Ein Gespräch mit Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther„Radikale Parteien schwächen“

Der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein gehört zu den Politikern mit den besten Wahlergebnissen. Wie hat sich das Verhältnis zwischen der CDU und den Kirchen entwickelt und was bedeutet das für die Zukunft der Union in einer sich ausdifferenzierenden Parteienlandschaft?

Daniel Günther und Stefan Orth
© privat

Herr Ministerpräsident Günther, in den Diskussionen zum neuen Grundsatzprogramm Ihrer Partei ging es zuletzt wieder um die Frage, welche Rolle dezidiert christliche Positionen spielen sollen. Was sind aus Ihrer Sicht die entscheidenden Impulse des Christentums für die CDU?

Daniel Günther: Ich bin in die CDU eingetreten, weil für die Partei die christlichen Grundwerte wichtig sind und sich diese auch im Programm widerspiegeln. Nächstenliebe ist wichtig. Es muss generell um den Respekt vor den Menschen gehen, auch vor der Schöpfung. Allein davon leitet sich vieles ab. Positionen, die die CDU im Grundsatz vertritt, dürfen nicht im Widerspruch dazu stehen. Wenn wir solche Diskussionen führen, prüfe ich immer sehr kritisch, ob ich das Ergebnis auch vor dem Hintergrund meines christlichen Glaubens vertreten kann. Das kann ich bei diesem Grundsatzprogramm guten Gewissens tun, auch wenn ich weiß, dass manches selbst innerhalb meiner katholischen Kirche kontrovers diskutiert wird. Das muss man in einer Demokratie aushalten.

Wo sind umgekehrt die harten Grenzen der Positionierung, an denen sich für Sie dann das Christliche entscheidet?

Günther: Ich bin bisher zumindest innerhalb meiner Partei noch nicht an diese Grenzen gestoßen. Aber es ist auch nicht so, dass man zwingend eine kirchliche Bindung braucht, um christliche Grundwerte und die Überzeugungen, über die ich gesprochen habe, richtig zu finden. Die CDU ist keine Partei, die ausgrenzt, sondern die Ziele beschreibt, die den Entfaltungsraum dieser Grundwerte eröffnet. Dazu gehören deshalb auch Menschen, die sich keiner christlichen Konfession zugehörig fühlen oder nicht an Gott glauben. Und natürlich ist die Union auch offen für alle anderen Glaubensrichtungen. Das muss man zwar manchmal erklären, weil sich Menschen anderen Glaubens manches Mal fragen, ob die CDU nicht nur eine Partei für Christinnen und Christen sei. Nein, natürlich nicht. Im Gegenteil: Wir sind für alle Menschen offen, die sich zu den christlichen Grundwerten und den daraus folgenden Überzeugungen bekennen können. Und aus meiner Sicht gelingt es uns, hier in der Breite ein Angebot zu machen. Deswegen können wir uns zu Recht auch noch die einzig verbliebene Volkspartei in Deutschland nennen.

Braucht es dafür zwingend das C im Namen? Es gibt in anderen Ländern wie beispielsweise in der Schweiz Entwicklungen, dass ehemals sich christlich nennende Parteien darauf verzichtet haben …

Günther: Das C kann man mit Sicherheit kontrovers diskutieren. Aber ich gehöre zu denjenigen, und ich fühle mich da in einer deutlichen Mehrheit in der Union, die das C richtig und wichtig finden – auch aus unserer Historie heraus. Am Anfang unserer Parteiengeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg hat man bewusst entschieden, dieses Christliche im Namen zu benennen, um konfessionsübergreifend eine Union zu gründen und nicht allein in der Nachfolge der katholischen Zentrumspartei zu stehen. Heute sind wir deutlich säkularisierter, aber ich sehe darin eine Erfolgsgeschichte. Es ist sehr wichtig, diese Tradition hochzuhalten, zumal es sich weiterhin um eine gute, schnelle und griffige Erklärung handelt, wofür die Partei steht. Diese Erkennbarkeit ist etwas sehr Positives, auch wenn die Kirchenbindung in unserem Land eher schwächer als stärker wird.

