Das Ökumenismusdekret Unitatis RedintegratioSelbstrelativierung der Kirche

Die gegenwärtige Resignation vieler in der Ökumene Engagierter verdeckt die Erfolgsgeschichte des Dekretes Unitatis Redintegratio. Die Flut ökumenischer Erwartungen an das Konzil, die das Ökumenismusdekret erzwungen hat, wurde anschließend durch die Wirkungsgeschichte des Dekretes kanalisiert, das freilich eine Reihe von Fragen offen ließ.

Bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich die katholische Kirche auf der Basis päpstlicher Verdikte – vor allem in der Enzyklika „Mortalium animos“ Pius’ XI. – unnachgiebig geweigert, sich in die ökumenische Bewegung hineinzubegeben, weil sie fürchtete, ihren Anspruch, die allein wahre Kirche Jesu Christi zu sein und alle getrennten Kirchen als Ergebnis schuldhaften Abfalls betrachten zu müssen, zu verraten. Erst in den fünfziger Jahren kam es zu vorsichtigen versöhnlichen Signalen.

Umso überraschender ist, dass die Ökumene bei den beginnenden Vorbereitungsarbeiten zum Konzil kein Thema war, weder beim Papst noch bei den 2821 „Postulaten“ (Vorschlägen) für zu behandelnde Themen, die auf Veranlassung Roms von den Bischöfen der Welt eingesandt worden waren: Ganze drei Postulate betrafen das Verhältnis zu den nicht-römischen Kirchen. Und doch war auch in der katholischen Kirche eine Entwicklung parallel zu der in der evangelischen Ökumene nicht mehr aufzuhalten. Schon aus der Zeit vor dem Krieg kann man eine lange Liste von katholischen Pionieren der ökumenischen Bewegung aufstellen – sie standen immer unter lehramtlichem Verdacht, es gab auch Maßnahmen, aber ihr sentire cum ecclesia stand letztlich außer Zweifel. In und nach dem Zweiten Weltkrieg ist zwischen Theologen, Amtsträgern und Gemeinden aus gemeinsamer Erfahrung der Not viel Eis geschmolzen. Es waren diese Erfahrungen, die dann ökumenische Erwartungen an das angekündigte Konzil herantrugen. Theologen und Laien-Gremien aus den stark gemischt-konfessionellen Ländern (Deutschland, Schweiz, Österreich, Niederlande, USA) machten sie durch Bücher, Aufsätze und durch Radio oder Fernsehen öffentlich, prägten das Bewusstsein der Kirchenglieder und haben so die Vorbereitungsgremien und den Papst regelrecht genötigt, das Thema „Ökumene“ auf die Tagesordnung zu setzen.

So hat Johannes XXIII. in der berühmten Ansprache vom 25. Januar 1959, in der er das Konzil ankündigte, mit souveräner Unbekümmertheit um die kirchenrechtlich korrekte Sprachregelung eine Einladung an die nicht-katholischen Kirchen wie folgt formuliert: „... und eine freundliche und neuerliche Einladung an unsere Brüder der getrennten christlichen Kirchen, mit uns an diesem Festmahl der Gnade und Brüderlichkeit teilzunehmen, auf das so viele Seelen in jedem Winkel der Welt hoffen“ (Herv. von OHP). Als er diese Sätze schrieb und vortrug, hatte er allerdings noch lange keine genauere Vorstellung davon, was sie einmal auslösen würden. Erst die Vorbereitungsarbeiten in den folgenden Jahren wurden konkret.

