Konfessionell-kooperativer ReligionsunterrichtDas Eigene und das Andere

In mehreren deutschen Bundesländern ist es inzwischen möglich, Religionsunterricht in der Verantwortung von zwei Konfessionen zu erteilen. Der Anlass ist meist ein praktischer: Es gibt nicht mehr genug Kinder und Jugendliche einer einzelnen Konfession. Doch eine Zusammenarbeit empfiehlt sich auch aus anderen Gründen.

Wir befinden uns in einer nordrhein-westfälischen Großstadt. Die Klassenlehrerin beginnt ihren Unterricht. Vor ihr sitzen sechs katholische, sechs evangelische, acht muslimische und neun konfessionsfreie Kinder. Wie soll, wie kann man hier Religion unterrichten? Die hier im Klassenzimmer veranschaulichte religionsdemographische Entwicklung in West-Deutschland zeigt sich vor allem in den Großstädten. Aber selbst in den Regionen, in denen heute eine christliche Konfession noch die überwiegende Mehrheit darstellt, könnte es demnächst ähnlich aussehen, wobei der Anteil konfessionsfreier Schülerinnen und Schüler noch größer ausfallen dürfte, wie man am Mitgliederrückgang der beiden großen Kirchen, am Rückgang der Taufen und der Teilnahme an Kommunion, Firmung und Konfirmationen ablesen kann. Angesichts dieser stetig zunehmenden Entkirchlichung und der wachsenden weltanschaulichen und kulturellen Pluralisierung und Individualisierung stellt sich die Frage, wie der Religionsunterricht an der Schule zukünftig gestaltet werden kann.

Denkbar wäre, den konfessionellen Religionsunterricht klassen- oder sogar jahrgangsübergreifend einzurichten. Ein solcher Unterricht würde die katholischen, evangelischen, jüdischen oder muslimischen Schülerinnen und Schüler einer oder mehrerer Jahrgangsstufen zu einer Lerngruppe zusammenfassen. Er wird konform zu Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes erteilt, wirft aber nicht nur schulorganisatorische (Wie passt eine derartige Lerngruppe in den Stundenplan?) und pädagogische Fragen (Wie geht man sinnvoll mit derart heterogenen Lerngruppen um?) auf. Darüber hinaus birgt dieser Ansatz die Problematik in sich, dass in vielen Regionen zu wenige Schülerinnen und Schüler einer Konfession vorhanden sind, um überhaupt eine Lerngruppe einzurichten.

Alternativ könnte man Religion im Klassenverband unterrichten, wie es unter der Hand bereits in vielen Schulen praktiziert wird, in denen sich kein ordentlicher Religionsunterricht mehr organisieren lässt. Ein solcher Unterricht erhält den eingespielten Klassenverband und entspricht in hohem Maß dem Zeitgeist, wie jüngst der Beitrag von Joachim Wagner in der „Zeit“ wieder zeigte (16. Dezember 2020).

Allerdings könnte ein solcher Unterricht nicht mehr konfessionell erteilt werden, weil er sich an alle Kinder oder Jugendliche einer Klasse wendet, unabhängig von ihrem religiösen Bekenntnis. Das widerspricht aber dem Grundgesetz, demzufolge Religionsunterricht „in Übereinstimmung mit den Religionsgemeinschaften“, also in Verantwortung aller beteiligten religiösen Gemeinschaften erteilt werden muss. Eine Einigung zwischen den verschiedenen muslimischen und eventuell jüdischen Verbänden und der Vielzahl an Konfessionen ist hier nicht zu erwarten.

Ein Mittelweg

Gegenwärtig erproben viele Diözesen und Landeskirchen mit dem konfessionell-kooperativen Religionsunterricht einen Mittelweg zwischen den beiden eben skizzierten Alternativen. In ihm lernen die evangelischen und katholischen Schülerinnen und Schüler in einer Klasse zusammen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Konfessionen kennen, wobei sie von einer evangelischen und einer katholischen Lehrperson – in der Regel im halbjährlichen oder jährlichen Wechsel – unterrichtet werden.

