Das Phänomen Publikum

Wer ins Theater geht, will nicht unbedingt Theater.

Bühnenvorhang
© Pixabay

Mit Statistiken ist das bekanntlich so eine Sache. Zahlen scheinen die Realität unbestechlich aufzuzeigen. In den Kirchen werden die alljährlichen Statistiken zu Mitgliedern und sonstigen Kennzahlen schon fast schicksalsergeben erwartet; alle Jahre wieder wird der Niedergang bestätigt. In dieselbe Richtung – nach unten – weisen die Trends auch jeder Menge anderer gesellschaftlicher Organisationen. Vereine, Gewerkschaften, Stammtische verlieren ebenfalls stetig ihre Engagierten. Zuletzt erschien eine Fleißarbeit, die auch für die Theaterlandschaft einen dramatischen „Publikumsschwund“ konstatiert. Der Theaterwissenschaftler Rainer Glaap hat Theaterstatistiken aus 70 Jahren ausgewertet, ausgehend von dem durch die Corona-Pandemie offensichtlich gewordenen Kernproblem: Die Frage nach dem allmählichen Verschwinden des Publikums, das die Legitimitätsfrage in aller Schärfe stellt.

Ein von gähnend leeren Kirchbänken geprägter Leser ist sofort geneigt, Parallelen zu sehen und wieder einmal den Untergang der christlich-abendländischen Hochkultur in Erwägung zu ziehen. Eine intensive Lektüre des Theaterbüchleins aber zeigt, dass die Prognose so leicht auch wieder nicht zu stellen ist, definitiv nicht fürs Theater. Bedenkenswertes zeigt sich letztlich weniger in den Zahlen als in den Anekdoten drumherum.

Zunächst schmerzen auch für das Theater die nackten Zahlen sehr. Glaaps umfangreiche Tabellenrechenkünste ergeben, dass sich die Anzahl an Besuchen (nicht Besuchern!) in den beiden deutschen Staaten zusammen seit den Fünfzigerjahren fast halbiert hat. Das tut weh.

Heftig ärgert sich der Leser wie der Autor darüber, dass die letzten Daten aus dem Jahr 2018, also zwei Jahre vor Beginn der Corona-Pandemie, stammen. Schneller aber geht es nicht mit der höchst komplexen Erhebung und Auswertung der Zahlen deutscher Bühnen durch den Deutschen Bühnenverein. Glaap stellt seine gesamten Auswertungen entsprechend unter die Prämisse „cum grano salis“. Denn verblüffend, aber nachgewiesen: Die meisten Trends gehen zwar eindeutig nach unten, aber die Gründe sprechen nicht unbedingt gegen das Theater. Insbesondere ist die Anzahl an Angeboten sowohl in den sich ausdifferenzierenden Theatersparten als auch in der Freizeitlandschaft insgesamt rasant gestiegen, und zwar kontinuierlich und schneller als die Bevölkerungszahl. Dadurch ergibt „sich zwangsläufig eine Verringerung der Besuche je Veranstaltung“. Ein dominanter Konkurrent um die Freizeit tritt in den Sechzigerjahren auf: das Fernsehen. Seitdem ist der Besuchstrend meist rückläufig.

Vielleicht deuten all die Statistiken also vor allem auf die Evidenz, dass in einem freien Staat die Attraktivität des Theaters fundamental von der Attraktivität und Anzahl von Alternativen abhängt. Diese Erkenntnis lässt sich höchstwahrscheinlich auf Gottesdienste übertragen – auch wenn dies auch schmerzt.

Da es mittlerweile noch mehr zusätzliche Freizeitangebote als das Fernsehen gibt, bietet sich ein Blick auf weitere Konkurrenten an. Topaktuelle Zahlen bietet die „Stiftung für Zukunftsfragen“; eine Initiative von British American Tobacco. Für ihren seit 1982 erhobenen „Freizeit-Monitor“ wurden im Juli/August 2024 über 3000 Personen im Alter von 18 bis 74 Jahren repräsentativ zu ihrem Freizeitverhalten befragt. Auch hier gelten jede Menge Einschränkungen in der Aussagekraft. Ein Fazit aber: Das Internet ist omnipräsent. 97 Prozent der Befragten geben an, das Internet mindestens einmal pro Woche zu nutzen, womit es zur unangefochtenen Nummer eins unter den Freizeitaktivitäten wird. Daneben dominieren weitere mediale Angebote: Smartphone, Fernsehen, Social Media, Radio, Tablet, E-Mail. Die Freizeit spielt sich zuhause und individuell ab. Gesellschaftliche Angebote haben es schwer.

Insgesamt abgeschlagen, zeigt sich im Zehn-Jahresvergleich immerhin bei einigen Außerhausbeschäftigungen eine Zunahme, so bei Tagesausflügen, Wochenendfahrten und sogar bei ehrenamtlichen Tätigkeiten. Laut Stiftung verdeutlicht dies gar „die zunehmende Bedeutung von sozialer Interaktion in der Freizeit“. Und tatsächlich steigt in diesen Erhebungen auch die Zahl derer, die mindestens einen Besuch pro Jahr in Theater, Oper und Klassikkonzert angeben, von 22 Prozent 2014 auf 30 Prozent 2024. Beide Quellen zusammengenommen könnten bedeuten: Es gehen insgesamt mehr Menschen ins Theater, allerdings jeweils seltener, indem sie gezielter einzelne Angebote heraussuchen. In dieselbe Richtung weisen auch von Glaap konstatierte rückläufige Abonnementzahlen.

Und schließlich kennt Glaap noch die rein subjektive Erkenntnis eines Intendanten alten Schlags, der sein echtes Publikum zu ausverkauften Theaterzeiten beobachtete: Ganze fünf Prozent der Besucher kämen wegen des Stücks, die anderen 95 Prozent dagegen „aus Grenznutzenerwägungen“, etwa um zu sehen und gesehen zu werden. Im Umkehrschluss: Vielleicht sind heute im Theater nicht mehr alle da, weil nicht mehr alle da sind.

Was also tun, um mehr als die fünf Prozent Überzeugten zu erreichen? Nicht nur Glaaps Fazit: die Angebotsvielfalt und die Rahmenbedingungen mehrheitsfähiger gestalten. Das Theater müsse das Festungsartige aufgeben, die Schranken für Neulinge seien zu hoch, Cafés und Rahmenprogramme empfehlenswert. Die Programme dürften sich nicht auf eine kleine homogene Zielgruppe zuspitzen, nicht auf eine Alters- oder Bildungsgruppe. Und schließlich sei auch das Publikum selbst Teil des Kulturerlebnisses, sowohl in Bezug auf das, was es erwartet, als auch in Bezug auf das, was es vorgeführt bekommt. Beispielsweise würden altbewährte Besucher, die Neulinge mit Zischen am Klatschen hindern, nicht zum Wohlbefinden Letzterer beitragen. Parallelen ziehen erwünscht.

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