Systemrelevanz ist zum entscheidenden Kriterium politischer Wertschätzung geworden. Wer dieses Kriterium erfüllt, kann in kritischen Zeiten mit staatlicher Unterstützung rechnen. Meist handelt es sich dabei um eine Relevanz, die soziale Teilsysteme und deren Hauptakteure auszeichnet. Von ihnen hängt es ab, dass das „große Ganze“ nicht gefährdet wird. Ein solcher systemrelevanter Akteur sind die Kirchen durchaus – vor allem im Bereich der Sozialarbeit und des Bildungswesens. Mit ihrem Engagement leisten sie für den Zusammenhalt der Gesellschaft einen wesentlichen Beitrag. Solche Beiträge braucht auch ein liberaler Staat. Und er zeigt sich erkenntlich. Den Kirchen hat er einen großen Freiraum gewährt, wenn es um die Regelung religiöser Belange geht. Aus der Debatte um Heilswahrheiten hält sich der Staat heraus. Auch bei Streitfragen einer christlichen Moral redet er nicht rein.
Anders sieht es aus beim schulischen Religionsunterricht. In vielen Bundesländern ist er eine Angelegenheit, um die sich Staat und Kirche gemeinsam kümmern. Er markiert einen der letzten Orte, an denen Jugendliche für die Institution Kirche erreichbar sind. Allerdings handelt es sich dabei um einen staatlich gesicherten Ort. Dank dieser Absicherung finden die Kirchen direkten Zugang zu einer wichtigen Zielgruppe. Mit ihren Firm- und Konfirmandenkursen sprechen sie nur noch einen deutlich kleineren Teil der jüngeren Generation an. In beträchtlichem Umfang nimmt der Staat den Kirchen zudem die Kosten für Studium und Weiterbildung der Lehrkräfte für den Religionsunterricht ab. Nicht unerheblich ist auch die staatliche Refinanzierungsquote von Schulen in kirchlicher Trägerschaft. Sie überschreitet bei weitem den kirchlichen Eigenanteil.
Bereits diese Asymmetrie mag die Frage provozieren: Wer braucht hier eigentlich wen – und wozu? Offensichtlich erfolgt ein kirchliches Engagement im Bildungssektor unter Bedingungen, deren Erfüllung der Staat und nicht die Kirche garantiert. Können die Kirchen nur noch unter dieser Voraussetzung den Nachweis ihrer gesellschaftlichen Relevanz erbringen? Benötigen sie staatlichen Flankenschutz, um der ansonsten drohenden sozialen Bedeutungslosigkeit zu entgehen? Sorgt der Staat auf diese Weise dafür, dass die Kirchen als bedeutsamer erscheinen, als sie es in Wirklichkeit sind? Ist lediglich die grundgesetzliche Absicherung des Religionsunterrichtes als ordentliches Lehrfach die entscheidende Hürde für seine vielfach verlangte Abschaffung?
Inwieweit braucht der Staat heute die Religion?
Die seit Jahren geführten Debatten um die Legitimität eines konfessionellen Religionsunterrichtes an staatlichen Schulen offenbaren die Brüchigkeit bisher akzeptierter Rechtfertigungsversuche. Dies gilt auch für die häufig zitierte Formel des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. (…) Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt, mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren versuchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben“ (Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München 2007, 71).
Vielleicht braucht der Staat für die Sicherung seiner moralischen Substanz heute die Religion in weitaus geringerem Maß als vermutet. Muss er angesichts des durch Kirchenaustritte forcierten Rückgangs evangelischer und katholischer Anteile der Bevölkerung nicht auf andere moralische Ressourcen setzen? Ohnehin kommt in weltanschaulich pluralen Gesellschaften „die“ Religion nicht mehr als vorzugswürdiges soziales Bindemittel in Frage. Es gibt sie selbst nur noch im Plural. Wie soll die heterogene Größe „Religion“ noch den Zusammenhalt des Sozialen stärken können? Wo Säkularisierungsschübe der Gesellschaft mit einer Diversifizierung des religiösen Feldes einhergehen, bewegt sich das Plädoyer für die sozio-kulturelle Unentbehrlichkeit einer religiösen Tradition auf unsicherem Terrain.
