Zwischen Dom und Teufel

Seit zehn Jahren ist Rainer Maria Woelki Erzbischof von Köln. Von der anfänglichen Aufbruchsstimmung ist nichts mehr übrig geblieben. Nach zahlreichen Skandalen ist der Verlust des Vertrauens in den Kardinal und die katholische Kirche enorm.

Rainer Maria Woelki
© Erzbistum Köln/Lehr

Vor zehn Jahren, am 20. September 2014, wurde Kardinal Rainer Maria Woelki als Erzbischof von Köln eingeführt. In diesem Jahrzehnt ging es hinein in eine tiefe, anhaltende Vertrauenskrise. Aktuell finden sich der Kardinal und sein Erzbistum in einer unübersichtlichen Gemengelage wieder. Während das Ansehen des Oberhirten in der breiten Öffentlichkeit im Keller ist und sich kaum noch ein gesellschaftlicher Repräsentant mit ihm blicken lässt, baut er seine Stellung in seinem Generalvikariat und den mehr oder weniger angeschlossenen Einrichtungen aus. Wie es weitergeht, hängt wohl auch von den Entscheidungen in staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen Woelki wegen möglicher Falschaussage und des Verdachts des Meineids ab. Sie könnten im Herbst gefällt werden.

Dabei hatte es so schön angefangen. Nach den bleiernen Jahren unter dem in Köln ungeliebten schlesischen Kardinal Joachim Meisner war der „kölsche Jung“ Woelki in seiner Heimatstadt begeistert empfangen worden, als einer, der die rheinisch-katholische Weisheit verinnerlicht haben muss: „Vorm Herrjott simmer glich.“ Der Trauergottesdienst für die Opfer des Germanwings-Absturzes 2015 im Dom schien zu bestätigen: Die Kirche wird noch gebraucht, ihre gesellschaftliche Funktion ist noch da. Es gab weitere überwiegend positiv aufgegriffene Akzente. Die Aktion „23.000 Glockenschläge“ erinnerte 2015 an ertrunkene Bootsflüchtlinge. Der Fronleichnamsgottesdienst 2016, den Woelki an einem Flüchtlingsboot als Altar feierte, erfuhr internationale Resonanz. Sein Einsatz für Geflüchtete ließ den Kardinal allerdings auch zum Feindbild rechtskatholischer Kreise werden, die eine gewaltsame Islamisierung des Abendlandes durch einfallende Flüchtlingshorden behaupteten und Woelki mit Shitstorms überzogen.

Doch das Blatt wendete sich. Die Abwärtsspirale des Vertrauens spiegelt sich in der hohen Fluktuation nicht nur des Spitzenpersonals etwa im Generalvikariat wider, das laufend umstrukturiert wird. Neun verschiedene Leitungen verantworteten teils kommissarisch die Kommunikationsabteilung. Aktuell ist der vierte Generalvikar im Amt.

Woelkis Weltsicht hat sich dabei wohl weniger gedreht als vielmehr zugespitzt. Gleichzeitig wurde der Kreis seiner Berater enger und einseitiger. Es brodelt die Gerüchteküche, wer im Hintergrund die Strippen zieht und den isolierten Erzbischof für seine Zwecke manipuliert. Als einer von zwei deutschen Kardinälen positioniert er sich als Bewahrer angeblich traditioneller Werte, indem er sich immer entschiedener gegen Reformen wie die Abschaffung des Zölibats, die Priesterweihe von Frauen oder eine neue Sexualmoral wendet. Aus seiner Skepsis gegen den Reformprozess Synodaler Weg entwickelte sich eine tiefe Ablehnung. Sein sozialer Einsatz für Geflüchtete, Obdachlose und andere Benachteiligte trat dahinter zurück. Auch die Anteilnahme, die der Kardinal im August bei einer Reise in die kriegsgeplagte Ukraine zeigte, wird daran kaum noch etwas ändern.

Die Fronten verkehren und verhärten sich

Die öffentliche Darstellung hat sich entsprechend in ihr Gegenteil verkehrt. Längst propagieren rechtskatholische Medien statt des angeblichen Islamverstehers das Bild eines Verteidigers christlicher Werte und nehmen nun Woelkis Antagonisten ins Fadenkreuz. Zuletzt rief im Sommer die intransparente Plattform „citizengo“ dazu auf, Woelki aufzufordern, eine Beteiligung des Stadtdekanats am „Cologne Pride“ zu unterbinden. Ob der Erzbischof den beliebten Stadtdechanten Robert Kleine im September wieder ins Amt berufen wird, war im August noch nicht bekannt.

