Udo Schnelle vertritt in diesem Buch eine klare These: Der Mythos ist auch heute ein legitimes und unverzichtbares Grundelement menschlicher Weltdeutung. So könne auch der „frühchristliche Mythos“ vom Leben, Sterben und der Auferstehung des Gottessohnes Jesus Christus nicht entmythologisiert werden. Er müsse vielmehr „unter der Voraussetzung eines positiven Mythosverständnisses und den Bedingungen der neuzeitlichen, selbstkritischen Vernunft interpretiert werden“.
Seine These untermauert Schnelle durch eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Forderung Rudolf Bultmanns nach einer Entmythologisierung der neutestamentlichen Botschaft und damit des christlichen Glaubens. Dieser Schwerpunkt mutet aus der Zeit gefallen an und ist wohl nur dadurch zu erklären, dass Schnelle selbst Neutestamentler ist und so frühere Irrungen und Wirrungen der eigenen Zunft aufarbeiten möchte. Das Kapitel über den Mythos-Begriff in der neueren Philosophie, Religions- und Geschichtswissenschaft führt dankenswerterweise über innertheologische und innerprotestantische Fragestellungen hinaus. Schnelle resümiert, der Mythos sei ein kulturelles Deutungssystem, das auf Sinngebung von Welt, Geschichte und Menschenleben ziele, Identität bilde und das Handeln präge.
Zuletzt stellt Schnelle den „frühchristlichen Mythos“ in seinem historischen Kern sowie in seiner maßgeblichen Entfaltung bei Paulus, in den vier Evangelien sowie in der Johannesapokalypse dar. Durch das Kreuz und die Erzählungen über Jesus von Nazareth bleibe dieser Mythos mit seinem historischen Grund verbunden: „An keiner Stelle wird jedoch dadurch der mythische Charakter des Gesamtgeschehens überwunden.“ Geschichte und Mythos hätten im frühen Christentum von Anfang an keinen Gegensatz gebildet, sondern eine notwendige Einheit.
Es ist bleibende Aufgabe nicht nur der neutestamentlichen Bibelwissenschaft, sondern der Theologie insgesamt, diese Einheit verständlich zu machen und nach Möglichkeit auch in den allgemeinen religiös-weltanschaulichen Diskurs einzubringen. Udo Schnelles Buch liefert dazu einen pointierten und diskussionswürdigen Beitrag.