Der Papst traf allerdings schon früh drei weise Entscheidungen, um diesem Thema eine sachgemäße Bearbeitung zu sichern. Die eine: In einer Pressekonferenz am 30. Oktober 1959 – schon 1959! – teilte Kardinalstaatssekretär Domenico Tardini mit, der Papst habe den Plan, die getrennten Kirchen zur Entsendung amtlicher Beobachter einzuladen. Das erwies sich in der Tat als eine gute Lösung. Sie verpflichtete die nicht-römischen Kirchen zu nichts, ersparte ihnen also lange und quälende interne Auseinandersetzungen; und sie verpflichtete die Kirche Roms zu nichts, verhinderte also Spaltungen schon im Vorfeld des Konzils. Die zweite Entscheidung: Der Papst folgte einer Anregung des Kardinals Lorenz Jaeger von Paderborn und gründete das „Sekretariat zur Förderung der Einheit der Christen“, kurz „Einheitssekretariat“ genannt. Da in den übrigen Vorbereitungskommissionen aufgrund der eingefahrenen Routine weder Interesse noch Sachverstand in Bezug auf ökumenische Beziehungen der Kirche vorhanden waren, konnte das ökumenische Anliegen auf dem Konzil nur dann einen Ort finden, wenn regelrecht nachgearbeitet wurde, also über die drei Eingaben hinaus mit Macht ökumenische Themen zur Beratung vorgeschlagen wurden, die in der theologischen Diskussion ja längst vor Augen standen. Dazu bedurfte es nach Lage der Dinge einer völlig neuartigen, aus dem Rahmen der übrigen Kurienbehörden herausfallenden Institution, bei der sich die völlig neuartigen Themen sammelten und die die Verantwortung dafür übernahm. Protokollarisch stand sie unter den „Kongregationen“ – sie war „nur“ ein Sekretariat. Aber der Papst stattete es mit zusätzlichen Kompetenzen aus und unterließ jede seine Arbeitsfreiheit einschränkende Anbindung an eine der anderen Behörden. Das bedeutete vor allem: eigenes Rede- und Antragsrecht. Das Sekretariat und sein Leiter mussten ihre Vorschläge beim Konzil nicht erst durch eine andere Kommission oder Behörde absegnen lassen, und der Leiter konnte seine Vorschläge oder Texte selbst in der Konzilsaula vortragen. Die dritte Entscheidung: Der Papst berief den Leiter des Päpstlichen Bibelinstitutes, den Jesuiten Augustin Bea zum Leiter des Einheitssekretariates und erhob ihn gleichzeitig zum Kardinal – unerlässlich, wenn seine Stimme das gebotene Gewicht erhalten sollte. Der Papst setzte damit ein deutliches ökumenisches Signal: Die nicht-römischen Kirchen sollten, soweit es sachlich und kirchenrechtlich möglich war, Gesprächspartner auf dem Konzil werden. Die Ernennung Beas erwies sich als eine wahrhaft erleuchtete Wahl. Das Einheitssekretariat hatte ja die Aufgabe, den persönlichen und sachlichen Kontakt mit den nicht-katholischen Kirchen und deren Repräsentanten herzustellen und zu halten. Das gelang der überaus gewandten und liebenswürdigen Persönlichkeit Beas so vorzüglich, dass das anfängliche Misstrauen der nicht-katholischen Welt bald schwand und die Nicht-Katholiken, Kirchenführer wie Theologen, bald im Einheitssekretariat ein und aus gingen, Arbeitsessen und Papstaudienz eingeschlossen. Man übertreibt nicht, wenn man sagt: Ohne Bea hätte Johannes XXIII. nicht das Konzil bekommen, das er haben wollte.

Erst das Konzil selbst forderte ein Ökumenismusdekret

So kamen also die offiziellen Beobachter der nicht-katholischen Kirche zum Konzil – die der Russisch-Orthodoxen Kirche buchstäblich in letzter Minute, nachdem auch die Moskauer Führung davon überzeugt werden konnte, dass sich das Konzil in keiner Weise parteiisch oder gar mit Verurteilungen zu politischen Fragen äußern würde. Die Anglikanische Kirche sandte drei offizielle Vertreter. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) entsandte Professor Edmund Schlink aus Heidelberg – einen erstrangigen Fachmann und damals wissenschaftlicher Leiter des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen. Der Lutherische ebenso wie der Reformierte Weltbund sowie der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) sandten Vertreter – Letzterer schickte den Leiter der Kommission für Faith and Order (Glaube und Kirchenverfassung), Lukas Vischer. Die Beobachter bekamen eine besondere Empore zugewiesen: vom Kirchenschiff aus gesehen rechts zu Beginn des Querschiffs in St. Peter, unmittelbar an der Seite des Präsidium-Tisches. So konnten sie alles und alle gut sehen und hören. Der Papst hatte angeordnet, dass die Beobachter alle Beschlussvorlagen in allen Stadien ihrer Beratung und Überarbeitung zugeleitet bekamen. Sie sollten in voller Freiheit dem Einheitssekretariat Verbesserungs- und Ergänzungsvorschläge einreichen, die das Einheitssekretariat dann in der Konzilsaula einbringen konnte. Auf diese Weise haben die nicht stimmberechtigten Beobachter an manchen Konzilsdokumenten intensiver mitgearbeitet als mancher Hinterbänkler im Bischofsornat, der fleißig mit der Mehrheit die Hand hob.