Wie ist das konkret hier in Schleswig-Holstein? Sie sind katholischer Ministerpräsident eines Landes, das stärker evangelisch geprägt ist. Welche Rolle spielen die konfessionellen Einflüsse?

Günther: Wir 180.000 Katholikinnen und Katholiken befinden uns in Schleswig-Holstein mit seinen mehr als 2,9 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern schon in einer deutlichen Minderheit. Der Anteil der evangelischen Christinnen und Christen liegt in unserem Land bei 45 Prozent. Ich bin mein gesamtes, nicht nur mein politisches Leben von der Diaspora geprägt worden. Dazu gehörte beispielsweise die Suche nach Angeboten für Kommunion- oder Firmunterricht. Ich kenne es nur so, in der Minderheit zu sein. Aber das ist schon lange kein kontroverses Thema mehr. Und heute gibt es eine wirklich breite, positive Zustimmung in beiden Kirchen zur Ökumene. Die evangelische und die katholische Kirche harmonieren in Schleswig-Holstein in allen Bereichen extrem gut – bis zum Religionsunterricht, der bei uns immer noch konfessionsgebunden stattfindet. Tag für Tag vertreten die Kirchen ihre Positionen vielfach gemeinsam.

Hat sich umgekehrt mit Blick auf die politischen Äußerungen der Kirchen in den vergangenen Jahrzehnten etwas Entscheidendes verändert? Sind diese insbesondere gegenüber den Unionsparteien kritischer geworden?

Günther: Hier gibt es einen steten Wandel, seitdem ich in der Politik bin. Die katholische Kirche wurde in der Tat früher stärker unionsorientiert wahrgenommen. Gerade in den Anfangszeiten meiner politischen Laufbahn wurde auch innerhalb der CDU gelegentlich durchaus kritisch auf die evangelische Kirche geguckt, die sich in bestimmten Fragen nicht unbedingt zustimmend zu den Anliegen der CDU geäußert hat. Ich finde es eher bedauerlich, dass der Einfluss und die Bindungskraft von Kirchen zurückgehen. Aber in dieser Situation nehme ich interessanterweise wahr, dass innerhalb der Union der Kontakt zu den Kirchen beider Konfessionen deutlich stärker gesucht wird. Hier in Schleswig-Holstein ist er ausgesprochen herzlich, sodass wir auf allen Themenfeldern sehr gut zusammenarbeiten. Wir haben heute viele gesellschaftliche Konflikte, da nehme ich beide Kirchen als extrem stabilisierenden Faktor wahr.

An welche Beispiele denken Sie?

Günther: Ob das in Corona-Zeiten gewesen ist, als die Kirchen bei vielen schwierigen Entscheidungen dafür gesorgt haben, dass die Gesellschaft beieinander bleibt, oder jetzt während des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine mit all den Veränderungen in unserem Land … Wir müssen uns wieder stärker positionieren und zum Beispiel über die Wehrdienstpflicht diskutieren. Das Gespräch mit beiden Kirchen ist hier sehr wichtig. Viele in der CDU teilen diese Überzeugung.

Wie sieht das von der anderen Seite aus? Sie sind Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, das früher als Gremium sehr stark unionsdominiert war. Seit längerem ist da die Breite der Parteienlandschaft vertreten, von den Extremen abgesehen. Kritiker sagen, inzwischen gibt es eine zu große Nähe zur aktuellen Bundesregierung. Beim Katholikentag in Erfurt wurde darüber diskutiert, ob die CDU zu wenig präsent ist.

Günther: Ich war leider auch nicht präsent und muss mir das selbst ebenso anheften.

Sind Sie eingeladen gewesen für ein Podium?

