Wird der Zölibat überschätzt, wenn es um die Erklärung des sexuellen Missbrauchs von Kindern in der katholischen Kirche geht? Ist womöglich die strikte Hierarchie im Römisch-Katholischen ebenso wenig ein Risikofaktor für sexualisierte Gewalt wie die Sakralisierung des Priesters als eines geweihten Mannes? Zugespitzt und kirchenpolitisch gesprochen: Kann die katholische Kirche die Reformdebatte, wie sie beispielsweise auf dem Synodalen Weg geführt wurde, nun abblasen? Es scheint doch zu gelten: Missbrauch findet eh statt.
Vermeintlichen Rückenwind für solche und ähnliche Fragen (wie auch die damit so offensichtlich verbundene kirchenpolitische Stoßrichtung) gibt die Veröffentlichung der Forum-Studie zu sexualisierter Gewalt in den Landeskirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie. Die vor wenigen Wochen vorgestellten Ergebnisse zeigen auf einer zwar schwachen, aber dennoch in der Richtung deutlichen Datenbasis, dass sexualisierte Gewalt kein exklusiv katholisches Problem darstellt, im Gegenteil: Missbrauch gegenüber Kindern und Jugendlichen gibt es im Protestantischen vermutlich ebenso häufig wie in der christlichen Schwesterkirche. Und das gilt trotz Reformation, Partizipation und demokratischer Strukturen, der Ordination von Frauen und Männern und ohne Zölibatsverpflichtung. Also: Zurücklehnen in den katholischen Kirchenbänken und auf den Bischofsstühlen?
Mitnichten! Eine solche Konfessionskonkurrenz in der Aufarbeitung und ein damit verbundenes Aufrechnen der jeweiligen Risikofaktoren läuft in die völlig falsche Richtung. Sie verfehlt sowohl die wesentliche Gemeinsamkeit als auch die jeweiligen Spezifika mit Blick auf die Ermöglichung von sexualisierter Gewalt und Vertuschen.
Es dominiert die Gemeinsamkeit in beiden Kirchen
Zunächst einmal gilt es, gegen die konfessionelle Differenzierung zu argumentieren. Denn neben den feinen Unterschieden dominiert vor allem die Gemeinsamkeit in katholischer und evangelischer Kirche. In beiden Konfessionskirchen ist es die Pastoralmacht des Geistlichen, die den Mann zum Täter macht. Gendern verbietet sich an dieser Stelle, da sexualisierte Gewalt in der Gruppe der Geistlichen auch im Protestantischen fast ausschließlich von Männern verübt wird. Es ist die Stellung des Geistlichen im religiösen Sinnsystem, die es dem pädosexuellem Täter ermöglicht, Macht über Kinder und Jugendliche zu erlangen und diese dann zu missbrauchen. Gott sehe es gerne, wenn sich Menschen so sehr liebten wie sie beide – diese aus dem Vokabular des Glaubens heraus gesprochene Verbrämung des Missbrauchs durch die Täter ist ein Topos, den Missbrauchsbetroffene aus dem katholischen wie aus dem evangelischen Bereich berichten. Opfer von sexualisierter Gewalt werden meist Kinder und Jugendliche, die tief gläubig sind – das haben MHG-Studie und die Forum-Studie gleichermaßen gezeigt. Auf diese Weise sind sie dem geistlichen Täter als religiös hervorgehobenem Mann stark verbunden – und im schlechtesten Fall ausgeliefert. Wenn dieser Mann die Gottesliebe der Kinder auf sich lenkt, dadurch Macht gewinnt und diese Macht zum Missbrauch nutzt, stellt das eine monströse Verkehrung des Verkündigungsauftrags dar – und zwar in beiden Konfessionen.
Wie sich pastoral-theologisch die besondere Stellung des religiösen Geistlichen begründet, ist dagegen sekundär. Zugespitzt gesagt: Ob geweihter katholischer Priester, ordinierter lutherischer Pfarrer oder reformierter Geistlicher – die besondere religiöse Form, in die sich die Imbalance von Macht und das damit verbundene Potenzial für den Missbrauch kleidet, ergibt anscheinend nur einen kleinen oder gar keinen Unterschied. Es ist die behauptete Gottesnähe des Geistlichen, die Macht verleiht und Missbrauch ermöglicht.