Analog hinterfragen andere Medien das Wirken Woelkis zunehmend. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ erwies sich über die Jahre hinweg als bestinformiertes Blatt und deckte manche Ungereimtheiten und Skandale auf. Katholische Verbände und Reforminitiativen sowie gesellschaftliche Protestbewegungen organisieren schon fast regelmäßig Anti-Woelki-Aktionen; zuletzt tauchten wieder einmal satirische Plakate des Adbusting-Kollektivs Dies Irae „für Vertuschung“ auf. Die Kritik wird oft direkt auf „die Kirche“ übertragen.

Den Wendepunkt stellte der Umgang mit dem Missbrauch von Minderjährigen dar. 2018 wurde die MHG-Studie in den deutschen Diözesen veröffentlicht; bereits zwei Tage zuvor hatte Woelki eine eigene Kölner Untersuchung angekündigt. 2020 folgte aus Sicht der Öffentlichkeit der bislang größte Vertrauensbruch: Das Erzbistum veröffentlichte eine von der Münchner Kanzlei „Westpfahl Spilker Wastl“ erstellte Studie doch nicht, da noch rechtliche Fragen geklärt werden müssten. Betroffene fühlten sich ein weiteres Mal hintergangen. Danach ging es Schlag auf Schlag.

2021 kritisierten unter anderen 34 Pfarrer „die misslingende Missbrauchsaufarbeitung“, weitere rund 20 Geistliche beklagten einen Glaubwürdigkeitsverlust. Der Diözesanrat der Katholiken setzte die Zusammenarbeit zeitweise aus. Ein neues Gutachten der Kanzlei des Strafrechtsexperten Björn Gercke 2021 warf früheren und amtierenden Verantwortungsträgern 75 Pflichtverletzungen vor; Woelki selbst wurde entlastet. Doch es trat keine Ruhe ein, im Gegenteil. Denn warum beruft sich das Oberhaupt einer Kirche, die ihre Moral sonst rigoros gegen weltliche Ansprüche verteidigt, ausgerechnet in diesen Fällen auf einen Freispruch durch Juristen? Warum übernimmt er nicht aus christlichem Anspruch heraus die Verantwortung und tritt zurück?

Woelkis Antwort lautet, dass ein Rücktritt nicht seine Entscheidung sei, sondern die des Papstes. Der Vatikan hält sich indes zurück. Nachdem 14 der 15 Stadt- und Kreisdechanten die Aufarbeitung hinterfragten und in Düsseldorf 60 Protestierende Woelki rote Karten zeigten, ordnete Papst Franziskus zwar eine Untersuchung der Lage an; zwei Visitatoren ließen sich vor Ort berichten. Franziskus schickte Woelki in eine fünfmonatige Auszeit, aus der er 2022 zurückkam mit der Information, er habe dem Papst seinen Rücktritt angeboten. Eine Antwort traf nie ein. Wird der Kardinal als Bastion gegen renitente Reformer benötigt? Lässt der Papst ihn in Deutschland gewähren, um seinen eigenen weltweiten Synodalen Prozess durchzubekommen?

In Köln lassen sich derweil die Tiefpunkte kaum noch zählen. Das Oberlandesgericht befasst sich mit den Aussagen des Vorgesetzten von rund 800 Beschäftigten im Generalvikariat, von 60.000 im Erzbistum. Denn Woelki wehrte sich in zwei Missbrauchsfällen gegen Berichte der „Bild“. Im ersten Fall ging es um den Ex-Präsidenten des Kindermissionswerks „Die Sternsinger“, Winfried Pilz. Im zweiten Fall wehrte sich Woelki gegen die Darstellung, er habe bei der Beförderung eines Priesters 2017 von einem sexuellen Kontakt zu einem 16-Jährigen gewusst. Woelki bekam juristisch Recht; die „Bild“ darf bestimmte Aussagen nicht mehr verbreiten.