Manche Indizien sprechen dafür, dass die Gegenthese zutrifft: In weithin säkularisierten Gesellschaften leben Religionen von Voraussetzungen, die sie selbst nicht sichern können. Diese Angewiesenheit resultiert nicht aus religionsinternen Schwächen, die religionsextern zu kompensieren sind. Vielmehr sorgt bereits das Faktum einer größeren religiösen Pluralität sowie die Diversität säkularer und religiöser Lebensstile für staatlichen Regelungsbedarf. Das Gebot der staatlichen Neutralität in religiösen Angelegenheiten und der Rechtsanspruch auf freie Religionsausübung stehen dabei unerwartet auf dem Prüfstand.
Immer öfter müssen Gerichte über die Anerkennung der besonderen Praktiken von religiösen Minderheiten urteilen. Mal geht es um einen Gebetsraum, den eine öffentliche Schule für einen muslimischen Schüler einrichten soll und den dieser zu festen Zeiten während des Unterrichts nutzen will. Ein anderes Mal dreht sich der Streit um den Menüplan der Schulmensa, der auf religiöse Speiseverbote keine Rücksicht nimmt.
Dass in diesen Fällen nach dem Staat gerufen wird, mag kritischen Zeitgenossen ebenso wenig einleuchten wie der Status des Religionsunterrichtes als ordentliches Lehrfach. Denn für sie zeichnet den liberalen Rechtsstaat aus, dass er bei der Gestaltung des Zusammenlebens seiner Bürger allein säkulare Zwecke verfolgt. Er verdankt sich der Trennung von Religion und Staat, die zur Bedingung für das Miteinander von Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen und Bekenntnisse geworden ist. Religiöse Anliegen und Ziele liegen außerhalb seiner Zuständigkeit. Allenfalls sieht er sich in der Pflicht, für Toleranz und Frieden zwischen den Religionen einerseits und ihrem säkularen Umfeld andererseits einzutreten. Er sichert das Recht auf freie Religionsausübung und er wehrt die illegitime Einschränkung dieses Rechtes ab. Aber muss er für die Wahrnehmung dieses Rechts staatliche Institutionen öffnen? Zwar kann es ohne das Grundrecht der Religionsfreiheit keine liberale Demokratie geben. Ebenso bleibt ohne Offenheit für eine Pluralität an Religionen das Reden von Religionsfreiheit ein Etikettenschwindel. Aber muss diese Offenheit so weit gehen, dass der Staat in seinen Bildungseinrichtungen eigens Räume und Zeiten freihält, in denen Religionen, Kirchen und Konfessionen ihre religiösen Ziele und Zwecke verfolgen können?
Im Blick auf die Herausbildung des modernen Staates erscheint diese Konstellation als prekär. Denn er verdankt sich der Säkularisierung von Legitimation und Ausgestaltung der politischen Ordnung einer Gesellschaft. Vor allem nach der Erfahrung konfessioneller Bürgerkriege musste diese Ordnung auf ein Fundament gegründet werden, das von einem religiösen Bekenntnis unabhängig war. Dies geschah auf dem Weg einer grundsätzlichen Unterscheidung von religiöser und politischer Sphäre, der Umschreibung genuin „weltlicher“ Aufgaben und Ziele der politischen Ordnung und der Sicherung der „Suprematie“ des Staates bei ihrer Erfüllung. Vor diesem Hintergrund erscheint der Religionsunterricht an staatlichen Schulen als eine res mixta, die gemischte Gefühle auslöst. Die gemeinsame, von Staat und Kirche verantwortete Fachaufsicht lässt den Verdacht einer unvollständig durchgeführten Unterscheidung religiöser und säkularer Sphären aufkommen. Sollte man nicht endlich für klare Verhältnisse sorgen und diese Mixtur aufheben? Oder gibt es gute Gründe, diese Konstruktion beizubehalten und auch auf nicht-christliche Religionen anzuwenden?
Ob es im Interesse eines liberalen demokratischen Staates liegt, im Bereich des Religionsunterrichtes mit unterschiedlichen Religionsgemeinschaften zu kooperieren, erklärt sich nicht aus dem Blick in den Rückspiegel der Geschichte. Aussichtsreicher ist die Reflexion auf seine Bestands- und Erhaltungsbedingungen in Gegenwart und Zukunft. Hier zeigt sich, dass die von Böckenförde markierte Herausforderung zwar grundsätzlich noch besteht. Aber sie verlangt eine modifizierte Antwort. Muss eine liberale Demokratie noch immer politisch unverfügbare Ressourcen schützen, die religiös gespeist werden? Oder motivieren den Staat andere Überlegungen, unterschiedliche Religionsgemeinschaften in seinen Institutionen antreffbar zu machen?