Im Gegensatz zum Aufrechnen im Modus der Subtraktion – unser Risikofaktor Zölibat kann ja nicht so schlimm sein, wenn es bei den anderen vor allem unter verheirateten Geistlichen Missbrauch gibt – erwächst daraus zunächst einmal ein generell religionskritischer Gedanke: Wer über Gott und die Welt, über Leben und Tod wie auch über andere letzte Dinge spricht und für sich in Anspruch nimmt, über ein besonderes religiöses Wissen zu verfügen, der bringt sich in eine besondere Position der Macht und der Verantwortung. An dieser Stelle müssen beide Kirchen ansetzen: Angesichts des Missbrauchsskandals gilt es, mit der Überhöhung und Selbstüberhöhung der jeweiligen Geistlichen, der Institution und mit deren Machtverhältnissen zu brechen. Es lässt sich vermuten, dass auch in anderen Weltreligionen ähnliche Zusammenhänge von religiös abgeleiteter Macht und Gewalt zu finden sind.
Überraschend ist die Parallelität zwischen katholischer und evangelischer Kirche zunächst einmal wenig, wenn man den jeweils konfessionsinternen Blick zugunsten einer Außenperspektive aufgibt: Für das Selbstverständnis der beiden christlichen Kirchen ist das jeweils Konfessionsspezifische existenziell und wird aus Gründen des Selbsterhalts auch dann noch hochgehalten, wenn sich die Unterschiede nur noch wenigen Spezialisten erschließen.
In der Außenperspektive der Gesellschaft gibt es hingegen keine zwei anderen Institutionen und Bevölkerungsgruppen, die einander ähnlicher wären als die beiden christlichen Kirchen. Das gilt sowohl mit Blick auf die mittelständisch-bürgerliche Mitgliedschaft wie auch auf die besondere Art der staatlichen Einbettung in die gesellschaftlichen Strukturen. Konfessioneller Religionsunterricht an staatlichen Schulen, Kirchensteuereinzug durch die Finanzämter, die umfassende Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen oder auch das „Wort zum Sonntag“ im öffentlich-rechtlichen Rundfunk – die Trennung von Kirche und Staat hinkt.
Diese Art, wie Staat und Gesellschaft in der alten Bundesrepublik wie auch im wiedervereinigten Deutschland die Trennung praktizieren, hat Katholizismus und Protestantismus in ihren sozialen Formen so nahe aneinandergerückt, dass nun selbst innerhalb der Kirchenmitgliedschaft kaum noch ein Bewusstsein für konfessionelle Unterschiede vorhanden ist.
Unterhalb dieser dominierenden Gemeinsamkeit fangen die feinen Unterschiede an – ohne sich aber zu jeweils vollständig unterschiedlichen Typen von Missbrauchskulturen zu verdichten. Blicken wir auf die jeweilige geistliche Leitungsgestalt, stechen die Unterschiede ebenso hervor wie die Gemeinsamkeiten: Im Katholischen ist der Priester als „heiliger Mann“ markiert. Ihm kommt qua Weihe und Sakramententheologie ein christusverbundener Status zu, der jeden Laien blass aussehen lässt. Auch wenn im Zweiten Vatikanum mit der Volk-Gottes-Theologie dem damit etablierten Klerikalismus entgegengewirkt werden sollte, bleibt dieses Potenzial der Überhöhung und Selbstüberhöhung stark. Denn die Aufwertung der Laien stellten die Konzilsväter einfach neben die traditionelle Priestertheologie – im Katholischen nennt sich diese Technik vornehm Juxtaposition. Sie verschleiert damit, dass Gegensätze nicht aufgelöst, sondern einfach aufaddiert werden. Wer auf die aktuellen Formen der Selbstrepräsentation einzelner Priester im Katholischen schaut, der sieht rasch, wie attraktiv das verbliebene Potenzial zur klerikalen Stilisierung für einzelne Geistliche nach wie vor ist.