Günther: Ja, natürlich hätte es die Möglichkeit zur Teilnahme gegeben, aber ich war terminlich im Land gebunden. Meiner Wahrnehmung nach hat das Zentralkomitee der deutschen Katholiken keine parteipolitische Präferenz, auch nicht gegenüber der Union. Es ist schon sehr divers aufgestellt, die Präferenzen sind keinen politischen Lagern zuzuordnen. Ich empfinde diese Arbeit als sehr positiv.

Konkret nachgefragt: Anfang Mai haben die für Flüchtlinge zuständigen Bischöfe der beiden großen Kirchen, also der Hamburger Erzbischof Stefan Heße und der Berliner Landesbischof Christian Stäblein, sich sehr kritisch zur neuen migrationspolitischen Positionierung der CDU geäußert und auch von Inhumanität gesprochen. Hat Sie das geärgert?

Günther: Nein, ich stimme ihrer Kritik nicht zu, aber geärgert habe ich mich nicht. Erzbischof Heße kenne ich aus persönlichem Erleben sehr gut und er beeindruckt mich nicht nur als Bischof, sondern auch in seiner Tätigkeit als Beauftragter für das Thema Migration innerhalb der Deutschen Bischofskonferenz. Hier teile ich auch viele seiner Positionen. Trotzdem bin ich in diesem Konflikt der Position der CDU deutlich näher als der meiner katholischen Kirche. Die aus dem Glauben erwachsende Einstellung der Kirchen, Menschen helfen zu müssen, die vor Krieg fliehen und zum Teil aus bitterer Not zu uns kommen, halte ich für gut und wichtig. Aber ich glaube, dass Kirchen nicht ausblenden dürfen, dass die Integrationsfähigkeit Grenzen hat. Es ist wichtig, dass eine Partei das artikuliert und wir Dinge, die bei diesem Thema nicht gut laufen, auch öffentlich klar ansprechen, so wie wir das mit unserem Programm getan haben. Aus meiner Sicht ist das absolut vereinbar mit christlichen Grundsätzen.

Inwiefern?

Günther: Bei Menschen, die vor Kriegen fliehen, gibt es aus christlicher Verantwortung heraus keinen Zweifel daran, dass ihnen Hilfe und Zuflucht gewährt werden muss. Wenn Menschen sich aus anderen Gründen auf den Fluchtweg begeben und keine Aussicht auf ein Aufenthaltsrecht oder eine Duldung haben, ist das etwas anderes. Wir müssen deutlich konsequenter unterscheiden, wenn wir weiterhin eine vernünftige Integration auch nach den Maßstäben der christlichen Kirchen leisten wollen. Über eine Steuerung und eine Begrenzung von Migration müssen wir sprechen – und das ist auch aus christlicher Verantwortung heraus möglich.

Sie haben sich mehrfach zum Begriff Leitkultur bekannt. Welche Rolle spielt dabei für Sie das Christliche?

Günther: Ich störe mich nicht an dem Begriff und kann dem Gedanken, dass man sich an einer Leitkultur orientieren kann, viel abgewinnen. Von Werten geleitet zu werden, ist doch etwas Positives. Zu den Dingen, die Orientierung geben, gehört natürlich in erster Linie unser Grundgesetz. Aber es gelten eben auch bestimmte tradierte Werte, nach denen sich alle richten müssen, die in unserem Land dauerhaft leben wollen. Wer sich daran nicht orientieren möchte, passt wiederum nicht zu unserer Gesellschaft. Das auszusprechen bedeutet aus meiner Sicht, politisch Verantwortung zu übernehmen. Wenn wir sie tragen wollen, müssen die Menschen wissen, für welche Werte wir stehen und was wir von der Gesellschaft erwarten. Deshalb benutze ich den Begriff ohne Scheu.

Was heißt das konkret für Muslime beziehungsweise für Menschen aus muslimisch geprägten Herkunftsländern, die in den letzten Jahrzehnten zahlreicher geworden sind?