Das Konzil – erst das Konzil selbst! – beauftragte im Dezember 1962, also kurz vor Schluss der ersten Sitzungsperiode, das Einheitssekretariat, auf der Grundlage der gleichzeitig (völlig neu) zu erarbeitenden Kirchenkonstitution ein Ökumenismusdekret zu entwerfen. Ursprünglich sollten darin auch die Beziehung zum Judentum und – ganz knapp – auch das Verhältnis zu den nicht-christlichen Religionen und das Problem der Religionsfreiheit behandelt werden. Aber diese Themen wurden aufgrund äußerer (politische Turbulenzen um die geplante Erklärung zum Judentum) und sachlicher Gründe (Ökumene ist nicht interreligiöser Dialog) herausgenommen und in eigenen Texten behandelt. Daraufhin war die Ökumene wieder gleichsam „unter sich“, und die weitere Erarbeitung des Textes verlief problemlos.

So gehört das Ökumenismusdekret Unitatis Redintegratio (UR) zu den nur fünf von insgesamt sechzehn Dokumenten, die schon in der dritten Tagungsperiode, ein Jahr vor Abschluss des Konzils, feierlich verkündet werden konnten. Dies war beim Ökumenismusdekret am 21. November 1964 der Fall. Ein Gesamturteil vorweg: Das Dekret hat ungeheuer viel in Bewegung gebracht und auf allen Ebenen Selbstverständlichkeiten im ökumenischen Miteinander geschaffen, denen gegenüber die eingangs zitierten Worte Pius’ XI. nur noch ein Kopfschütteln auslösen. Und zugleich hat es bis heute die Kirche – die katholische wie die nicht-katholischen Kirchen – ratlos gelassen, welchen Weg zu neuer Gemeinschaft der Kirchen (besser nicht: Einheit der Kirche!) man beschreiten könne. Eine erste Antwort auf die Frage „Was ist neu?“ muss also zunächst einschärfen: Keine Wünsche auf das Ökumenismusdekret projizieren, die es nicht erfüllen wollte und konnte, sondern es sagen lassen, was es wirklich sagt! Neu ist unbestreitbar dies: Die römisch-katholische Kirche tut, was sie bisher strikt abgelehnt hatte. Sie begibt sich bewusst in die ökumenische Bewegung hinein, die außerhalb ihrer selbst entstanden ist, also in die bestehende ökumenische Bewegung, und zwar unter deren Voraussetzungen. Das Konzil verlangt den ökumenischen Dialog „von gleich zu gleich“ (par cum pari, UR 9), ordnet für das Theologiestudium Kurse in ökumenischer Theologie an (UR 9), fordert die Unterscheidung zwischen Sachgehalt der Lehre und der sprachlichen Ausdrucksform (UR 6), verlangt das Eingeständnis eigener Schuld in der Vergangenheit (UR 7), äußert ein Höchstmaß an Anerkennung für Leben und Lehre der anderen Kirchen (UR 15; 17; 21–23). Dennoch gibt das Konzil keine Antwort, wie das für eine neue Gemeinschaft der Kirchen zu Buche schlagen könnte. Es weiß keinen Weg zur Einheit außer dem der „Bekehrung“ (UR 7), der Treue zur eigenen Tradition (UR 6; 11), der Reform (UR 6). Im Gegenteil, in zuweilen scharfer Form besteht das Konzil darauf, dass die unverkürzte katholische Lehrtradition ins Gespräch eingebracht werden muss; dass alle Christinnen und Christen in der Kirche „voll eingegliedert“ werden müssen, „die vom Nachfolger Petri und den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird“, es verwirft jeden falschen Irenismus, der verbindliche Lehre zur Disposition stellt, und begibt sich damit in eine logisch ausweglose Lage. Der in dieser Hinsicht härteste und, wenn man so will, „enttäuschendste“ Text des Dekretes sei hier in Erinnerung gerufen: „Dennoch erfreuen sich die von uns getrennten Brüder, sowohl als einzelne wie auch als Gemeinschaften und Kirchen betrachtet, nicht jener Einheit, die Jesus Christus all denen schenken wollte, die er zu einem Leibe und zur Neuheit des Lebens wiedergeboren und lebendig gemacht hat, jener Einheit, die die Heilige Schrift und die verehrungswürdige Tradition der Kirche bekennt. Denn einzig dem Apostelkollegium, an dessen Spitze Petrus steht, hat der Herr, so glauben wir, alle Güter des Neuen Bundes anvertraut, um den einen Leib Christi auf Erden zu konstituieren, welchem alle voll eingegliedert werden müssen, die schon auf irgendeine Weise zum Volke Gottes gehören. Dieses Volk Gottes bleibt zwar während seiner irdischen Pilgerschaft in seinen Gliedern der Sünde ausgesetzt, aber es wächst in Christus und wird von Gott nach seinem geheimnisvollen Ratschluss sanft geleitet, bis es zur ganzen Fülle der ewigen Herrlichkeit im himmlischen Jerusalem freudig gelangt“ (UR 3, 5. Abschnitt, Herv. von OHP).

