Kirchenbauten als Erbe Europas bewahrenDie Glocke hat geschlagen

Durch den Bedeutungsverlust der Kirchen als Institution droht ein Kahlschlag in der Kirchengebäudelandschaft. Dabei sind Kirchenbauten weit mehr als religiöse Orte. Ihr Erhalt muss gemeinsames Ziel von Kirchen, Staat und Zivilgesellschaft sein.

Kirchturm in Italien
© Unsplash

Kirchen und ihre Ausstattungen gehören zu den wichtigsten Zeugnissen des Kulturerbes in Europa. Doch die christlichen Gemeinschaften sehen sich zunehmend nicht mehr in der Lage, diesen wertvollen Bestand zu erhalten. Immer weniger Gläubige nutzen die Räume, die Kirchensteuereinnahmen sinken, immer mehr Bauten werden außer Gebrauch gestellt oder gar abgerissen. Kirchenräume sind jedoch Common Spaces – viele Menschen haben oft über Jahrhunderte zu diesem Gemeingut beigetragen. Wer diese Bauten heute allein privatwirtschaftlich als Immobilien betrachtet, beraubt die Communitas. Staat und Gesellschaft können und dürfen sich ihrer historisch begründeten Verantwortung für dieses kulturelle Erbe nicht entziehen. Deshalb rufen wir dazu auf, der neuen Lage mit neuen Formen der Trägerschaft zu begegnen: mit einer Stiftung oder Stiftungslandschaft für Kirchenbauten und deren Ausstattungen.“

Mit dieser Präambel beginnt das „Kirchenmanifest“, das am 11. Mai 2024 veröffentlicht wurde (www.kirchenmanifest.de). Initiiert und erarbeitet wurde es von zehn Akteurinnen und Akteuren, die sich aus verschiedenen Perspektiven seit geraumer Zeit in diesem Feld engagieren: als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Kunstgeschichte, Kultureller Bildung, Geschichte und Theorie der Architektur, evangelischer und katholischer Theologie, als Verantwortliche in einschlägigen Projekten (unter anderen: „Kirchturmdenken“), in Institutionen und Vereinen (Rheinischer Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz, Westfälischer Heimatbund, Baukultur Nordrhein-Westfalen), als große, bundesweit agierende Stiftungen (Bundesstiftung Baukultur, Deutsche Stiftung Denkmalschutz).

Zunächst bewusst nicht eingebunden – wiewohl es selbstverständlich Hintergrundgespräche gab – waren exekutive Politiker und Politikerinnen, Personen aus Kirchenleitungen sowie amtliche Denkmalpflegerinnen und Denkmalpfleger. Sie gehören auch nicht zum Kreis der 75 Erstunterzeichnenden, in dem ein breites Spektrum an Persönlichkeiten und Vereinigungen zusammenkommen. Seit Mai steht das „Kirchenmanifest“ allen Interessierten zur Unterzeichnung offen. Inzwischen spielen die anfänglichen strategischen Einschränkungen keine Rolle mehr, vielmehr hat sich der Kreis der Beteiligten insgesamt deutlich geweitet. Unter den Unterstützerinnen und Unterstützern finden sich Kirchennahe und Kirchenferne, die sich gemeinsam zu dem Anliegen des „Kirchenmanifests“ bekennen: „Kirchen sind Gemeingüter“.

Aufgabe der Hälfte aller Kirchengebäude in Deutschland

2017 gab es annähernd 45.000 Kirchen in Deutschland, etwa 20.500 evangelische und etwa 24.000 katholische (Bundesbaukulturbericht 2018/19, 87–89). Aus verstreuten Angaben lässt sich hochrechnen, dass dieser Bestand in den nächsten zehn Jahren um 50 Prozent reduziert werden wird. Zur Disposition gestellt sind damit 20.000 Kirchenbauten. Die meisten davon sollen entwidmet beziehungsweise profaniert werden, um sie einer neuen Funktion zuzuführen. Das Spektrum reicht von kulturellen Nutzungen bis hin zu privaten Wohnungen.

Ungeliebt sind weithin die Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne; sie sind vielerorts vom Abriss bedroht. Dieser Prozess ist in vollem Gange. Das Projekt „invisibilis“, das bedrohte moderne Kirchen sichtbar macht, ergänzt gegenwärtig seine Liste beinahe täglich (www.moderne-regional.de/kirchen). Nachgerade gespenstisch mutet es an, dass in der öffentlichen Debatte zwar Einzelfälle besprochen werden, aber kaum ein Gesamtbild gezeichnet wird. Zur Rede steht nichts weniger als eine grundstürzende Umformation europäischer Kulturlandschaften, Dörfer, Städte und Stadtquartiere in Deutschland.

