Ein Gespräch mit dem Ausstellungsmacher Stefan Kraus„Über die Sinne zum Sinn“

Kolumba, das Kunstmuseum des Erzbistums Köln, gehört zu den Aktivposten der Begegnung von Kunst und Religion. Was macht das Ausstellungskonzept aus und wie entwickelt sich der Dialog?

Stefan Kraus
© Marc Steinmann

Herr Kraus, jeweils im September arrangieren Sie und Ihr Team eine neue Kombination aus alter und zeitgenössischer Kunst. Was ist Ihre Lieblingssituation in der aktuellen Ausstellung „Artist at Work“?

Stefan Kraus: Wenn Sie mich am Ende eines Ausstellungsjahres fragen, weiß ich mehr darüber, wo es den meisten Tiefgang gab und was gut funktioniert hat, weil sich stets aktuelle Zusammenhänge ergeben. Wir haben beispielsweise in diesem Jahr entschieden, Konrad Klaphecks Werk „Der Wille zur Macht“ aus dem Jahr 1959 mit dem Blick zum Kölner Dom und gegenüber einer hermetischen, pultartigen Skulptur von René Zäch einen eindrucksvollen Auftritt zu geben. Was Ende Januar politisch zu erleben war, hat diesem Bild eine aktuelle Schärfe gegeben, die vorher nicht absehbar war. Denn beim Anschauen dieser abstrakten Schreibmaschine kommt man schnell dahinter, dass das Verhältnis von Individualität und Faschismus angesprochen ist, unter anderem weil die Tasten, die da in einer Fülle zu sehen sind, alle wie „gleichgeschaltet“ wirken – wie mir jüngst eine Besucherin sagte.

In Kolumba kann man aufgrund des Ausstellungskonzepts eine maximale Spannung zwischen diesen Gegenwartsfragen und der Tradition beziehungsweise alten Kunstwerken aus völlig anderen Kontexten erleben. Worin besteht da für Sie der Reiz?

Kraus: Eine Grundüberzeugung, die man als Kunstvermittler in sich tragen sollte, ist die, dass Kunstwerke auf eine präzise Weise ambivalent sind. So heikel grundsätzliche Aussagen über Kunst sind: Sie ist nie eindimensional, sondern zeichnet sich durch ein komplexes Geflecht aus Sinnebenen aus. Der Reiz unseres Museumskonzeptes besteht darin, dass wir fast ausschließlich die eigene Sammlung zeigen. Das Spiel mit den Sinnebenen findet in jedem Kontext eine andere Fokussierung, wie man vor allem bei den Exponaten sehen kann, die durchgehend ausgestellt sind. Dazu gehört die „Veilchenmadonna“ von Stefan Lochner, eines der Hauptwerke unserer Sammlung. Das wunderbare Bild, geschaffen um 1450, vervollständigt in diesem Jahr den Raum mit Klaphecks „Der Wille zur Macht“ und der Skulptur von René Zäch. Darauf ist neben der monumentalen Marienfigur mit Kind die Stifterin in einem Hermelinmantel, also ausgesprochen machtvoll gekleidet, am Bildrand kniend zu sehen. Sie bittet in einem Schriftband darum, dass wir für sie beten, damit sich ihre Vision des Paradieses erfüllt. Macht an sich ist ja nichts Negatives. Die Frage ist, wie man damit umgeht. Mit Blick in die USA ist das eine besonders aktuelle Frage.

Geht die Inszenierung von alter und zeitgenössischer Kunst damit vom Dialog zum Trialog über, weil die Museumsbesucher ganz essenziell dazugehören?

Kraus: Das „essenziell“ sollte man unterstreichen, weil das Subjekt für das, was wir Kunst nennen, unverzichtbar ist. Es gibt kein Kunstwerk ohne Rezipienten, ohne sie oder ihn ist das nur ein totes Ding. Erst das, was wir dazutun, macht es zur Kunst: sei es Zuspruch, Glücklichsein oder völlige Verneinung, Ärger – was auch immer. Erst in dem Zwischenraum, der sich bildet, entsteht Kunst. Als Kuratorenteam versuchen wir, ein kontextuelles Angebot zu erstellen, ohne in die Enge zu führen. Der Kunstbegriff, den wir dabei zugrunde legen, setzt voraus, dass Kunst nicht intentional, sondern rezeptiv bestimmt ist. Ob etwas Kunst ist, entscheidet sich an der Wirksamkeit. Künstlerinnen und Künstler selbst erfahren sie in dem Moment, in dem sie merken, dass sich das Material zu einem Werk verwandelt und von ihnen abgelöst hat.