Dieser Text – er steht noch im einleitenden Grundsatzkapitel des Dekretes – stellt also klar: Weil die Einheit der Kirche aufgrund des Heilsplanes Gottes in Christus Bekenntnisfrage ist, ist sie selbstverständlich kein Gegenstand eines diplomatischen Kompromisses. Weil sich dieses Bekenntnis auf die „Kirche, die vom Nachfolger Petri und den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird“ (LG 8), bezieht, kann man nicht davon abgehen, dass es Fernziel bleiben muss, alle Christen in dieser Kirche unter der Leitung des Nachfolgers Petri zu einen. Zum Volke Gottes – das doch nach Artikel 9 der Kirchenkonstitution die Kirche ist – gehören die getrennten Christen aber „auf irgendeine Weise“ jetzt schon. Der Hinweis auf die „Sünde“, der die Kirche „in ihren Gliedern“ (also: nicht in ihren Strukturen) „ausgesetzt ist“, kann darum nur die diskrete Bitte bedeuten, die nicht-katholischen Kirchen mögen sich doch davon nicht den klaren Gewissensentscheid blockieren lassen. An späterer Stelle formuliert das Dekret überdeutlich: „Die gesamte Lehre muss klar vorgelegt werden. Nichts ist dem ökumenischen Geist so fern wie jener falsche Irenismus, durch den die Reinheit der katholischen Lehre Schaden leidet und ihr ursprünglicher und sicherer Sinn verdunkelt wird“ (UR 11). Das Problem der Kircheneinheit ist demnach die Anerkennung der vollen katholischen Lehre. Zu geringerem Preis steht die Einheit mit der Kirche Roms nicht zu erwarten. Dennoch vermeidet man beharrlich, von einer „Rückkehr“ und gar einer solchen zur „römisch-katholischen“ Kirche zu sprechen. Das würde ja zumindest auch die unierten Ostkirchen diskriminieren, die jedenfalls nicht römisch-katholisch sind.

Elemente von Kirchlichkeit außerhalb der katholischen Kirche bewusst anerkannt

Trotzdem erschließen sich in diesen scharfen Äußerungen, die auf den ersten Blick keinen Spielraum für weitergehende Überlegungen zu lassen scheinen, auf den zweiten Blick Selbstrelativierungen, die bis heute ebenso aktuell wie folgenlos geblieben sind und darum zu den „offenen Fragen“ gehören.

