Die europäischen Islamdebatten der vergangenen Jahrzehnte wurden meist im Modus des Konflikts ausgetragen. Wie andere soziale Konflikte beruhen sie auf unterschiedlichen Positionierungen von Gruppen und beziehen sich auf die Frage, wie die Gesellschaft gestaltet werden soll. Angefangen mit der Islamischen Revolution im Iran 1979 und dann vor allem dem 11. September 2001 sind es meist Ereignisse im Ausland, die zu einer hohen Aufmerksamkeit für das Thema Islam im Inland führen. Sie lenken den Fokus auf Themen wie Gewalt, Radikalisierung und damit verbundene politische Ansprüche.
Daneben ging es in Islam-Konflikten um Sichtbarkeit im öffentlichen Raum in der Gestalt von Kopfbedeckungen oder Minaretten. Auch die Öffnung von Strukturen im Hinblick auf Religionsunterricht oder Wohlfahrtspflege spielten eine wichtige Rolle. In der Folge wurde darüber diskutiert, ob eine fördernde Kooperationspolitik oder eine restriktive Sicherheitspolitik zielführend ist. Schließlich handelt es sich bis heute vielfach um Steuerungskonflikte, in denen etwa Interessen der Türkei mit denen der lokalen Politik konkurrieren.
Manches konnte in den Auseinandersetzungen und Debatten geklärt werden, aber bestimmte Konfliktthemen brechen immer wieder neu auf. Der wachsende Populismus verschärft und pauschalisiert den Konflikt. Zudem zeigt ein strukturell verankerter antimuslimischer Rassismus, wie sehr sich Islam-Konflikte auf die Betroffenen sowie das gesellschaftliche Miteinander auswirken können.
Islam-Konflikte sind auch Projektionsflächen für Auseinandersetzungen um Werte, Identität und Anerkennung, Migration, Gender und Säkularität. Die ursprünglichen Konfliktgegenstände wie Minarette oder Kopfbedeckungen werden überlagert, mit anderen Debatten vermischt und stehen dann stellvertretend für Grundfragen gesellschaftlicher Orientierung. Dadurch scheint der Islam zum „Problem der Gesellschaft“ zu werden.
Islam-Konflikte erweisen sich so als ambivalent: Einerseits sind sie von pauschalen Stereotypisierungen geprägt, die Exklusion verstärken und religiös-kulturelle Faktoren einseitig ins Zentrum stellen. Andererseits gelangen dadurch Themen auf die Agenda und es werden neue Akteurinnen und Akteure in Diskurse einbezogen, darunter auch solche, die zuvor darin nur begrenzt oder überhaupt nicht partizipiert haben. Dies führt zu Empowerment und Emanzipation. Zudem helfen Konflikte der Gesellschaft, neu über ihre Grundlagen nachzudenken und sich damit selbst weiterzuentwickeln. Dabei ist es wichtig, Gegensätze und unterschiedliche Sichtweisen ernst zu nehmen und nicht vorschnell beiseitezuschieben.
Ein bedeutsamer Teil der Konfliktsoziologie, die auf Georg Simmel und Lewis Coser zurückgeht, lenkt den Blick deshalb auf positive Funktionen von sozialen Konflikten. Konflikte lassen sich in der Regel nicht beenden, aber auf unterschiedliche Weise konstruktiv regeln. Dabei stellt die Anwendung direkter Gewalt eine Grenze dar, deren Überschreiten zu destruktiven Eskalationen führt. Diskursive Formate der Konfliktaustragung, Transparenz, Versachlichung sowie eine lokale Fokussierung als Gegengewicht zur Ausweitung und Generalisierung des Konflikts bieten konstruktive Alternativen. Eine weitere Möglichkeit sind Kompromisse, durch die sich Konfliktparteien aufeinander zubewegen. Manchmal gibt es aufgrund der Machtverhältnisse einseitige Zugeständnisse, die jedoch helfen können, Vertrauen aufzubauen.
Islam-Konflikte sind vor diesem Hintergrund ein paradigmatisches Beispiel für den gesellschaftlichen Umgang mit Konflikten. Der Blick auf die Konfliktverläufe zeigt, dass Musliminnen und Muslime nicht nur Konfliktobjekte sind, sondern als Akteurinnen und Akteure auch in allgemeinen gesellschaftlichen Konflikten etwa zu sozialen oder ökologischen Fragen mitwirken können. In der Konfliktforschung ist die Einsicht gewachsen, dass Religionen nicht essenzialistisch als entweder konfliktverstärkend oder friedensfördernd angesehen werden können. Religionen fungieren als eigenständige Variable in Konflikten.