Eine liberale Demokratie bedeutet mehr als eine nur formale Verfahrensordnung für die Regelung von Interessenkonflikten. Sie wird etabliert als Verfassungsordnung zur Verwirklichung des Menschenrechtes, Rechte zu haben und diese Rechte auch auszuüben. Diese Verfassung zehrt von der rechtlich nicht erzwingbaren Bereitschaft ihrer Bürger, sich gegenseitig als freie und gleiche Mitglieder eines politischen Gemeinwesens zu respektieren. Zugleich ist eine liberale Demokratie auf eine Loyalität gegenüber diesem Gemeinwesen angewiesen, die sich nicht in bloßer Gesetzestreue der Bürger erschöpft. Dass ein Staat die Verwirklichung von Grund- und Menschenrechten gewährleistet, zeichnet diese Gewährleistung nicht nur juristisch oder politisch, sondern auch ethisch aus. Insofern muss ihm daran gelegen sein, dass ein Bewusstsein für ein Menschenrechtsethos in der Bevölkerung lebendig bleibt. Ohne dieses Fundament kann er auch seine Loyalitätserwartungen nicht rechtfertigen. Daher muss er daran interessiert sein, dass beides – Menschenrechtsethos und Loyalitätsbereitschaft – von der Gesellschaft getragen wird.
Sofern damit eine Bildungsaufgabe verbunden ist, erscheint für deren Bewältigung die Schule als eine geeignete Institution. Allerdings bietet sich dafür nicht der Religionsunterricht an. Entsprechende Lernprozesse können eher in den Fächern Sozialkunde und Ethik verankert werden. Aber wenn der liberale Staat seinen Bürgern ein Menschenrechtsethos über weltanschauliche Grenzen hinweg ansinnt, muss er darauf setzen, dass sich die dazu notwendigen Einstellungen und Haltungen auf religiöser wie auf säkularer Seite gleichermaßen herausbilden. Zumindest gilt dies so lange, wie Religionen einen beträchtlichen Einfluss auf das individuelle und soziale Leben haben. Vor diesem Hintergrund tritt der Staat an seine religiösen Bürger mit der Frage heran, ob sie das moderne Ethos von Freiheit, Gleichheit und Solidarität auch aus ihrer religiösen Tradition heraus bejahen und bekräftigen können. Würde ihnen die Anerkennung dieses Ethos widerwillig abgerungen oder als Tribut an eine political correctness abverhandelt, wäre für die staatlichen Bemühungen um Sicherung politisch unverfügbarer Sinn- und Motivationsressourcen ethisch anspruchsvoller Formen des Zusammenlebens nichts gewonnen.
Blickt man auf die Gestaltung der Lehrpläne des evangelischen und katholischen Religionsunterrichts, ist durchaus das Bestreben zu erkennen, für das Menschenrechtsethos genuin religiöse Ressourcen in den Blick zu nehmen. Dies erleichtert das Ringen um eine „intrinsische“ religiöse Unterstützung dieses Ethos. Außerdem ergibt sich hierbei die Gelegenheit, die unabgegoltene Relevanz eines religiösen Ethos am Beispiel der Mitgeschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit des Menschen auf dem Wege seiner Übersetzung in säkulare Kontexte zu demonstrieren. Dieses Ethos birgt die für weltanschaulich plurale Gesellschaften essenzielle Einsicht: Es gibt zwischen allen Menschen erhebliche Unterschiede. Aber diese werden von einer je größeren Gemeinsamkeit umgriffen und relativiert.
In einer säkularen Gesellschaft die Sensibilität für ein solches Ethos wachzuhalten, dürfte somit ein gemeinsames Anliegen von Staat und Kirche sein. Allerdings geht es in religiösen Überlieferungen um mehr als um Moral. Die Vertreter religiöser Institutionen mögen wenig dagegen einzuwenden haben, dass sie gesellschaftlich gebraucht werden. Aber sie werden sich dagegen wehren, für die Realisierung säkularer Ziele und Zwecke benutzt zu werden. Gleichwohl kann der Erwartungsdruck einer modernitätskompatiblen Vermittlung religiöser Inhalte ihnen durchaus willkommen sein.