Die wichtigste ist die hintergründige Formulierung, dass die Kirche Jesu Christi nach Gottes Heilsplan, die wir im Glaubensbekenntnis bekennen, „subsistiert“ (nicht einfach: ist!) „in der katholischen Kirche, die vom Nachfolger Petri und den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird“. In einem Begriff aus der altkirchlichen Christologie wird hier nach den ausdrücklichen Worten des Konzils in der Kirchenkonstitution ein Vergleich gezogen, wonach die gesellschaftliche Gestalt, also die konkrete Kirche, dem Heiligen Geist so dient (also dienen muss), wie die menschliche Natur in Christus dem göttlichen Wort dient, das in ihr Fleisch angenommen hat (UR 8). Es gehört zu den Fakten des Blicks zurück und nach vorn, dass die katholischen Ökumene-Kritiker seit einigen Jahren (besonders seit der Erklärung „Dominus Iesus“) mit aller Gewalt und gegen die Aktenlage versuchen, diese Formel wieder so zu interpretieren, dass sie einfach „ist“ bedeutet. Aber an dem „subsistit“ hängt die Öffnung für Kirchesein auch außerhalb der katholischen Kirche. Denn nach dem subsistit-Satz fährt der Text fort: „Das schließt nicht aus, dass außerhalb ihres Gefüges vielfältige Elemente der Heiligkeit und Wahrheit zu finden sind, die als der Kirche Christi eigene Gaben auf die katholische Einheit hindrängen.“ Das Konzil will also bewusst „Elemente“ von Kirchlichkeit außerhalb der römisch-katholischen Kirche anerkennen, die sie natürlich auch als ihre eigenen Gaben erkennt. Trotz der Forderung nach „voller Eingliederung“ spricht das Konzil von „Verbundenheit“ der anderen Kirchen mit der römischen Kirche und vermeidet das Wort „Gliedschaft“, das nur Ja oder Nein zuließe. Wie sich diese Anerkennung auf das Verhältnis zu den nicht-katholischen Kirchen auswirkt, wird hier noch nicht gesagt. Aber dieser Satz ist überhaupt erst die Realitätsgrundlage von so etwas wie einem Ökumenismusdekret. Schon Artikel 15 der Kirchenkonstitution, der die nichtkatholischen Kirchen anspricht, macht deutlich, dass die Gläubigen in diesen Kirchen nicht trotz Ihrer Mitgliedschaft, sondern in diesen Kirchen und durch das Leben in ihnen zum Heil geführt werden. Das in letzter Minute eingeführte Stichwort von der „Hierarchie der Wahrheiten“ (hierarchia veritatum, UR 8, 11. Abschn.), die im ökumenischen Dialog zu beachten sei, verlangt auf jeden Fall eine Unterscheidung unter den Glaubenssätzen. „Hierarchie“ bedeutet „heilige Rangfolge“. Das Stichwort ist gewiss nicht so zu verstehen, als ob jetzt zu verhandeln wäre zwischen wichtigen und unaufgebbaren Glaubenswahrheiten (Glaubenssätzen!) und unwichtigeren, auf die man gegebenenfalls verzichten könnte. Wohl aber wurde schon auf dem Konzil und dann in der nachfolgenden Diskussion unterschieden zwischen Glaubenssätzen, die sich auf das Ziel beziehen – Gott, Christus, die Gemeinschaft mit ihm – und solchen, die die Mittel zum Ziel betreffen. Zu diesen letzteren zählt unbestreitbar alles, was mit der juridischen Struktur der Kirche zu tun hat. Könnte nicht, so die sofortige ökumenische Konsequenz, ein Großteil der Streitfragen zwischen den Kirchen diese Mittel betreffen, während man sich doch beständig gegenseitig versichert, in Bezug auf das, was der Ordnung des Zieles angehört (dem Glauben an die Erlösung durch Jesus Christus), habe man eine grundlegende Übereinstimmung? Die Formel von den „Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften“ soll entgegen dem diskriminierenden Ton die Frage nach Kirche-Sein außerhalb der römisch-katholischen Kirche gerade offen halten: durch Übernahme der Sprachregelung des Weltkirchenrates, dem ja auch Gemeinschaften (vor allem in den USA) angehören, die sich ausdrücklich nicht als Kirchen verstehen wollen. Durch die Sprachregelung des Konzils sind auch sie nicht ausgeschlossen. Anderseits war das Selbstverständnis der Gemeinschaften, die sich selbst ausdrücklich als „Kirchen“ verstehen, in den Sprachgebrauch aufgenommen. Der so umstrittene Ausdruck ist also im Konzilstext nichts als eine pragmatische Sprachregelung, unter die sich jede christliche Gemeinschaft einordnen kann wie auch im Weltkirchenrat.