Hier setzt das „Kirchenmanifest“ an. Es appelliert an Kirchen, Staat und (Zivil-)Gesellschaft, sich zu einer Verantwortungsgemeinschaft zusammenzuschließen und nach neuen gemeinschaftlichen Trägerschaftsmodellen – Stiftungen oder Stiftungslandschaften – für Kirchenbauten zu suchen. Ziel ist eine aktive und kooperative Gestaltung von Wandel und Transformation. Dies soll auf eine Weise geschehen, die diese genuin gemeinschaftlichen und öffentlichen Bauten und Räume inklusive ihrer Ausstattungen, zu denen nicht zuletzt die Glocken und vor allem die Orgeln gehören, für eine gewandelte Öffentlichkeit erhält und weiterbaut und sie als „Ressource friedlichen Zusammenlebens“ begreift und ausgestaltet, so die Formulierung der Konvention von Faro, des „Rahmenübereinkommens des Europarats über den Wert des Kulturerbes für die Gesellschaft“ von 2005.

Oft stehen das Verständnis von Kirchenbauten und ihren Ausstattungen als allein religiöse Orte einerseits und eine Codierung als kulturelles Erbe andererseits unverbunden nebeneinander. Schlimmstenfalls stoßen sie einander ab. Dann erhebt Liturgie den Anspruch auf den gesamten Ort, während zugleich Kunstgeschichte religiöse Sinnstiftungsprozesse ausblendet. Längst werden wissenschaftlich andere Zugänge formuliert. Allzu oft jedoch finden diese nicht den Weg an die konkreten Orte und in die öffentlichen Debatten. Theologische Forschungen haben durchaus etwas zu Räumen und Objekten zu sagen. Die Kunstgeschichte ihrerseits hat insbesondere in den vergangenen 25 Jahren zahlreiche Studien vorgelegt, die die historischen Kontexte christlicher Kunst herausarbeiten. Problematisch bleibt allerdings, wenn sich diese Zugänge und Verständnishorizonte voneinander oder mehr noch: gegeneinander abgrenzen.

Entscheidend ist vielmehr ein Verständnis von Kirchen und ihren Ausstattungen als doppelt codierte Orte. Neben die religiöse Bedeutung der Kirchenbauten ist spätestens in der Moderne eine kulturelle Bedeutung getreten. In religiöser Codierung sind sie Orte der Geschichte der Menschen mit Gott, und es eignet ihnen eine zweite Codierung als kulturelles Erbe. Diese Codierung ist strikt säkular. Beide Codierungen stehen gleichberechtigt nebeneinander und sind an den konkreten Orten vielfach und komplex verflochten.

Kirchenbauten sind regelmäßig die ältesten Bauten am Ort, sie sind Zeugen einer Geschichte vor Ort – und immer zugleich Knotenpunkte eines weiten Netzes. Schon die Patrozinien verknüpfen Orte quer durch Europa, Wallfahrtswege schufen und schaffen Verbindungslinien, Klosterfiliationen überspannen die Länder; Familienverbünde, etwa der hansischen Fernkaufleute, beziehen sich aufeinander zwischen Reval (Tallinn) und Brügge, zwischen Bergen, Dortmund und Köln.

Über Jahrhunderte und viele Generationen hinweg haben Menschen zu Bau und Ausstattung von Kirchen und Kapellen beigetragen, haben ihr Familiengedächtnis mit den Orten verwoben. Und sie haben diese Räume zu vielschichtigen Gedächtnisorten gemacht – bis hin zum Gedächtnis an die gefallenen Gemeindemitglieder der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Kirchen gehören zu jedem Dorf und jeder Stadt; sie markieren mithin die Europäizität der Dörfer und Städte zwischen Sizilien und Irland, zwischen Portugal und der Ukraine. Diese Tatsache bleibt unbenommen, auch wenn – das sei ausdrücklich gesagt – Sakralräume anderer Religionen ebenfalls fest zur Topografie Europas gehören.

Die Kirchen sind die größten Überlieferungsträger Europas, bewahren sie doch vermutlich mehr Kunstschätze als die Museen; sie sind Kunstorte jenseits – oder diesseits – der Metropolen. Gerade in ländlichen Regionen sind sie Ankerpunkte der kulturellen und sozialen Infrastruktur. Aus ihrer Geschichte erwächst Verantwortung – eine Verantwortung, die nur eine geteilte sein kann: geteilt und gemeinsam angenommen von Kirchen, Staat und (Zivil-)Gesellschaft.