Im Protestantischen sind die Risikofaktoren mit Blick auf das geistliche Personal anders gelagert: Das protestantische Pfarrhaus stellte immer mehr dar als nur die Behausung des Geistlichen. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde es nicht nur zur religiösen, sondern auch zur nationalen und bildungsbürgerlichen Hochburg erhoben. In der DDR kam ihm der Status einer Gegenwelt zur realsozialistischen Umwelt zu. Genau das konnte auch in der Bundesrepublik passieren, wenn das Pfarrhaus beispielsweise zum liberalen Widerpart zur als konservativ empfundenen Gesellschaft stilisiert wurde. In diesen Zusammenhängen war der Pfarrer ebenso hervorgehoben wie in den tendenziell konservativen evangelikalen Bewegungen – nicht zuletzt durch seine theologische Ausbildung, seine rhetorische Ausbildung und Wortgewandtheit wie auch durch sein formales Amt. Die Ergebnisse der Forum-Studie legen nahe, dass sich Klerikalismus als geistliche Selbstüberhöhung wohl nicht auf den Katholizismus beschränkt.
Wo im Katholischen die Hierarchie und vor allem der Abstand zwischen Klerikern und Laien einen Machtfaktor bilden, dessen sich Missbrauchstäter bedienen können, da stellt im Protestantischen das Gegenteil einen Risikofaktor dar: In den evangelischen Landeskirchen, die sich vor allem als geschwisterlich, partizipativ und modern begreifen, wird faktisch vorhandene Macht ignoriert oder gar verleugnet. Wer aber machtvergessen ist, der kann Machtmissbrauch nicht erkennen. Verantwortlichkeiten bleiben ausgeblendet, Kontrolle findet nicht statt.
Insbesondere im Bereich der Jugendarbeit, aus dem viele Fälle von sexualisierter Gewalt berichtet werden, zeigt sich, dass die fehlende strukturelle Einbindung und Kontrolle der dort Tätigen durchaus ein besonderes Risiko mit sich brachte. Aus dieser Überlegung resultiert nicht die Forderung nach einer stark hierarchischen Glaubensgemeinschaft, im Gegenteil: Es spricht aus Sicht der Missbrauchsprävention nichts gegen basisdemokratische Strukturen und flache Hierarchien, wenn diese sich mit klaren Leitungsstrukturen ebenso wie mit fachlicher Kontrolle und davon abgeleiteten Eingriffsrechten und Sanktionsmöglichkeiten verbinden.
Für Missbrauchsbetroffene war das protestantische Binnenklima fatal: Sie haben die Strukturen und die daraus abgeleitete Kommunikationskultur wiederholt als ein „Milieu der Geschwisterlichkeit“ charakterisiert, in der sexualisierte Gewalt nicht denkbar war – und deswegen auch umso schwerer thematisiert werden konnte. Aus dieser Haltung heraus liefen die Opfer von sexualisierter Gewalt kommunikativ oftmals vor die Wand: Soziale Akzeptanz erfuhren sie nur dann, wenn sie die Sprache der Kirche sprachen und letztlich auch zur Vergebung bereit waren, damit die Eintracht in der religiösen Gemeinschaft wiederhergestellt war. Wer sich dem Konsensmodell verweigerte und gar auf der Unversöhnlichkeit mit dem Täter beharrte, der fand sich rasch als Störenfried markiert und damit außerhalb der religiösen Zusammenhänge.
Vielleicht schlägt dieser Harmoniezwang sogar durch bis in die aktuelle Aufarbeitungsdiskussion: Wo im Katholischen die Debatte von einem Segment binnenkirchlicher Opposition befeuert wird – Maria 2.0., Wir sind Kirche, zum Teil auch das Zentralkomitee der deutschen Katholiken und einige Verbände – und progressive und konservative Bischöfe öffentlich miteinander streiten, da ist von einer solchen innerkirchlichen Auseinandersetzung auf der protestantischen Seite noch wenig zu vernehmen.
