisch. Zieht es Sie nicht nach draußen?
Sichelschmidt: Sicher, aber dann macht man eben die Balkontüre auf, guckt in den Himmel und schaut sich die vielen unterschiedlichen Vögel an – mal Mauersegler, mal Möwen, mal Schwalben –, das reicht schon. Aber Sie haben schon recht: Es ist wirklich schwierig, einfach am Schreibtisch sitzen zu bleiben. Das Gute ist: Man schreibt nicht zehn Stunden am Stück. Das heißt: Wenn man fünf oder sechs Stunden artig gesessen hat, bietet so ein Tag immer noch viele Stunden, in denen man sich überraschen lassen kann. Was mir in Italien und in Rom besonders gefällt, ist, dass viele Menschen dort so gut erzogen sind und sich auffallend respektvoll verhalten. Ältere Leute werden häufig mit einer sehr zugewandten Anteilnahme behandelt. Man wird einfach wahrgenommen. Allein der Blickkontakt, wenn mir jemand die Tür aufhält oder mir entgegenkommt. Man fühlt sich nie so einsam und allein wie in Berlin. Ein kurzer Gruß, ein Nicken im Vorbeigehen – das erlebt man in Deutschland selten. Und ist es auch eine unverbindliche Freundlichkeit in Rom, sie führt unmittelbar dazu, dass ich mich wohlfühle.
Sie sind so oft dort gewesen. Sind Sie noch neugierig auf die Stadt?
Sichelschmidt: In Rom beginnt jeder Tag wie eine Verheißung. Im Vergleich zu Berlin ist Rom eine relativ kleine Stadt: Ich bin dort häufig zu Fuß unterwegs und durchstreife den Raum innerhalb der antiken Stadtmauern. Man bekommt immer wieder neue Perspektiven geboten, je nachdem, wo man sich gerade befindet. Die sieben Hügel und natürlich die unendlich vielen Terrassen eröffnen ständig neue Blickwinkel. Die Neugier nimmt nie ab.
Der Massentourismus hat die Stadt fest im Griff. Ist ihre Schönheit überhaupt noch wahrnehmbar?
Sichelschmidt: Natürlich sehe auch ich die Armut, den Schmutz und den Verfall, die Touristenschwemme, der die Stadt ausgesetzt ist. Was mich besonders kränkt, sind die vielen Absperrungen, Gitter, Balustraden und die kleinen Zelte für Wachmänner, die es überall in der Stadt gibt und die den Blick auf die Stadt von Jahr zu Jahr mehr verstellen. Diese provisorisch wirkende Straßenabsperrungen bleiben manchmal für viele Jahre an derselben Stelle stehen. Dabei sind die Italiener so stolz auf das, was sie haben. Sie können am besten singen, am besten kochen, sie haben die schönste Sprache und natürlich die schönsten Männer, den besten Wein – und die schönste Stadt der Welt: Rom. Und dann wird so schlecht darauf aufgepasst. Das kränkt mich. Rom kommt mir manchmal wie ein Liebhaber vor, mit dem man sich immer wieder neu erwartungsvoll verabredet und der einen stets in letzter Minute versetzt.
An Ihrem römischen Schreibtisch haben Sie einen Roman geschrieben, der in Berlin spielt und in diesen Tagen erscheint: „Transitmaus“. Worum geht es?
Sichelschmidt: Der Roman spielt im Jahr 1989 in Westberlin. Der Mauerfall markiert zwar das Ende der Handlung, spielt aber sonst kaum eine Rolle. Der Zerfall einer alten Gesellschafts- und Staatsstruktur spiegelt sich in einer Psychose eines Familienoberhauptes wider. Es geht um das Drama des Erwachsenwerdens, aber auch um die Erinnerung an ein Leben, eine Stadt und eine Welt, die es so nicht mehr gibt.
Wie in Ihren beiden vorherigen Romanen geht es wieder um die Familie. Woher rührt Ihr Interesse an diesem Thema?
Sichelschmidt: Die Familie bleibt der konstante Kriegsschauplatz eines jeden Menschen. Er kann zwar an irgendeiner Stelle seinen persönlichen Frieden damit schließen, aber er wird immer wieder auf Zusammenhänge stoßen, bei denen er an seine Grenzen kommt – oder an Punkte, an denen er merkt, wie ihn seine Herkunft beeinflusst. Woher kommen die Trauer, die Schuld, die Wut in der Familie, wie werden diese Dinge weitergegeben und warum ist es so schwer, sich davon zu befreien? Das ist es, was mich interessiert. Das wird mein Thema bleiben, solange ich schreibe. Und diese Fragestellungen führen dazu, dass sich andere in meinen Texten erkennen. Bis heute schreiben mir immer wieder Menschen, die meinen Roman „Bis wieder einer weint“ gelesen haben und davon berichten, ganz ähnliche Erfahrungen gemacht zu haben, wie ich sie schildere. Dabei ist jede Familiengeschichte natürlich einzigartig. Das freut mich, weil auch ich als Leserin immer nach Schilderungen suche, die mir neue Einsichten in mein eigenes Leben gewähren.
Ist Ihr Weg – in ein fernes Land, eine andere Sprache, eine andere Gesellschaft – auch eine Form gewesen, sich von der Herkunft zu distanzieren?
Sichelschmidt: Was mich in Rom beschützt, ist, dass sich hier niemand für meine Herkunft interessiert. Ich komme sozusagen geschichtslos daher. Hinzu kommt, dass ich mich vollkommen anders wahrnehme, wenn ich Italienisch spreche. Ich kann dann ein Teil von mir sein, den ich in Deutschland vielleicht nie gefunden hätte.
Umgekehrt sind in Italien die Familienzusammenhänge auch sehr stark. Es gibt Italiener, die deshalb nach Berlin gehen.
Sichelschmidt: Es gibt in Berlin eine große italienische Community von jüngeren Menschen, die nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, sondern auch vor den Zwängen der Familie nach Berlin geflohen sind. In Italien kann die Familie ein extrem enges Korsett sein, das einem die Luft zum Atmen nimmt. Viele der Jungen bekommen keine Kinder mehr, um sich nicht wieder in dieser familiären Abhängigkeit wiederzufinden. Das kann ich sehr gut verstehen.
Besuchen Sie Ihre Heimat manchmal noch?
Sichelschmidt: Bis vor Kurzem gab es dort noch Großmutter. Sie ist 103 Jahre alt geworden. Seitdem sie nicht mehr lebt, war ich nicht mehr dort. Es gehört zu meiner Arbeit, Kapitel abzuschließen. Und während ich das sage, stelle ich fest, wie froh ich bin, dass Rom an dieser Stelle eine Ausnahme darstellt. Rom ist meine innere Heimat und ich hoffe sehr, dass diese Stadt in meinem Leben ein Kontinuum bleiben wird.