Günther: Dass sie im Rahmen dieser Leitkultur in unserem Land sehr gut eine Heimat finden können. Die bei uns über Jahrzehnte gewachsenen Grundsätze gelten für alle Menschen, gleich welchen Glaubens.

Sie haben sich angesichts der aktuellen Entwicklungen mehrfach zum Thema Dienstpflicht geäußert. In den Kirchen, nicht zuletzt in den Wohlfahrtsverbänden, gibt es die Überzeugung, dass mit Blick auf viele gesellschaftliche Bereiche, wie beispielsweise in Alters- und Pflegeheimen, ein Pflichtdienst kontraproduktiv wäre.

Günther: Für eine Dienstpflicht werbe ich schon seit längerer Zeit aus Überzeugung. Angesichts der geänderten Bedrohungslage, seitdem wieder Krieg auf unserem Kontinent herrscht, halte ich eine Wehrpflicht für geboten, als Übergangsmodell hin zu einer allgemeinen Dienstpflicht. Ich finde, es ist in einer Gesellschaft absolut wichtig und richtig, nicht nur über Rechte, sondern auch über Pflichten zu sprechen. In einer Gemeinschaft kann man nur zusammenleben, wenn man bereit ist, ihr auch etwas zu geben. Der Pflichtgedanke ist auch aus christlicher Sicht nichts Negatives, deshalb verstehe ich manche Diskussionen nicht. Auch in den Kirchen gibt es unterschiedliche Meinungen dazu, die alle legitim sind. Aber ich glaube, dass Menschen, die einen Pflichtdienst leisten, eine Bereicherung sein können. Für manche ist der Dienst in der Bundeswehr das Richtige, für andere der Dienst im Altersheim. Es gibt genügend Anwendungsmöglichkeiten für einen Pflichtdienst in der Gesellschaft. Es ist sicher klug, eine möglichst breite Palette anzubieten, damit jede und jeder sich mit den eigenen Eigenschaften und Vorlieben einbringen kann.

Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft spiegelt sich auch in einem breiteren Spektrum in der Parteienlandschaft wider. In den vergangenen Jahren ist eine Reihe neuer Parteien hinzugekommen. Was bedeutet das für die CDU mit ihrer Tradition als Volkspartei?

Günther: Dass die Parteienlandschaft zersplittert, ist in jedem Fall nichts Positives. Ganz im Gegenteil. Die immer geringer werdende Bindungskraft von politischen Parteien, aber auch von gewachsenen gesellschaftlichen Institutionen stellt für die Gesellschaft insgesamt ein Problem dar. Diese Bindung müssen wir wieder stärken. Denn die aktuelle Entwicklung führt dazu, dass wir eine stärkere Individualisierung erfahren, gepaart mit weniger Diskurs. Gesellschaftliche Institutionen sorgen automatisch dafür, dass Menschen mit unterschiedlichen Einstellungen und Ansichten dazu gezwungen werden, sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen. Das war in der Vergangenheit immer ein Segen und sollte unbedingt auch in Zukunft so sein. Es ist gut, wenn viele beispielsweise beim Kirchenbesuch zusammen sind, auch wenn sie von völlig unterschiedlichen Standpunkten ausgehen, und sich miteinander austauschen. Das führt eine Gesellschaft zusammen. Wenn es diese Orte der Begegnung nicht mehr gibt, sind Menschen weniger bereit, gewachsene demokratische Institutionen zu unterstützen. Das ist ein Trend, den ich für bedauerlich und auch gefährlich halte.

Was wäre zu tun, gerade wenn man an die AfD in den östlichen Bundesländern denkt? Die Wahlen im September könnten die politische Landschaft in Deutschland weiter durcheinanderrütteln.