In jüngster Zeit gibt es sogar wieder regelrechte anti-ökumenische Kampagnen

Entgegen einem verbreiteten Gefühl von Resignation und Frustration wäre es ganz und gar ungerecht und undankbar, nicht zunächst von einer wahrhaften Erfolgsgeschichte des Ökumenismusdekretes zu reden. Die Flut weltöffentlicher ökumenischer Erwartungen an das Konzil, die das Ökumenismusdekret buchstäblich erzwungen hat, wurde anschließend durch die Wirkungsgeschichte des Dekretes gewissermaßen kanalisiert. Die Aufforderung zum Dialog „von gleich zu gleich“ (par cum pari, UR 9) wurde ganz beim Wort genommen. In allen stark gemischt konfessionellen Ländern wurden nicht nur Institute für ökumenische Theologie an den Universitäten gegründet, es fanden auch die Ökumenischen Kommissionen oder Arbeitskreise zusammen oder, wo sie schon existierten, traten sie aus vormaliger Heimlichkeit ins Licht der Öffentlichkeit. Sie erarbeiteten und veröffentlichten ein „Konvergenzpapier“ nach dem anderen zu allen ökumenischen Streitfragen. Die Ergebnisse und Berichte dieser Gespräche auf Weltebene füllen inzwischen drei Bände unter dem Titel „Dokumente wachsender Übereinstimmung“. Ihren bisherigen Höhepunkt erreichten diese Konvergenzpapiere mit der zwischen Rom und dem Lutherischen Weltbund in Genf erarbeiteten und unterzeichneten „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ vom 31. Oktober 1999. Daran ist besonders bedeutsam: Zum ersten Mal haben sich die beteiligten Kirchen diesen Text trotz aller Kritik offiziell zu eigen gemacht – während es bei allen bisherigen Texten immer nur bei freundlichen Würdigungen blieb, gefolgt von den schon rituellen Forderungen nach weiteren „vertiefenden Studien“. Der „Ökumenismus der Bekehrung“ hat Früchte getragen. Umgekehrt sind auch die schärfsten Kritiker der „Verhandlungsökumene“ – ein ebenso verfehltes wie beleidigendes Schimpfwort wie seinerzeit „Modernismus“ – voll des Lobes für die wachsende Gemeinsamkeit im Glauben zwischen evangelischen und katholischen Gemeinden. Das Zweite ist der Fortfall aller Berührungsängste. Evangelische und katholische Gemeinden arbeiten auf allen unproblematischen Feldern (und zuweilen, jeder weiß es, auch auf problematischen Feldern) zusammen: gemeinsame Veranstaltungen und Feste, gemeinsame Sozialarbeit, Ökumenische Gottesdienste, persönliche Freundschaften zwischen den Pfarrern und Theologen.