Ist das etwas anderes als das, was in anderen Museen und Ausstellungen passiert?

Kraus: Ich hoffe nicht. Aber es gibt durchaus Unterschiede: Schon weil wir von Anfang an die Gelegenheit ernst genommen haben, auf einem 2000 Jahre alten Grundstück etwas Zukunftsweisendes zu wagen. Von Anfang an sollte das eine Art Gesamtkunstwerk werden. Am Ende sollte man nicht mehr trennen können zwischen der räumlichen Wirkung, die die Architektur auf den Schultern einer Kirchenruine erzeugt, und den Werken, die ihre eigene Stimme einbringen. Wir sprechen bewusst von jährlich wechselnden „Inszenierungen“. Das kann man nicht mit Leihgaben umsetzen, sondern nur mit der eigenen Sammlung. Denn wir können bei jeder Ausstellung, an deren Themen wir Jahre im Voraus zu arbeiten beginnen, bis zuletzt offenhalten, ob wir ein Exponat zeigen oder nicht. In der Regel haben wir etliche Werke mehr vorgesehen, als wir am Ende ausstellen, weil wir uns die Freiheit nehmen, beim Aufbau zu überprüfen, ob er nach ästhetischen Kriterien funktioniert.

Will Ihr Museum damit bewusst Räume für eine meditative Erfahrung bieten? Welchen Erkenntnisgewinn bringt dieser Ansatz?

Kraus: Das ist eine berechtigte Frage in einem Museum, das am Eingang nicht mit einer großen Schrifttafel erläutert, worum es eigentlich gehen könnte, das eine Beschriftung unmittelbar an den Werken verweigert, und das stattdessen bei der Sekundärinformation auf einen Kurzführer setzt, den man beim Eintreten mit dem Eintrittspreis erhält. Auch in den Räumen wird mit keinerlei Schlagwort eine Richtung vorgegeben. Welchen Erkenntnisgewinn bringt das? Zuerst einmal das Angebot der Freiheit. Natürlich ist Freiheit, das wissen wir alle, immer mit einem Abgrund verbunden, weil man dann auch eine Entscheidung treffen muss. Gehe ich jetzt die Treppe herauf zur Kunst? Gehe ich durch die große Stahltüre in den Ausgrabungsraum hinein, in dem man auf 2000 Jahre Baugeschichte blickt? Oder suche ich im Juli die Schatten der Bäume im Innenhof auf und setze mich auf einen der frei herumstehenden Stühle? Im Übrigen sind wir gebunden an unsere Körper, gebunden an die Situation, in der wir stehen, gebunden an die Zeitgeschichte, die wir mitgestalten und der wir ausgeliefert sind. Wenn wir überhaupt ein Gefühl der Freiheit erleben können, ist Kunst das ideale Medium dafür. Wir schaffen ein Angebot – ob sich diese Erlebnissituation einstellt, liegt dann bei jedem Einzelnen.

Sie sind ein kirchliches Haus. Was macht die religiöse Dimension aus? Oder ist die Frage verfehlt?

Kraus: Überhaupt nicht. Kolumba ist das Kunstmuseum des Erzbistums Köln. Uns ist sehr präsent, dass wir einmal ein Diözesanmuseum waren – 1853 gegründet, 2004 umbenannt in „Kolumba“, bewusst Jahre vor der Einweihung dieses Gebäudes, weil wir das Konzept am vorherigen Standort erprobt hatten.

Inwiefern bleibt Kolumba das Kunstmuseum des Erzbistums Köln? Wo ist der Bezug zur Religion?