Günther: Das ist durchaus möglich, deshalb ist der Einsatz der demokratischen Parteien wichtig, um sich dem in den Weg zu stellen. Ich bin davon überzeugt, dass es am besten ist, mit den Menschen zusammenzukommen und das persönliche Gespräch zu suchen – trotz oder gerade wegen der Sozialen Netzwerke. Es hat mitunter eine heilende Wirkung, sich mit Personen auseinanderzusetzen, die eine vollkommen andere Einstellung haben. Das grenzt dann auch den Spielraum von radikalen Kräften wie der AfD ein, die davon leben, den Leuten Dinge zu erzählen, die schlicht nicht stimmen. Je mehr man miteinander redet, desto mehr kann man das aufbrechen. Das ist kein Allheilmittel angesichts der bevorstehenden Wahlen, aber ein Schlüssel, wie wir radikale und populistische Parteien deutlich schwächen können.

Sollte die CDU zur Not also auch, wenn es das Wahlergebnis nahelegt, mit der Partei der Linken koalieren, um die AfD zu verhindern?

Günther: Ich bin da sehr zurückhaltend, aus schleswig-holsteinischer Sicht einen Rat zu geben. Wir sind hier in der glücklichen Lage, dass wir als Partei über 43 Prozent geholt haben. Im Landtag sitzen nur demokratische Parteien, mit allen hätte die CDU ohne Verletzung von Grundsatzbeschlüssen sofort koalieren können. Wir haben keine AfD, keine Linkspartei im Parlament. Aber die Lage ist häufig komplizierter. In solchen Situationen hat sich die CDU ja schon verschiedentlich entscheiden müssen. Aus meiner christlichen Überzeugung heraus ist es in jedem Fall das Wichtigste, dass wir nichts mit Rechtsradikalen eingehen. Schon aufgrund der historischen Verantwortung ist die CDU ein Bollwerk gegen nationalsozialistische und rechtsextreme Umtriebe, sie wurde deshalb gegründet. Von daher ist für mich völlig klar, dass wir gegenüber der AfD klare Kante fahren müssen, damit diese Partei niemals in einem Land oder auf Bundesebene Regierungsverantwortung übertragen bekommt. Dem hat sich vieles unterzuordnen. Ich bin der Meinung, dass es keine Äquidistanz zur AfD und zur Linkspartei gibt. Das ist Konsens bei uns in der CDU. Meine Parteifreundinnen und -freunde werden nach der Wahl aber kluge Entscheidungen treffen. Dazu braucht es keine Empfehlung von außen, wie mit einem Wahlergebnis umzugehen ist.

Wie zentral ist der Glaube für Ihr politisches Engagement?

Günther: Für mich ist er eine wichtige Motivation. Ich war allerdings nie jemand, der seinen Glauben wie eine Monstranz vor sich hergetragen hat. Auch wenn die Religion und der christliche Glaube für mich etwas Wichtiges sind, muss ich diese Überzeugung nicht bei jeder Entscheidung, die ich treffe, öffentlich erklären. Ich prüfe aber bei wichtigen Entscheidungen immer, ob ich sie mit meinem christlichen Glauben verantworten kann. Ansonsten könnte ich sie nicht treffen. Während der Corona-Pandemie mussten wir entscheiden, ob man Angehörige im Altenheim besuchen darf. Das war eine wahnsinnig schwierige Abwägung, weil sie zur Folge hatte, dass Menschen sich nicht mehr voneinander verabschieden konnten. Solch eine Entscheidung kann ich nicht treffen, ohne daran zu denken, dass man sich vor Gott dafür rechtfertigen muss.

Ihr konkretes kirchliches Engagement aber konnten Sie als Ministerpräsident nicht mehr fortsetzen …

Günther: Immerhin bin ich im Zentralkomitee der deutschen Katholiken … aber nicht mehr im Kirchengemeinderat in Eckernförde. Ich war früher auch im Caritasrat. Solche Funktionen kann und darf man jedoch nicht parallel ausüben. Das ist mir nicht leichtgefallen, war allerdings eine notwendige Konsequenz. Aber das ändert ja nichts daran, dass ich trotzdem gerne in die Kirche gehe.