Neben der Erfolgsgeschichte gibt es aber leider auch eine Blockadegeschichte, und sie bedrückt umso mehr, je mehr die Erfolgsgeschichte zur Selbstverständlichkeit wird. Die wichtigste Blockade besteht darin, dass das Dekret bei den angesprochenen Themen als letztes Wort ins Treffen geführt wird. Das Dokument, mit dem die Kirche sich erstmals amtlich auf den ökumenischen Weg macht, soll also angeblich sofort die Grenze des Weges markieren. Ein Schulbeispiel – zugleich das frustrierendste – ist UR 22 mit dem umstrittenen Wort vom defectus ordinis in den Reformationskirchen, vom Fehlen des (oder doch nur: Mangel am?) Weihesakramentes, woraus dann die „Ungültigkeit“ des evangelischen Abendmahls und für Katholiken das Verbot jeder Teilnahme am evangelischen Abendmahl gefolgert wird. Und dieses Zitat ist dann das letzte Wort zur Sache – als befänden wir uns noch im Jahre 1964, vor allen ökumenischen Studien über Eucharistie und Amt! Ebenso sind hier – nicht nur auf katholischer Seite – anti-ökumenische Taten zu beklagen, das heißt: innerkirchliche Vorgänge, bei denen die Auswirkung auf die Ökumene nicht bedacht wurde, wenn nicht sogar von interessierter Seite bewusst gewollt. Dazu gehören zum Beispiel: die Ablassinstruktion vom 1. Januar 1967 – wenig taktvoll zum 450. Jahrestag der Ablassthesen Luthers – und problematische Heiligsprechungen, die alles andere als ein ökumenisches Signal waren; das Dokument „Zu einigen Fragen der Kirche als Communio“ von 1992, das unverhohlen die Bekräftigung des päpstlichen Primats zum eigentlichen Sinn der Ekklesiologie des Konzils erklärt – und zum „objektiven“ inneren Sinn der ökumenischen Bewegung; ferner zentralistisches Hineinregieren in die Ortskirchen und ihre Bischofskonferenzen, das nicht geeignet ist, bei den zur Gemeinschaft gewillten Kirchen Vertrauen zu wecken und noch vieles mehr. In jüngster Zeit erleben wir sogar wieder regelrechte anti-ökumenische Kampagnen, ganze Zeitungen öffnen dafür ihre Spalten. Bei vielen ökumenisch engagierten Gläubigen macht sich daher Resignation breit. Im „günstigsten“ Fall leiden sie noch daran, im Normalfall reagieren sie mit Abwendung vom „Theologengezänk“. Doch ist dies die Folge der realistisch und logisch auswegslosen Lage, in die sich die Ausführungen des Dekretes begeben, nämlich einerseits auf der „Eingliederung“ aller Christen in die „Kirche unter dem Nachfolger Petri“ bestehen zu müssen und zu wollen und gleichzeitig Wege zu neuer Kirchengemeinschaft für möglich zu halten.

Es führt also kein Weg daran vorbei: Theologisch schlüssige Lösungen der praktischen Probleme kann es nur geben, wenn die Spaltung der una sancta in einander die Gemeinschaft verweigernde Kirchen überwunden wird. Dafür hat die Erfolgsgeschichte des Ökumenismusdekretes im Bewusstsein der Kirchenglieder den Boden bereitet. Die Blockadegeschichte darf nicht weiter geführt werden. Dazu darf das erste Wort des Dekretes nicht länger als letztes Wort missbraucht werden. Vielmehr muss auf der Spur der schon überdeutlichen Selbstrelativierungen der Kirche Roms weiter nach den Offenheiten für neue Gemeinschaft gesucht werden. Unvermeidlich ist solche Selbstrelativierung – die nicht zu verwechseln ist mit billigem „Reduktionismus“ – auch notwendig in Bezug auf das, was „Leitung durch den Nachfolger Petri“ heißen und nicht heißen kann, theologisch wie praktisch. Umso glaubwürdiger darf dann auch gleiche Selbstrelativierung von den nicht-römischen Kirchen erwartet werden. Dabei gilt es, praktisch Ernst zu machen mit dem, was theologisch seit Jahrzehnten erarbeitet ist – von Theologen und gottlob auch Theologinnen, die in beiderseitigem kirchlichem Auftrag die Offenheiten für neue Gemeinschaft auszuloten hatten. Und dann gilt es, auf die Stunde des Heiligen Geistes zu warten. Das Konzil jedenfalls hat in seiner logisch ausweglosen Stellungnahme darauf vertraut, dass im sachkundigen und bußfertigen Dialog sich unter dem Antrieb des Heiligen Geistes Wege der Einheit zeigen werden, von denen wir jetzt – also damals – bestenfalls eine Ahnung haben konnten. Die Treue zur Lehre der Kirche wird dem Wehen des Geistes in diesem Dialog selbst anvertraut, um nicht zusagen: ausgeliefert. Und den Geist darf man bekanntlich nicht auslöschen.

Anzeige: Geschichte der Päpste seit 1800. Von Jörg Ernesti

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