Kraus: Ich habe Religion im Kontext von Kunst immer so verstanden, dass es ausgehend von der lateinischen Wortbedeutung um Achtsamkeit geht, um eine Durchlässigkeit, die uns eine spirituelle Erfahrung erst ermöglicht. Im „Museum der Nachdenklichkeit“ – so unser langjähriger Arbeitstitel – sollte es um Sinnfindung gehen, darum, dass man über die Sinne zum Sinn kommt. Das kann auch in die Sprachlosigkeit führen, wenn man spürt, dass es um etwas geht, das man intensiv umkreisen kann, ohne in der Lage zu sein, es zu benennen. Beim Medium Kunst ist es wie beim Glauben: Ich kann das Entscheidende weder beweisen noch erzwingen. Genau das macht den Reiz aus. Das Kunstwerk ist faktisch Material. Trotzdem spüre ich, wie viel mehr dahintersteckt. Da hat eine Verwandlung stattgefunden, die diesem Gegenstand eine Aura verleiht und mich spüren lässt, dass es jenseits des Faktischen mehr geben muss.

Waren das auch die Erwartungen, als das Museum neu ins Leben gerufen wurde?

Kraus: Die Erwartungen am Anfang der Neunzigerjahre waren konventioneller. Aber wie holt man ein Diözesanmuseum in die Gegenwart? Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich die Kunst nach einer langen Vorgeschichte von der Kirche abgelöst. Wir hatten in Köln 1912 die Sonderbundausstellung, in der zum Beispiel der große Altar zum Leben Christi von Emil Nolde ausgestellt war. Der Altar wurde verspottet, weil ihn niemand verstanden hat. Dabei ist er formal und ikonografisch ein klares Bekenntnis zur christlichen Tradition. Die großartigen Berliner Ausstellungen „Zeichen des Glaubens – Geist der Avantgarde. Religiöse Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts“ 1980 und dann „Gegenwart – Ewigkeit“ 1990 waren Wegweiser, um wieder anknüpfen zu können. Die erste Ausstellung ließ Revue passieren, wie weit die scheinbar säkulare Moderne sich der christlichen Themen angenommen hatte. Mit „Gegenwart Ewigkeit. Spuren des Transzendenten in der Kunst unserer Zeit“ wurde die zeitgenössische Kunst noch viel stärker jenseits traditioneller Themen mit hineingenommen. Diese beiden Ausstellungen halfen bei der Konzeptfindung für Kolumba. Wir wollten aber weiterkommen und haben deshalb sicherlich nicht das geliefert, was alle erwartet hatten: eine bloße Aktualisierung der christlichen Ikonografie. Wir versuchen stattdessen bis heute, tiefer zu schauen. Woran kann man die religiöse Dimension eines Kunstwerks festmachen?

Genau das ist die Frage …

Kraus: Geht es einfach nur um Motive, Themen und Darstellungsformen, die unsere Erwartungen bestätigen? Oder wagen wir den Versuch, „katholisch“ als das Allumfassende zum Anlass zu nehmen, um zu erforschen, was Künstler und Künstlerinnen ein Leben lang verfolgen, ohne dass sie jemand danach gefragt hat und in den meisten Fällen auch ohne, dass sie einen nennenswerten wirtschaftlichen Gewinn erzielen? Wir tun dies, um herauszufinden, inwieweit das, was sie machen, für existenzielle Fragen relevant ist. Woher kommen wir? Wo stehen wir und wohin gehen wir? Was verantworten wir? Ich habe vorhin den Begriff der Freiheit genannt. Wer die Freiheit hat, hat eine Verantwortung – und sei es nur die Verantwortung, die Freiheit zu bewahren oder für andere durchzusetzen. Der Glücksfall bestand darin, dass wir bei den Entscheidungsträgern, die Kolumba ermöglicht haben, auf kirchlicher Seite auf eine Generation trafen, die vom Zweiten Vatikanum und dessen Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ geprägt war und die mehr Gegenwart eingefordert hat. Im Hintergrund steht dieser Spirit des Aggiornamentos des Zweiten Vatikanischen Konzils. Diese Forderung ist heute dringender denn je.

Was aber heißt das für konkrete religiöse Motive? Welche Themen haben in den bisherigen Ausstellungen besonders gut mit Blick auf die genannten grundsätzlichen Fragen funktioniert?

Kraus: Wir gehen an den traditionellen Themen nicht blind vorbei. Andy Warhol ist das beste Beispiel. Von ihm besitzen wir vier Werke in der Sammlung, alles Kreuzesdarstellungen. In dem zentralen Werk dieser Gruppe sieht man ein rotes Kreuz auf schwarzem Grund. Plakativer geht es gar nicht. Aber man muss auch offen dafür sein, dass Künstler uns mit einer unglaublichen Direktheit Sachen empfehlen, in denen wir erst auf den zweiten Blick ein christliches Thema oder eine religiöse Dimension erkennen.