Hat der Missbrauchsskandal Ihren Blick auf die katholische Kirche, auf beide Kirchen verändert?

Günther: Es ist schon eine besonders schwere Schuld, die die Kirchen und gerade die katholische Kirche auf sich geladen haben. Es ist immer ein Stück weit ein individuelles Versagen, aber die Fragen sind gerade angesichts eines christlichen Verantwortungsgefühls berechtigt, ob nicht auch die Institution mit ihren männlich geprägten Strukturen das Problem ist. Auch wenn es in anderen Institutionen ebenfalls sexualisierte Gewalt gibt, ist es richtig, dass die Kirche unter einem erheblichen Rechtfertigungsdruck steht. Da ist schon ein Punkt, an dem auch ich ins Hadern komme. Angesichts der extrem vielen Verfehlungen ist es nicht immer leicht, sich zu rechtfertigen. Aber die katholische Kirche bemüht sich inzwischen spürbar um Aufklärung.

Beunruhigt Sie das, dass die Kirchenbindung so vieler Menschen deutlich zurückgeht?

Günther: Ja, definitiv. Solche gesellschaftlichen Institutionen sind für das Wertegerüst einer Gesellschaft unverzichtbar. Das Argument, man glaube zwar an Gott, könne aber mit der Institution Kirche nichts anfangen, ist sehr kurz gesprungen. Denn ein christlicher Glaube ist ohne eine Kirche, die ihn weiterträgt und erlebbar macht, nicht denkbar. Von daher würde ich mir manchmal wünschen, dass Menschen sich ihre Entscheidung nicht so leicht machen. Die Austrittszahlen der vergangenen Jahre bedeuten schon einen erheblichen Aderlass, der die kirchliche Arbeit ins Wanken bringt. Wir waren früher in Eckernförde eine Pfarrgemeinde mit einem Pfarrer. Heute haben wir einen pastoralen Raum zusammen mit Rendsburg und Schleswig. Ich finde, das ist keine gute Entwicklung und sie bereitet mir Sorgen.

Beim Katholikentag in Erfurt war auf nicht wenigen Podien von Spitzenpolitikern zu hören, dass sie Kirche und Glauben distanziert gegenüberstehen, beides aber gerade angesichts der multiplen Krisen gesellschaftlich enorm wichtig sei. Wo sehen Sie die Potenziale christlicher Hoffnung für unsere Gesellschaft?

Günther: Ich glaube, dass zum Wesenskern von Menschen gehört, nach irgendetwas zu streben, was Hoffnung macht. Das Versprechen, dass das Leben nicht irgendwann einfach endet, hat mich am christlichen Glauben immer inspiriert und fasziniert. Das ist eine zusätzliche Motivation, sich hier auf der Welt an bestimmte Grundsätze zu halten, sich noch viel stärker für Nachhaltigkeit einzusetzen und dafür, dass es für die nachfolgenden Generationen auch eine Perspektive gibt. Es ändert schon den Blick, daran zu glauben, nach dem Tod immer noch zu existieren. Ohne Hoffnung funktioniert eine Gesellschaft nicht. Angesichts der Tatsache, dass die Bedrohungslage nun eine andere als vor wenigen Jahren ist, dass sich alle Generationen plötzlich mit Themen wie dem Krieg wieder viel unmittelbarer auseinandersetzen müssen, brauchen wir Hoffnung, Zuversicht und Optimismus mehr denn je. Und es ist leider einer der Totalausfälle unserer derzeitigen Bundesregierung, dass sie das nicht ernst nimmt. Die Menschen brauchen Sicherheit, dass es unserem Land in 20 Jahren besser geht. Das hat nach dem Zweiten Weltkrieg jede Generation als Versprechen an die nächste Generation weitergegeben – und es wurde im Übrigen auch eingehalten. Eine Gesellschaft sehnt sich doch nach Erfolgen und positiven Nachrichten. Daran mangelt es momentan. Für die Kirchen ist es eine Chance, diese Lücke zu füllen.

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