Nur noch ein Job“ – so überschrieb der unlängst verstorbene Journalist Jürgen Busche den Rücktritt von Papst Benedikt XVI. im Jahre 2013. 150 Jahre nach dem heftig umstrittenen Unfehlbarkeitsdogma habe der Stellvertreter Christi auf Erden so gehandelt wie der Chef einer weltumspannenden Firma, der sich überfordert fühle: „Wir sind Mensch.“ So titelte die Bild-Zeitung damals und konterkarierte damit ihre Schlagzeile zur Papstwahl im Jahre 2005: „Wir sind Papst.“
Der amerikanische Präsident Joe Biden verknüpfte seine Rücktrittsankündigung mit der Aussage, in seinem Land regierten nicht Könige oder Diktatoren, sondern das Volk. Er stelle sein Amt nicht in den Dienst seines Egoismus oder seines persönlichen Ehrgeizes, sondern in den Dienst des Volkes und der Rettung der Demokratie. Er vergaß nicht, die Vorzüge eines Landes hervorzuheben, in dem einem stotternden Jungen aus bescheidenen Verhältnissen das Präsidentenamt offenstehe. Wie schwer ihm sein Rücktritt fiel, sparte er aus.
Arno Geiger hat mit seinem Roman „Reise nach Laredo“ einen scheinbar historischen Stoff und zugleich ein aktuell brisantes Thema aufgegriffen: den Rücktritt vom Amt. Es handelt sich um den Rücktritt Kaiser Karls V. im Jahre 1556 und um dessen Rückzug in das abgelegene spanische Kloster Yuste.
Auf dieses Thema kam Geiger durch einen Zufallsfund in den Papiertonnen Wiens. Die diesbezüglichen Exkursionen hat er in seiner Erzählung „Das glückliche Geheimnis“ (2023, vgl. HK, September 2023, 52) bereits ausführlich beschrieben. In einem so aufgefundenen Buch entdeckte er einen Text von Matthias Claudius, der den Anstoß für den Roman gab, so erzählte er mir nun.
Claudius hatte im „Wandsbeker Boten“ Karl V. als einen resignierten Herrscher geschildert, der trüben Todesgedanken verfiel. Er legte sich in einen Sarg, wie eine Leiche gekleidet, und ließ Geistliche das Requiem für seine Seele feiern, während er im Sarg inbrünstig mitbetete.
Geiger allerdings zeichnet ein ganz anderes Bild des zurückgetretenen Kaisers. Man könnte es mit „das glückliche Geheimnis Kaiser Karls V.“ überschreiben. Karl musste demnach herausfinden, wer er ohne die abgelegte Krone als Person überhaupt war. Das wollte ihm nicht so recht gelingen. Deshalb begab er sich ins Kloster Yuste, um Selbstbetrachtung zu üben, sich Gewissensprüfungen zu unterziehen und inneren Frieden zu finden. Doch waren das alles Begriffe, die nicht so recht zu seinem Befinden zu passen schienen. Und so begab er sich zusammen mit dem elfjährigen Geronimo auf eine abenteuerliche Entdeckungsreise, der Reise zu sich selbst.
Es ist eine Reise, die ebenso anspruchsvoll ist wie das Lenken eines Reiches, in dem die Sonne nicht untergeht. Und es spielt keine Rolle, ob diese Reise nur geträumt oder wirklich erlebt ist.
Zurücktreten heißt, die Macht anderen zu überlassen und die Welt laufen zu lassen ohne Allmachtsgefühle, auch wenn es Stimmen gibt, die behaupten: Ein König solle nicht zurücktreten, das sei ein Zeichen der Schwäche. So ist die Reise nach Laredo nicht nur eine Reise in den geografischen Ort Nordspaniens, sondern auch in den metaphorischen Ort des Countrysongs „The Streets of Laredo“ von Johnny Cash, in dem es um Schuld und eigene Unzulänglichkeiten geht: „I know I’ve done wrong“.
Der Roman durchmisst die Abgründe des Lebens. Er ist voller Zärtlichkeit und Schönheit. Auf die Frage nach Schönheit wusste Albrecht Dürer keine Antwort, Karls Frau Isabel dagegen schon: „Schönheit finden wir nur in den Dingen, die beinahe schön sind“ (126). Die zärtlichste Szene: Geronimo, der nicht weiß, dass er der Sohn von Karl ist, rasiert seinen Vater, der ihn fragt, wie er sein Gesicht finde. Ganz normal, nur die Falten seien hinderlich und in den Ohren seien lange, störrische Haare. Die Haare in den Ohren würden ihm am besten gefallen. Karl flüstert: „Yo el rei.“ So hatte er als König seine spanischen Briefe unterschrieben. Nun wisse er: „Jeder Mensch ist ein zurückgetretener König“ (130).
Man fühlt sich bei dieser Szene an Arno Geigers Buch über seinen dementen Vater „Der alte König in seinem Exil“ (2011) erinnert. Nicht nur ist jeder Mensch ein zurückgetretener König. Auch ein König kann noch Mensch werden durch seinen Rücktritt.
Die „Bild“-Zeitung hatte also doch recht mit ihrer Headline nach dem Rücktritt von Papst Benedikt XVI.: „Wir sind Mensch.“ Ein bewegendes Buch. Arno Geiger ist auf dem Höhepunkt seines Erzählens angekommen.