Dies ermöglicht auch eine neue Perspektive auf Werte- und Identitätskonflikte, die eben nicht unteilbar und unlösbar sind. Werte können sich wandeln und überlappen, sodass inklusive Perspektiven verschiedener Gruppen möglich sind. Auch aus der Sicht der Konfliktforschung wird die Grenze zwischen religiösen und säkularen Äußerungen durchlässiger. So verfügen Religionen über besondere Kompetenzen im Umgang mit Konflikten, weshalb sie nicht ausgeklammert und neutralisiert werden sollten, sondern an der Konfliktaustragung partizipieren sollten. Dabei lässt sich der Blick einerseits auf Akteurinnen und Akteure richten, andererseits auf theologische Reflexionen, die Konflikte ins Zentrum rücken.
Anknüpfungspunkte für Konflikttheologien finden sich in unterschiedlichen Religionen. Wenn man im Islam und im Christentum nach konfliktsensiblen theologischen Entwürfen Ausschau hält, rücken zunächst Befreiungstheologien ins Blickfeld. Diesen geht es um Machtkritik und damit um die Hinterfragung und Veränderung von Machtverhältnissen. Wichtig ist es, einerseits Machtkritik an den anderen, umgekehrt aber auch Selbstkritik an der eigenen Macht zu üben. So erweist sich die Macht Gottes als Kritik an jeglicher menschlichen Macht.
In diesem Sinne porträtiert der südafrikanische Befreiungstheologe Farid Esack den Propheten Muhammad als jemand, der Konflikte provozierte und einen Frieden hinterfragte, der auf Ungerechtigkeit basierte (An Islamic View of Conflict and Reconciliation in the South African Situation, in: Jerald Gort, Hendrik Vroom [Hg.], Religion, Conflict and Reconciliation, Amsterdam 2002, 290–297). Der türkische Theologe Şaban Ali Düzgün entwirft eine „Soziale Theologie“, die auf die Rolle des Menschen in der Geschichte und Gesellschaft ausgerichtet ist. Für ihn gibt es keine beständigen Prinzipien, da die Gesellschaft und der Mensch selbst den Ankerpunkt der Theologie ausmachen. Somit sind stetige Veränderung und damit Konflikthaftigkeit prägend.
Bereits der Vater der Befreiungstheologie, Gustavo Gutiérrez, weist kritisch auf eine Konfliktscheu hin: „Die Theologie scheint während langer Zeit eine Reflexion auf den konfliktgeladenen Charakter der menschlichen Geschichte beziehungsweise auf die Auseinandersetzung zwischen Menschen, sozialen Klassen und Ländern übergangen zu haben“ (Theologie der Befreiung, München 1973, 40). Befreiung ist hingegen konflikthaft; sie umfasst nicht nur die Befreiung von unterdrückerischen Strukturen, sondern auch eine Aufdeckung und Überwindung von Sünde, die als Trennung von Gott verstanden wird.
Neben Befreiung spielt das Paradigma der Versöhnung eine zentrale Rolle, das in religiösen wie säkularen Kontexten verwendet wird. Diese zielt auf Ausgleich und Annäherung durch einen Wandel der wechselseitigen Beziehungen. Versöhnung setzt dabei auch die Anerkennung von Gegnerinnen oder Gegnern voraus und umfasst eine tiefgründige Beziehungsänderung. Wichtig ist dabei, dass Versöhnung nicht darauf abzielt, Gegensätze und konflikthafte Aspekte zu verdecken, sondern konstruktiv mit unterschiedlichen Sichtweisen umzugehen. In diesem Sinn bedeutet Versöhnung die Möglichkeit, nicht ohne den Konflikt, sondern mit dem Konflikt zu leben. In der Versöhnung bleibt der Konflikt immer präsent und sie ist somit Arbeit am und mit dem Konflikt.
Der muslimische Friedensforscher Mohammad Abu-Nimer sieht vor diesem Hintergrund Konflikte als schöpferische Kraft, die neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Für ihn spielen individuelle Vergebung und strukturelle Versöhnung auf gesellschaftlicher Ebene eine zentrale Rolle bei der Konflikttransformation. Die Wirkung der Versöhnung beschreibt Abu-Nimer wie folgt: „Wenn Versöhnung erreicht wird, wird die Beziehung zwischen den Konfliktparteien von einem konstanten Konfliktmuster in eine neue Art der Interaktion umgewandelt oder verändert. Unter den neuen Bedingungen haben die Beteiligten ein neues Bewusstsein für ihre wechselseitige Beziehung entwickelt. Die Norm besteht nun gerade darin, den anderen einzubeziehen, anstatt ihn auszuschließen“ (Education for Coexistence in Israel. Potential and Challenges, in: Abu Nimer [Hg.], Reconciliation, Justice and Coexistence. Theory and Practice, Lanham 2001, 235–254, 246)
Für den evangelischen Theologen Wolfgang Huber, der sich sehr intensiv mit der Konfliktthematik beschäftigt hat, ermöglicht Versöhnung eine neue Sicht auf den Konflikt und ist eng mit der Feindesliebe verbunden: „Versöhnung heißt Befreiung von der Projektion, Befreiung von dem Zwang, im anderen nur das Böse und das Böse nur im anderen zu sehen“ (Protestantismus und Protest. Zum Verhältnis von Ethik und Politik, Hamburg 1987, 129). Huber stellt in seiner Versöhnungstheologie besonders heraus, dass die theologische Dimension der Versöhnung untrennbar mit der zwischenmenschlichen Dimension verbunden ist.