Konfessionen unterscheiden sich nur in der Quantität der Aufarbeitung
Katholische Priester und protestantische Pfarrer treffen sich in dem Punkt wieder, dass Nähe- und Distanzverhältnisse, damit verbundene Machtkonstellationen sowie die jeweils eigene Sexualität in der jeweiligen Ausbildung bis vor wenigen Jahren kaum eine Rolle spielten. Wer diese Beobachtung umkehrt, leitet daraus eine Forderung für die Prävention ab: Wer sich als Pfarrerin, Pfarrer oder Priester um die Seelen anderer Menschen sorgt, muss sich nicht nur seiner eigenen Sexualität besonders bewusst sein, sondern auch die Machtstellung reflektieren, die sie oder er als religiöser Experte einnimmt.
Es gibt nur einen Punkt, in dem das Denken in der Konfessionskonkurrenz ihre Berechtigung hat, nämlich mit Blick auf die Aufklärung der Quantität von sexualisierter Gewalt: An dieser Stelle ist es den Forschenden in der MHG-Studie zur katholischen Kirche von 2018 besser ermöglicht worden, ihrem Auftrag nachzukommen. Auch wenn in einzelnen Bistumsstudien zum Teil noch höhere Zahlen von Tätern und Betroffenen ermittelt werden konnten, ist das Hellfeld im Katholischen wohl einigermaßen ausgeleuchtet und die „Spitze des Eisbergs“, so die Studienleiter, ermittelt worden.
Die EKD hat es versäumt, hier gleichzuziehen, indem die Personalakten der Pfarrer und Pfarrerinnen in den meisten Landeskirchen nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung standen. Die Forum-Studie bleibt an dieser Stelle unvollendet. Wo in der Aufarbeitung in der katholischen Kirche eine Grundlage geschaffen wurde, auf der Studien, aber auch praktische Maßnahmen aufbauen können, ist das in der evangelischen Kirche versäumt worden. Mit diesem Manko muss die Spitze der evangelischen Kirche leben – oder schnellstmöglich Abhilfe schaffen.
Eins zu null für die Katholiken? Wohl kaum! Wer die Vorgeschichte der MHG-Studie kennt – das zähe Ringen um die Auftragsvergabe und die Demissionierung des ersten Auftragnehmers –, weiß sich gefeit davor, sie womöglich als „Pluspunkt“ auf der katholischen Seite zu verbuchen.
Dennoch gilt, dass die katholische Kirche momentan einen Schritt weiter ist als die evangelische: Neben der MHG-Studie, die 2018 die Quantität sexualisierter Gewalt ausgeleuchtet hat, gibt es eine Reihe von Bistumsstudien, die eine stärkere Konkretion nachliefern. Sie fragen im Einzelfall danach, wie sich im Sozialsystem Kirche sexualisierte Gewalt ereignen konnte, wie Vertuschung funktionierte und wer Verantwortung dafür trug. Diese Ausweitung steht in der EKD und den Landeskirchen noch aus.
Christusnachfolge bietet Folie für die Zukunft
In beiden Konfessionen gibt es „toxische Traditionen“ (Reiner Anselm), die Missbrauch ermöglichen und Vertuschen befördern. Jede Konfessionsgemeinschaft ist gehalten, die jeweils spezifischen Risikofaktoren anzugehen und sich dabei ehrlich zu verhalten. Dann stehen katholischer Zölibat und katholisch lehramtlich fundierte Homophobie neben protestantischem Harmoniezwang und Machtvergessenheit.
Damit sind allenfalls oberflächliche Unterschiede markiert. Darauf deutet eine ganz basale Gemeinsamkeit hin. Beide christlichen Kirchen beziehen sich auf dieselbe Glaubenstradition. Mit Blick auf den Religionsstifter ist ihre ultima ratio die der Christusnachfolge. Wie diese zu gestalten ist, hat sich in der Vergangenheit höchst unterschiedlich ausgestaltet. Mit Blick auf den Umgang mit sexualisierter Gewalt in den eigenen Reihen bietet dieser Anspruch aber eine Folie, auf der katholische und evangelische Kirche wie auch ihre jeweiligen Verantwortlichen ganz nah aneinanderrücken, und zwar sowohl in der gemeinsamen Scham über das eklatante Versagen wie auch im Versuch, sich neu auszurichten.