Doch Woelkis Angaben dazu, wann er was gewusst, wann er welche Personalakten nicht vorgelegt bekommen, wann keine Einsicht in relevante Unterlagen genommen und konkrete Inhalte nicht in Gesprächen vermittelt bekommen habe, lassen ihn so gar nicht als verantwortungsbewussten Chef erscheinen. Moralisch hat der Kardinal gegen die „Bild“ verloren.

Vorwurf und Zurückweisung des Vorwurfs folgen nun schon fast vorhersehbar aufeinander. Der Erzbischof will von dem zweiten Missbrauchsfall, den er 2018 mit Unterschrift nach Rom meldete, bis 2023 nichts gewusst haben. Daher wird ihm Meineid vorgeworfen (vgl. HK, Juni 2023, 1). Sein Rechtsbeistand vor Gericht: Björn Gercke. Den Vorwurf einer Interessenkollision weist der Anwalt als abwegig zurück. Indes darf der Ausgang des Verfahrens mit Spannung erwartet werden. Würde der Papst selbst an einem verurteilten Erzbischof festhalten?

Die Pingpong-Taktik jedenfalls lässt Gläubige längst in Rekordzahlen aus der Kirche austreten. Im August wurde das erzbischöfliche Gebaren gar zum historischen Symbol erhoben: Einen Karnevalswagen mit einer Figur Woelkis, die sich an den Dom klammert, während an den Füßen ein Teufel mit der Aufschrift „Missbrauchsskandal“ zerrt, erwarb das Haus der Geschichte in Bonn als aussagekräftiges Zeitdokument.

Gleichzeitig agiert der Erzbischof in den eigenen Strukturen frappierend erfolgreich. Er stärkt seine Position an der Spitze der kirchlichen Hierarchie, indem er die Ämter auf den unteren Ebenen schwächt. Die Umstrukturierungen der Bistumsverwaltung sollen angeblich Mitsprache fördern, immunisieren aber auch seine eigene, weil allein übrig bleibende Autorität. Statt einer klaren Hierarchie mit einem Generalvikar und rund zehn Hauptabteilungsleitern gibt es seit 2023 drei Verwaltungsbereiche unter Generalvikar, Finanz- und Verwaltungschef. Die „geteilte Leitung und Verantwortung“ lässt sich als Degradierung der bisherigen – teils durchaus kritischen – Hauptabteilungsleiter lesen. Auch das Beratungsgremium Diözesanpastoralrat wird umstrukturiert und verkleinert, ebenfalls offiziell um größerer Partizipation willen. Auch hier funktioniert mehr Teilhabe nicht, wenn allein eine Alleinherrschaft unangetastet zu bleiben scheint.

Im März 2024 wurden Pläne des Erzbistums bekannt, dass die Trägerschaft des Kölner Senders domradio.de vom plural aufgestellten Bildungswerk in eine gemeinnützige GmbH überführt werden soll. Der unmittelbare Einfluss Woelkis auf den bislang breit aufgestellten Sender wird dadurch größer, wenngleich das Erzbistum dieses Ziel zurückweist. Ebenfalls eine neue Leitung braucht das Katholisch-Soziale Institut in Siegburg. Gerüchte um eine bereits beschlossene Postenvergabe dementiert das Erzbistum. Hinzu kommen langjährige Streitereien um die Kölner Hochschule für Katholische Theologie. Die Finanzierung, Priesterausbildungsambitionen und generell die Sinnhaftigkeit bleiben umstritten. Auf jeden Fall kristallisiert sich ein weiterer Schwerpunkt heraus: Bildung. Bildung ist in jedem System ein Schlüsselfaktor. Im System Woelki soll sie offensichtlich der sogenannten Neuevangelisierung dienen.

Der Eindruck drängt sich geradezu auf: Woelki sieht sich trotz oder gerade wegen aller Widerstände zum Erzbischof berufen. Als Berufener will er für Aufarbeitung und Neuevangelisierung in einer zunehmend säkularen Welt kämpfen, ohne Berücksichtigung anderer Perspektiven. Es gibt genügend Kreise, denen dieser Anspruch gerade recht kommt. Die Isolation des Erzbischofs und seine interne Macht nehmen zu, die Anzahl kritischer Geister um ihn herum und die Reputation der katholischen Kirche ab. Übrig bleibt eine ausgehöhlte Kirchenstruktur, in der Andersdenkende kaum noch Raum finden – und die diese Enge enttäuscht, entnervt oder verzweifelt verlassen.

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