Gerade die Kombination von Befreiung und Versöhnung bietet die Chance eines weiterführenden Umgangs mit Konflikten im Sinne der Konflikttransformation. Wenn Versöhnung in die Tiefe geht, muss sie nämlich gerade tieferliegende Ursachen des Konflikts und Ungerechtigkeiten berücksichtigen. Umgekehrt sollte Befreiung nicht den Blick auf die Beziehung zwischen Konfliktparteien aus den Augen verlieren.
Konflikte können demnach geradezu zu Orten theologischer Erkenntnis und einer daran anknüpfenden Gestaltung des Zusammenlebens werden. Als „Zeichen der Zeit“ wird an ihnen erkennbar, welche Bedeutung Gott angesichts aktueller konflikthafter Entwicklungen der Menschheit für letztere hat oder haben könnte. Daraus gehen auch Perspektiven hervor, wie mit einer gesellschaftlichen Herausforderung umzugehen ist.
Konflikte lassen dringende Herausforderungen sichtbar werden und tragen so zum Agenda-Setting für gesellschaftliche Debatten bei. In der Auseinandersetzung mit den Konflikten gewinnt die Gesellschaft neue Perspektiven. Insofern ist der Konflikt ein „Lebenselement der Gesellschaft“ (Ralf Dahrendorf). In Konflikten lassen sich Akteurinnen und Akteure, ihr Ruf nach Solidarisierungen sowie ihr Verlangen nach Anerkennung wahrnehmen.
Konflikte sind aber auch Orte der Unterscheidung zwischen destruktiven und konstruktiven Formen der Bewältigung. So zeigen sich in ihnen Möglichkeiten, ausgrenzende Polarisierungen zu überwinden. Der Konflikt ermöglicht es, Gegensätze zu bearbeiten, anstatt diese zu ignorieren oder zu verdrängen. Insofern stellt die Fähigkeit von Gruppen und Organisationen, Konflikte auszutragen, auch ein Zeichen von Reife und gelingender Teilhabe dar.
Mit dem „Integrationsparadox“ macht der Soziologe Aladin El-Mafaalani schließlich darauf aufmerksam, dass gelungene Integration paradoxerweise nicht zu weniger, sondern zu mehr Konflikten führt. Im Konflikt werden schließlich Gemeinsamkeiten und Differenzen neu ausgehandelt. Damit bieten Konflikte auch den Raum dafür, dass die Gesellschaft ihren eigenen Rahmen für den Umgang mit Streit und Auseinandersetzungen weiterentwickeln kann. Bei alldem geht es nicht darum, Konflikte möglichst schnell zu überwinden, sondern zunächst bei diesen stehen zu bleiben und sie gründlich zu analysieren. Eine solche Konflikt- und Gesellschaftsanalyse kann dann zum Ausgangspunkt einer theologisch-ethischen Reflexion werden. Eine derartige Konflikttheologie führt Konfliktsoziologie, empirische Analysen und theologische Deutung zusammen. Konflikttheologie ist notwendigerweise öffentlich und auf den gesellschaftlichen Diskurs bezogen. Migrations- und Armutskonflikte sind Beispiele für weitere aktuelle Themenfelder.
Zugleich eröffnet eine Konflikttheologie aber auch die Möglichkeit, sich Konflikten innerhalb von Religionsgemeinschaften zu stellen, anstatt diese mit Einheitspostulaten beiseitezuschieben. Schließlich zeigt sich in sozialen Konflikten ein breiter interreligiöser Fokus und eine neue Thematik des interreligiösen Dialogs. Dialog und Konflikt sind zwei Seiten ein und derselben Medaille, wobei hier auch ein kritischer Blick auf asymmetrische Machtverhältnisse zu richten ist.
Die Dekonstruktion von Konflikten erfordert es schließlich auch, einseitige Zugehörigkeits- und Identitätszuschreibungen zu hinterfragen. In diesem Sinne führt eine Konflikttheologie zugleich zur Infragestellung eines monolithisch verstandenen interreligiösen Dialogs, indem sie unterschiedliche soziale, religiöse und weltanschauliche Konfliktlinien und Verortungen der Konfliktparteien sichtbar macht. Am Ende steht ein unübersichtliches und uneindeutiges Feld. Dies erfordert es, sich selbst und andere in komplexen Selbstverständnissen zu verorten und Ambivalenzen auszuhalten.