Religiöse Überzeugungen profitieren ja nicht nur von einer Übersetzung ins Säkulare. Vielmehr bedürfen sie auch einer plausiblen Vermittlung an die jeweils nächste Generation der Glaubensgemeinschaft. Religiös sozialisierte Jugendliche verlangen angesichts der behaupteten existenziellen Relevanz religiöser Traditionen nach überzeugenden Gründen und Kriterien, um Inhalt und Praxis des Glaubens von haltlosen Projektionen und haltgebenden Illusionen unterscheiden zu können. Ein religiöser Glaube, der die rationale Verantwortung scheut, verliert an Glaubwürdigkeit. Religiöse Unbildung ist häufig gepaart mit Unvernunft und Aberglaube. Ein Religionsunterricht, der diese Paarung aufbricht, leistet auch einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlich notwendigen Fundamentalismusprophylaxe und Fanatismusprävention. Hierbei ist entscheidend, dass dieser Beitrag Ausdruck einer religionsinternen Ideologiekritik ist und von „bekenntnisgebundenen“ Lehrkräften erbracht wird. Seine Wirkung fiele schwächer aus, würde er nur von religionskritischen Akteuren artikuliert.
Kein intellektueller Rabatt
Das Interesse des Staates an einer religiösen Unterweisung, die sich religionskritischen Anfragen stellt, Toleranz gegenüber Anders- und Ungläubigen einübt, spiegelt sich nicht zuletzt in den Standards der akademischen Ausbildung von Lehrkräften. Sie ist zugleich der Testfall, ob seitens der christlichen Konfessionen die Verarbeitung der wissenschaftlichen, politischen und sozialen Fortschritte der Moderne gelingt. Sind sie in der Lage, die Erkenntnisfortschritte der Wissenschaften als kompatibel mit ihrer religiösen Doktrin zu reflektieren? Bringen Sie die Einsicht auf, dass sich ein religiöses Ethos mit dem Freiheitsethos eines liberalen Rechtsstaates nur dann verträgt, wenn sie sich für alle Grundrechte einsetzen und nicht bloß für die Belange der Religionsfreiheit eintreten? Sind sie willens, den Geltungsanspruch der von ihnen vertretenen Heilswahrheiten derart zu vertreten, dass sie interreligiöse Kontroversen argumentativ austragen, anstatt ihnen repressiv auszuweichen?
Diese Fragen leiten über zu einem auf nicht-christliche Religionen bezogenen schulischen „konfessionellen“ Religionsunterricht. Im Hinblick auf die religiöse Identität und kulturelle Integration von Migranten kann es im Interesse des Staates liegen, seine Bildungseinrichtungen zu öffnen. Dies ist Ausdruck seiner Liberalität und verschafft ihm zugleich Loyalität.
Denn die Liberalität eines säkularen Staates bemisst sich nach Umfang und Reichweite jener Freiheitsrechte, deren Ausübung er seinen Bürgerinnen und Bürgern gewährleistet. Er findet umso größere Akzeptanz, je mehr er diese Freiheitsrechte schützt. Und je mehr das Recht auf freie Religionsausübung von Seiten des Staates gesichert wird, umso größer wird die Loyalität jener Bürgerinnen und Bürger sein, für die Religion ein konstitutives Merkmal ihrer Identität ist. Es fällt ihnen leichter, sich in ein säkulares Gemeinwesen zu integrieren, wenn in diesem Gemeinwesen Rücksicht auf religiöse Belange genommen wird. Wenn nun für viele Staatsbürger mit Migrationshintergrund ihre religiöse Identität hohe Priorität hat, muss dies ein liberaler Verfassungsstaat keineswegs ignorieren. Er kann durchaus dafür eintreten, dass diese Bürger gute Gründe haben, ihn auch um ihrer religiösen Identität willen anzuerkennen. Sogar eine Win-win-Situation ist vorstellbar: Der Staat ebnet den Religionen der Migranten einen Zugang zum schulischen Unterricht mit dem Nebeneffekt ihrer besseren Integration. Und die Migranten wertschätzen den Staat aufgrund der von ihm ausgehenden Anerkennung und Absicherung ihrer religiösen Identitäten. Bei der Ausbildung der Lehrkräfte und bei den Inhalten der Lehrpläne sollte allerdings eine wichtige Gleichstellungsbedingung erfüllt bleiben: Hinsichtlich des intellektuellen Anspruchsniveaus gibt es im Vergleich mit anderen geisteswissenschaftlichen Studiengängen und Schulfächern keinen Rabatt.