Zum Beispiel?

Kraus: „A Procession in Honor of Aesthetic Progress“, übersetzt „Eine Prozession zu Ehren des ästhetischen Fortschritts“ nennt Paul Thek 1968 eine performative Installation; zu sehen sind Glasboxen, garniert mit rohen Fleischstücken, die natürlich keine Fleischstücke, sondern perfekte Wachsimitate sind. Wenn man sich näher damit beschäftigt, ist man verblüfft, wie unmittelbar Thek zentrale kirchliche Themen, wie das der Fleischwerdung, angegangen ist, aber auf eine Weise, die eben nicht glattbügelt und lieb sein will wie im 19. Jahrhundert, sondern die krass und authentisch Gegenwart bezeugt. Im Dialog damit erkenne ich die die vergleichbare Radikalität der tradierten Themen. Glücklicherweise fanden wir damals, dass wir Paul Thek in unserer Sammlung haben sollten. Wir verfügen daher weltweit über den besten Bestand dieses Künstlers.

Sie stehen kontinuierlich im Kontakt mit Künstlerinnen und Künstlern. Wie ist heute das Verhältnis von Kunst und Kirche? Auf welcher der beiden Seiten fremdelt man mehr?

Kraus: Eines kann ich ganz klar sagen: Bei den Künstlern und Künstlerinnen, die wir in all den Jahren angesprochen haben, gab es nie Berührungsängste – zu keinem Zeitpunkt. Eines der Hauptwerke, mit dem man Kolumba identifiziert, ist die „Tragedia Civile“ von Jannis Kounellis. Wir dachten damals bei der Konzeption des Museums: Wenn das Erzbistum Köln tatsächlich so eine Institution nach vorne bringen will, sollten wir uns schon nach dem Besten ausstrecken. Wir hatten Kounellis angefragt, ob er sich für unser projektiertes Museum von seinem Hauptwerk trennen und es uns verkaufen möchte. Wir haben erreicht, dass er uns vertraut hat, obwohl wir noch kein Haus und keine Sammlung hatten, sondern nur eine Vision. Dann gab es eine sehr kritische Situation, weil das Erzbistum Köln, das damals zustimmen musste, diese Zustimmung verweigert hat.

Jetzt ist das Kunstwerk an einem festen Platz in jeder Ausstellung.

Kraus: Wir hatten unseren Wunsch ausführlichst begründet: eine mit Blattgold belegte Wand, ein brennendes Öllämpchen an der Wand. Wo habe ich so etwas schon erlebt, wenn nicht in der Kirche oder auf dem Friedhof? Und dann ein Hut und ein Mantel, wie vergessen an einem Kleiderständer. Kommt da jemand wieder? Oder ist er einfach weg? Wo gehen wir hin, wenn wir sterben? Am Schluss ergab sich eine glückliche Fügung, weil der Träger nicht das ganze Projekt fallen lassen wollte – und noch einmal um weitere Erklärungen bat. Das war eine Gratwanderung und eine Wegmarke. Ab diesem Zeitpunkt war klar, dass das vierköpfige Leitungsteam von Kolumba Entscheidungen über die Inhalte allein fällen muss. Und dabei ist es bis heute geblieben. Der Erfolg von Kolumba, besonders auch die enormen Zustiftungen von Privatpersonen, belegen, dass diese Entscheidung richtig war. Die Arbeit von Jannis Kounellis ist durchgehend zu sehen, so wie unter anderem auch das romanische Elfenbeinkreuz, Stefan Lochners „Veilchenmadonna“ und Richard Serras Skulptur „Die Untergegangenen und die Geretteten“. Es hat mich 2007 sehr gefreut, dass zur Einweihung von Kolumba in der Kirchenzeitung eine doppelseitige Meditation erschien, die der damalige Künstlerseelsorger verfasst hatte. Da haben wir gemerkt, dass unser Projekt mit all den Schwierigkeiten angekommen ist.

Was ist das Entscheidende für diese Zugeneigtheit der Kunstschaffenden?

