Die Demonstrationen gegen Rechtspopulisten nehmen nicht ab. Wie sehr ist die Demokratie in unserem Land in Gefahr?
Ilse Aigner: Tatsächlich steht unsere Demokratie im Feuer, sie wird bedroht. Einerseits von außen, aber auch von innen. Und diese beiden Sphären hängen zusammen, wie man an der russischen Propaganda sieht, die auch immer darauf abzielt, Demokratien zu destabilisieren. Trotzdem möchte ich Zuversicht geben: Denn die Mehrheit unserer Gesellschaft ist groß. Sie hat ein gutes Gespür für Maß und Mitte und setzt sich für unsere Demokratie ein. Solange das so ist, ist mir nicht bang um unsere Demokratie.
Politische Debatten werden zunehmend schärfer geführt. Wie können wir wieder diskursfähiger werden?
Aigner: In der Tat macht mich da so manche Entwicklung sehr nachdenklich. Ich bin der festen Überzeugung: Die politische Kultur braucht eine Rückbesinnung auf das, was wirklich wichtig ist! Entscheidend ist aus meiner Sicht, dass es auf alle ankommt – nicht nur auf die Politik, sondern auch auf die Medien und vor allem die Menschen. Unter Demokraten hilft es, sich vor Augen zu führen, dass wir alle das gleiche Ziel haben – die Herausforderungen zu lösen, damit alle friedlich zusammenleben können. Nur beim Weg sind wir unterschiedlicher Meinung. Wer diese positive Grundhaltung auch anderen unterstellt, kann immer noch hart in der Sache diskutieren, bleibt aber im Ton wohlwollend. Gleichzeitig muss eine Differenzierung immer möglich sein. Die Welt besteht eben nicht nur aus Schwarz-Weiß, wir müssen auch die Grautöne benennen – und offen sein für das Aber und die komplizierteren Lösungen.
Wie lässt sich die Polarisierung vermindern?
Aigner: Zunächst möchte ich klarstellen: Ich sehe zwar eine zunehmende Polarisierung, aber die Spaltung der Gesellschaft, wie sie oft behauptet wird, die sehe ich nicht. Das Problem ist vielmehr, dass es Menschen und Gruppen gibt, die daran ein Interesse haben. Die streben mit polarisierenden Aussagen nach Aufmerksamkeit und nach Marktanteilen. Diese Akteure sehen Aufregung als Geschäftsmodell. Insofern hilft es, sich dieses Interesse vor Augen zu führen, um das ein oder andere Argument im rechten Licht zu betrachten. Wichtig ist aber auf der anderen Seite, dass das Gemeinwohl in den Mittelpunkt gehört. Es geht in der Politik eben nicht darum, eine Klientel zu bedienen. Regeln für alle stehen im Mittelpunkt. Stadt gegen Land, die einen gegen die anderen auszuspielen, das gehört nicht dazu. Denn das Gesamtwerk muss tragen und hält die Gesellschaft zusammen. Das scheint mir manchmal etwas zu kurz zu kommen in der erhitzten politischen Debatte!
Was können wir einem aufkeimenden Antisemitismus entgegensetzen?
Aigner: Wir müssen hinsehen. Das gilt nicht nur für Antisemitismus, sondern auch für Muslimfeindlichkeit und Antiziganismus. In einem ideologischen System kann morgen jeder der Andere sein, der „falsch“ aussieht, „falsch“ glaubt oder „falsch“ liebt. Wenn Menschen verachtet werden, müssen wir uns wehren. Ich würde Demokratie vor dieser historischen Verantwortung auch als Entscheidung bezeichnen. Es ist die Entscheidung, bei Unmenschlichkeit nicht wegzusehen, sondern einzuschreiten. Konkret bei jedem einzelnen Fall von Antisemitismus, der gerade nach dem barbarischen Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober leider an vielen Stellen wieder zu sehen ist.
Auch Streiks gehören zu einer Demokratie. Welche Konsequenzen muss die Politik aus den Streiks der Landwirte ziehen?
Aigner: Streiks und angemeldete Demonstrationen gehören zu einer Demokratie; Gewalt, Bedrohungen und Nötigung sind dagegen immer falsch und ungerechtfertigt. Diese Grenze muss bei allen Protesten gewahrt bleiben. Zugleich sollte die Politik wahrnehmen, dass die Bereitschaft der Menschen, zurückzustecken und Einbußen hinzunehmen, Grenzen hat. Nur wenn die Wertschätzung stimmt und die Rahmenbedingungen langfristig planbar sind, können auch Veränderungen stattfinden. Die Politik muss für die Menschen da sein.