Es geht um viel. Es geht zunächst und konkret um den Erhalt der Kirchenbauten als kulturelles Erbe über die Gegenwart hinaus. Es geht hierbei auch um das Eingeständnis der „Unverfügbarkeit“ (Hartmut Rosa): nicht über diese Bauten, Räume und Ausstattungen in einer Weise zu verfügen, dass sie unwiederbringlich als Gemeingüter verloren gegeben werden. Sie gehören allen, auch künftigen Generationen.

Die ältesten Kirchenbauten in Deutschland stammen aus dem vierten Jahrhundert, aus der Zeit Kaiser Konstantins und der Christianisierung im Römischen Reich. Die jüngsten wurden im 21. Jahrhundert erbaut. Noch diese Bauten schreiben sich ein in die lange Tradition. Erfahrbar werden in Kirchenräumen Zeitdimensionen, die die alltägliche Zeiterfahrung und das kommunikative Familiengedächtnis weit überschreiten. Sie verkörpern eine Geschichte, in die jede Generation von Neuem eintreten kann. Sie bieten für Menschen, die zuwandern, Beheimatung an, wenn diese zu der Geschichte des Ortes, an dem sie nun leben, Zugehörigkeit entfalten.

Solche Teilhabe setzt die bewusste Öffnung – die Teilgabe – der Kirchenräume für alle voraus, unabhängig etwa von Herkunft, Religion, Ethnie, Geschlecht, sexueller Orientierung, wie es die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ fordert: „Jeder Mensch hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben“ (Art. 27,1).

Das „Rahmenübereinkommen des Europarates über den Wert des Kulturerbes für die Gesellschaft“ (Konvention von Faro, 2005) faltet aus, dass das Recht auf kulturelle Teilhabe das Recht auf Teilhabe am kulturellen Erbe einschließt, und beschreibt den Wert des Kulturerbes für die diversen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts.

Kirchengebäude sind Teil des Kulturerbes der Menschheit

Hier heißt es unter anderem: „Die Vertragsparteien verpflichten sich: a. Jeden Menschen zu ermutigen: sich am Prozess der Identifizierung, des Studiums, der Interpretation, des Schutzes, der Erhaltung und der Darstellung des Kulturerbes zu beteiligen; sich am öffentlichen Nachdenken und an der öffentlichen Debatte über Möglichkeiten und Herausforderungen, die das Kulturerbe bietet, zu beteiligen; (…) d. Maßnahmen zu ergreifen, um den Zugang zum Kulturerbe zu verbessern, insbesondere für junge Leute und für benachteiligte Personen, damit das Bewusstsein geweckt werden kann für seinen Wert, für die Notwendigkeit, es zu unterhalten und zu bewahren, sowie für die Vorzüge, die aus ihm gewonnen werden können“ (Art. 12: Zugang zum Kulturellen Erbe und demokratische Teilhabe).

Die Konvention von Faro auch in Deutschland anzuerkennen, muss ein Ziel sein. Doch schon jetzt sind diese Werte etwa auch in der „Neuen Urbanen Agenda“ der Vereinten Nationen (2016) fest verankert: „Wir verpflichten uns zur nachhaltigen Nutzung des materiellen und immateriellen Natur- und Kulturerbes in Städten und menschlichen Siedlungen, soweit angemessen, durch eine integrierte Stadt- und Raumpolitik und ausreichende Investitionen auf nationaler, subnationaler und kommunaler Ebene, mit dem Ziel, die kulturellen Infrastrukturen und Stätten, Museen, indigenen Kulturen und Sprachen sowie traditionelles Wissen und die Künste zu schützen und zu fördern, unter Hervorhebung ihrer Rolle bei der Sanierung und Neubelebung städtischer Gebiete und bei der Stärkung der gesellschaftlichen Teilhabe und des bürgerschaftlichen Engagements“ (Art. 38).

Möglicherweise – das jedenfalls ist zentrales Ziel des „Kirchenmanifests“ – öffnet sich für den Erhalt von Kirchenbauten und ihren Ausstattungen doch noch ein Kommunikations- und Gestaltungsraum, in dem neue kooperative Trägerschaften erarbeitet werden: ein Raum für eine Verantwortungsgemeinschaft aus Staat, (Zivil-)Gesellschaft und Kirchen. Es steht viel auf dem Spiel.

Ein Nachsatz sei erlaubt: Der amerikanische Philosoph Jonathan Lear hat 2006 von einer „Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung“ gesprochen. Die deutsche Ausgabe dieses Buches (2020) trägt den Titel „Radikale Hoffnung“.

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