Kraus: Wesentlich ist: Die Künstlerinnen und Künstler spüren, dass Kolumba als großes Gefäß ein Freiraum ist. Wir Kuratoren bedienen uns nicht der Kunst, um sie hier in Vorgedachtes einzubauen. Es ist eine offene Werkstatt, ein intermediales ästhetisches Labor, das nach den Regeln der Kunst arbeitet. Sehr früh hieß das für uns: Kunst mit Kunst zu erklären – auch wenn ich heute mit dem Begriff des Erklärens noch vorsichtiger umgehe.

Was heißt dies für das Verhältnis von Kunst und Kirche heute?

Kraus: Ich denke, dass es ein Fehler war, im ganzen letzten Jahrhundert immer wieder nach dem Verhältnis von Kunst und Kirche zu fragen. Kunst und Kirche sind keine idealen Partner, eher schon Kunst und Glaube oder Kunst und Religion. Kunst ist ein dem Menschen ureigenes Medium der Weltaneignung und des subjektiven Ausdrucks. Kirche meint eine Gemeinschaft, einen Körper der Vielen, eine Institution. Aber mit Kunst können wir nur als Individuum in Kontakt kommen.

Kommen Ihre Besucherinnen gleichermaßen aus der Stadtgesellschaft, ganz allgemein, oder mehr aus einem dezidiert kirchlichen Kontext? Gibt es da Unterschiede?

Kraus: Wir haben kein Zielpublikum und daher gucke ich nicht darauf, wer kommt, weshalb und warum. Wir lassen uns aber bestätigen, dass wir ein sehr gemischtes Publikum haben, auch ein sehr junges Publikum. Wir sind weniger auf Events aus, sondern versuchen kontinuierlich Formate anzubieten, für deren Gelingen nicht Quantität, sondern Intensität der Maßstab ist. Wir möchten Menschen mit verschiedenen Interessen zeigen, dass wir ihnen etwas zu bieten haben. Das beinhaltet außergewöhnliche Vermittlungswege außerhalb der regulären Öffnungszeiten und – zum Beispiel in unserer Reihe „Schulen zu Gast“ – auch die reale Teilhabe. Der Ort und vor allen Dingen die Architektur sind ein großer Magnet. Aber viel interessanter ist: Mit welcher Erfahrung verlassen die Menschen das Haus?

Eine Milieuverengung in der Kirche können Sie also nicht erkennen?

Kraus: Ihre Frage hat einen zweiten Aspekt, der mich in der Tat beschäftigt. Ich muss gestehen, ich bin ernüchtert, wie selten ich auf Kleriker treffe, wenn ich ins Theater, ins Konzert oder ins Museum gehe. Da gibt es Ausnahmen, aber es sind eben Ausnahmen. Ich fürchte, dass an dieser Stelle im Unterschied zu den Neunzigerjahren eine Verengung stattgefunden hat. Aber diese Verengung gibt es auch in der Politik oder in den Medien. Gerade in den letzten Jahren erleben wir, dass Kultur stark in die Defensive geraten ist. Als „freiwillige Leistung“ der Kommunen wird sie immer weiter an den Rand gedrängt. Die Entwicklung, die ich in der Kirche beobachte, steht also in einem gesellschaftlichen Kontext. Umso stärker müssen wir uns als Kulturschaffende mit Selbstbewusstsein hinstellen und auf die Notwendigkeit unseres Angebotes hinweisen. Denn wenn man eines im Museum lernen kann, dann ist es Toleranz. Und das wiederum ist eine für die demokratische Gesellschaft unverzichtbare Eigenschaft.

Sind sich die Kirchen ihres kulturellen Engagements, das es an vielen Orten durchaus gibt, zunehmend weniger bewusst?

Kraus: Die Kirche ist ein großartiger Kulturträger gewesen und wir waren bei der Gründung von Kolumba überzeugt, dass sie es auch wieder werden könnte. Kultur ist allerdings nichts, was uns nur bestätigt, sondern sie stellt uns auch infrage. Ich muss zulassen können, dass meine eigene Identität erst durch den Zweifel und den Widerspruch gefestigt und gestärkt wird. Der Zweifel zerstört nicht die Identität, sondern bringt mich dazu, immer wieder neu zu überlegen, warum ich welche Überzeugung habe, warum ich welches Leben lebe und warum ich an etwas glaube.

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