Ohne den Sonntag können wir nicht leben.“ Dieser Satz wird Christen zugeschrieben, die Ende des dritten Jahrhunderts angeklagt waren, die Gesetze des römischen Kaisers nicht zu achten. Die Märtyrer von Abitene erachteten den Schutz des Sonntags und dessen Heiligung durch die Feier der Eucharistie höher als ihr eigenes Leben.
Viele Jahrhunderte später ist der Sonntag in Deutschland immer noch einer der wichtigsten Wochentage. Sogar im Grundgesetz wird in Artikel 140 ausdrücklich bestimmt, dass „der Sonntag als Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“ gesetzlich geschützt bleibt. Diese Bestimmung wurde aus der Weimarer Verfassung übernommen und bildet das Fundament, auf dem der Schutz des Sonntags und der Schutz der Feiertage bis heute aufbauen. Der Sonntag ist in Deutschland ein besonders geschütztes Gut.
Und dennoch wird der Sonntagsschutz immer wieder zum heftig umstrittenen Thema – besonders, wenn es um Lockerungen geht. So ist es zuletzt wieder in Bayern geschehen: Dort nämlich hat der Ministerrat kurz vor den Sommerferien noch ein neues Ladenschlussgesetz auf den Weg gebracht. Darin werden nicht nur die geltenden Ladenöffnungszeiten von 6 bis 20 Uhr beibehalten, sondern vor allem sieht das neue Gesetz auch den durchgehenden Betrieb sogenannter digitaler Kleinstsupermärkte vor. Hierzu heißt es: „An Sonn- und Feiertagen dürfen diese nun generell öffnen.“ Mit anderen Worten: „Digitale Kleinstsupermärkte“ unterlaufen den Sonntagsschutz, da ihnen der bayerische Ministerrat eine Öffnungszeit auch am Sonntag zugesteht.
Unter den „digitalen Kleinstsupermärkten“, von denen die bayerische Regierung spricht, versteht man nichts anderes als einen Automatenkiosk. Einkäufe können dort erledigt werden, ohne dass Personal eingesetzt werden müsste.
Man neigt zu Verwunderung, dass ein solches Gesetz ausgerechnet aus Bayern kommt. Zwar hat der dortige Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) den neuen Erlass in höchsten Tönen gelobt. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) dagegen betont besonders in letzter Zeit immer wieder die christlichen Wurzeln Bayerns. Eine Erläuterung, wie eine christliche Prägung mit einer Aufweichung des Sonntagsschutzes zusammengeht, ist Söder bisher schuldig geblieben. Möglich, dass der Ministerpräsident nach der Sommerpause zurückrudert.
Immerhin gab es vonseiten der katholischen Kirche Kritik; insbesondere äußerte sich der Leiter des Katholischen Büros Bayern, Matthias Belafi (vgl. HK, Januar 2023, 8). Er bedauerte die Aufweichung des Sonntagsschutzes. Durchgehend geöffnete Märkte verliehen schon allein durch die Kundschaft „ihrer Umgebung eine Prägung der Umtriebigkeit, Geschäftigkeit und Alltäglichkeit, die den Ruhecharakter des Sonntags nicht mehr gewährleistet“. Ansonsten aber blieben die Kirchen relativ ruhig.
Die Kritik am Vorgehen der bayerischen Regierung ist durchaus berechtigt. Denn sie öffnet weiteren Lockerungen Tür und Tor. Wenn Argumente gefunden werden, warum „digitale Kleinstsupermärkte“ am Sonntag öffnen dürfen, findet man auch solche, die für eine generelle Ladenöffnung am Sonntag sprechen. Die Formulierung des Grundgesetzes, der Sonntag solle der „seelischen Erhebung“ dienen, kann nach beiden Seiten ausgelegt werden. „Seelische Erhebung“ bedeutet Ruhe, Gottesdienstbesuch, Zeit zum Entspannen und für die Familie. „Seelische Erhebung“ kann aber auch heißen: Zeit haben, um in Ruhe einkaufen zu gehen oder jenseits des alltäglichen Trubels Läden zu besuchen, um zu shoppen. Was genau wem zur Erhebung der eigenen Seele dient, haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes schließlich offengelassen.
Auffallend ist, dass sich in Bayern die Diskussion um den Sonntagsschutz an solchen „digitalen Kleinstsupermärkten“ entzündet. Denn recht besehen gibt es auch viele andere Bereiche, in denen am Sonntag gearbeitet wird. Wenn in Fußballstadien am Sonntag Spiele ausgetragen werden, fragt niemand nach einer Störung des Sonntagsschutzes. Gleiches gilt im Übrigen auch dann, wenn andere Automaten rund um die Uhr bedient werden können.
Trotzdem sollte man wachsam bleiben. Feiertage und arbeitsfreie Tage gehören zum Rhythmus des menschlichen Lebens dazu. Und es sind nicht wenige Menschen, die sich gerade auf diesen einen Tag in der Woche freuen – weil sie an diesem Tag garantiert nicht arbeiten müssen. Das ist eine Errungenschaft, die nicht umsonst schon die Weimarer Republik in ihrer Verfassung gewürdigt hat. Blickt man in die Geschichte der jüdisch-christlichen Religion zurück, ist die Sonntagsruhe durchaus als „immaterielles Kulturerbe“ anzusehen. Der eine arbeitsfreie Tage in der Woche, der schon seit Jahrtausenden eingehalten wird, kann als Identitätsmarker einer Gesellschaft gewertet werden.
Man wird sehen, wie sich das Thema Sonntagsschutz in Bayern weiterentwickelt. Dass es gelockert wird, ist jedenfalls ein deutliches Signal. Die Kirchen müssten spätestens jetzt auf die Politikerinnen und Politiker zugehen. Man sollte schließlich den Anfängen wehren. In Bayern ist vor allem Markus Söder in der Pflicht: Wer andere dazu verpflichtet, Kreuze aufzuhängen, und sich gerne von Papst Franziskus empfangen lässt, dem sollte auch der Schutz des Sonntags ein Anliegen sein.
Als Sorge bleibt, dass die Wirtschaft als wichtiger angesehen wird als Glaube und Kultur. Das wäre zu kurz gesprungen, denn ein arbeitsfreier Tag gehört zu den Voraussetzungen für eine prosperierende Wirtschaft. Anders gesagt: Nur wo Menschen Zeit für Erholung und Freizeit zugestanden wird, können sie auch wieder mit neuer Tatkraft an ihre Arbeit gehen. Auch aus dieser Perspektive ist der neue Vorstoß der bayerischen Regierung unverständlich.