Diese Idee wurde bereits 1994 in der evangelischen Denkschrift „Identität und Verständigung – Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität“ vorgestellt, von katholischer Seite 1996 im korrespondierenden Papier „Die bildende Kraft des Religionsunterrichts. Zur Konfessionalität des katholischen Religionsunterrichts“ allerdings nicht weiter aufgegriffen.

In der Denkschrift „Religiöse Orientierung gewinnen“ von 2014 greift die EKD nochmals das Modell des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts auf und diskutiert es unter den Prämissen einer weltanschaulich vielfältigen Gesellschaft. In theologischer Hinsicht stelle dieser Religionsunterricht einen weiteren Schritt in der Verwirklichung „der Katholizität der Kirche als der einen wahren Kirche des Glaubens“ (48) dar. Als pädagogischer Mehrwert dieser Organisationsform von Religionsunterricht wird sein dialogischer Charakter herausgearbeitet, der sowohl zur Selbstreflexion als auch zur Verständigung mit anderen Überzeugungen befähige.

2016 veröffentlichen die katholischen Bischöfe dann ihre Erklärung „Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts“, in der auch sie sich für eine „erweiterte konfessionelle Kooperation“ aussprechen, die eine „Bildung von gemischt-konfessionellen Lerngruppen über einen längeren Zeitraum vorsieht“ (31). Theologische Grundlage ist die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche“ von 1999 und die gegenseitige Taufanerkennung von 2007.

Programmatisch bringt schließlich 2018 die EKD-Erklärung „Konfessionell-kooperativ erteilter Religionsunterricht“ die Grundidee dieser Organisationsform von Religionsunterricht auf den Punkt. Demnach stellt religiös-ethische Bildung einen Zugang zu Leben und Welt dar, der durch keinen anderen Zugang ersetzbar ist. Der „bekenntnisgebundene Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an allen Schulen (leistet) mit seiner authentischen Begegnung mit der jeweiligen Konfession oder Religion (…) einen unverzichtbaren Beitrag zur religiösen Identitätsbildung und Orientierung sowie zu Sprach- und Dialogfähigkeit“ (9). In seiner konfessionell-kooperativen Organisationsform trage er zudem den Veränderungen und gesellschaftlichen Herausforderungen Rechnung und berücksichtige das schulische „Leitmotiv Inklusion“ (10). Weil es aber keine Wertorientierung für alle gebe, gelte es im konfessionell-kooperativen Religionsunterricht, „die unterschiedlichen Wertvorstellungen, Wahrheitsansprüche und religiösen Praxen angemessen in ihrer Unterschiedlichkeit von einer bekenntnis- und weltanschaulich transparenten Position her den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln“ (11). Der konfessionell-kooperative Religionsunterricht stellt so nach wie vor eine Form des konfessionellen Religionsunterrichts gemäß Artikel 7, Absatz 3 des Grundgesetzes dar.

Mittlerweile ist diese Organisationsform in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen (ausschließlich des Gebiets des Erzbistums Köln) und Niedersachsen etabliert. In Nordrhein-Westfalen kann er zum Beispiel von der Schulleitung beantragt werden, sofern mindestens eine Lehrkraft der Fachschaft Religion eine einschlägige Fortbildung besucht hat, es ein gemeinsam von beiden Fachschaften entwickeltes Curriculum gibt und ein Wechsel der Lehrkraft im Rahmen der Doppeljahrgangsstufe garantiert wird. Teilnehmen können alle katholischen und evangelischen Schülerinnen und Schüler und auf Antrag auch Lernende anderer Religionen und Konfessionen.

Begründet wird die Wahl eines solchen Modells auf unterschiedlichen Ebenen.

Neben dem eingangs veranschaulichten soziopolitischen Argument des stetigen Rückgangs getaufter Kinder und Jugendlicher wird kulturgeschichtlich argumentiert, dass sich das Christentum in seinen vielfältigen Ausdrucksformen immer konfessionsspezifisch erschließt: Man arbeitet auch deshalb zusammen, um Gemeinsamkeiten zu entdecken und Unterschieden gerecht zu werden.

Weil sich die eigene Konfession besonders gut in Auseinandersetzung mit den anderen Konfessionen erschließe, so ein religionspädagogisches Argument, sei der Gewinn besonders groß, insofern im konfessionell-kooperativen Religionsunterricht ein stetiger Perspektivenwechsel initiiert werde, um Selbst- und Fremdbegegnung anzuleiten.

Theologisch wird argumentiert, dass so Religionsunterricht zu einem Bewährungsort für Theologie werden könne, weil hier ökumenisch-theologische Fragen lebensrelevant werden. Religionsunterricht gehe dann exemplarisch und experimentell einen Weg der „Ökumene des dritten Weges“ (Ute Link-Wieczorek) und nehme im Sinne „avantgardistischer Schrittmacherdienste“ (Klaus von Stosch) die Einheit der Christen vorweg. Mit dieser erstarkten gemeinschaftlichen Stimme könne, so das Argument, das Kritikpotenzial von Religion in besonderer Weise zur Geltung kommen, weil beide Konfessionen nach außen geschlossen auftreten könnten.

Dann werden auch schulpädagogische Gründe angeführt, die auf Probleme durch die Auflösung der Klassengemeinschaft durch den konfessionell getrennten, teilweise sogar jahrgangsübergreifend erteilten Religionsunterricht verweisen. Durch diese Neukonstituierung der Klassengemeinschaften werde das soziale Lernen in empfindlichem Maße gestört.

Nicht weniger relevant sind schulorganisatorische Gründe, klagen Schulleitungen doch schon lange über die Probleme, die die Organisation des Religionsunterrichts durch die unterschiedlichen Lerngruppen bedeutet.

Zu kurz gesprungen?

Was ist nun das Ziel eines solchen konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts? Von evangelischer wie auch von katholischer Seite wird er dezidiert gegenüber einem multireligiösen Religionsunterricht abgegrenzt, in dem die weltanschauliche Vielfalt in der gegenwärtigen Gesellschaft aus rein sachkundlicher Perspektive besprochen wird. Der konfessionell-kooperative Religionsunterricht ist dagegen eine spezifische Organisationsform konfessionellen Religionsunterrichts, der die Schülerinnen und Schüler in der bewussten Auseinandersetzung mit konfessioneller Differenz zu einem stärkeren Bewusstsein für den eigenen weltanschaulichen Standpunkt bei gleichzeitiger Offenheit für die weltanschaulichen Standpunkte der Mitschülerinnen und -schüler befähigen will.

Religiös kompetent gebildet werden Kinder und Jugendliche dadurch, dass sie Religion als eigenständigen Zugang zur Welt erkennen und im Sinne dieser Welterschließung die religiöse Dimension der Wirklichkeit wahrnehmen und deuten.

Der konfessionell-kooperative Religionsunterricht möchte über diese religiöse Kompetenz hinaus eine konfessionelle und eine konfessorische Kompetenz fördern: Konfessorisch kompetent sind Schülerinnen und Schüler, wenn sie einen eigenen Standpunkt gegenüber ihrer Religion beziehungsweise Konfession entwickeln und vertreten. Konfessionell kompetent sind die Lernenden, wenn sie über ihre Konfession Bescheid wissen und sich angemessen im Sinne einer konkreten religiösen Tradition verhalten können. Der konfessionell-kooperative Religionsunterricht zielt in der Theorie vor allem auf konfessorische Kompetenz ab.

Als kooperatives Modell kommt die beschriebene Organisationsform des konfessionellen Religionsunterrichts den Forderungen, im Unterricht den religiösen Dialog einzuüben, einen großen Schritt entgegen. Auch löst sie viele schulorganisatorische Probleme, sodass zumindest auf absehbare Zeit dieser Unterricht – im Westen Deutschlands! – auch in der Fläche gewährleistet scheint.

Allerdings könnte eine Kooperation nur zwischen den beiden großen christlichen Konfessionen angesichts der Dynamik der demographischen Entwicklung zu kurz gesprungen sein. Wir meinen, beide Kirchen wären gut beraten, sich bereits heute über Kooperationsmöglichkeiten auch mit anderen Konfessionen und Religionen Gedanken zu machen.

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