Die Politik hat dafür gesorgt, dass in den Bereich der Pflege das Prinzip der wirtschaftlichen Konkurrenz und des Preiswettbewerbs Einzug gehalten hat. Träger der freien Wohlfahrtspflege, staatliche Einrichtungen und private Unternehmen konkurrieren miteinander, die Nutzer von Pflegeleistungen wurden zu Kunden. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Ulrike Kostka: Die Intention der Politik war zunächst nachvollziehbar. Ich würde schon sagen, dass der Wettbewerb zu Qualitätssteigerungen geführt hat. Man muss sich auf dem Markt profilieren und mit guter Qualität überzeugen, sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag. Allerdings hat dies dazu geführt, dass renditeorientierte Unternehmen Einzug gehalten haben und für manche Träger damit der Profit an die erste Stelle getreten ist. Das hat zu schweren Belastungen der Pflegekräfte und der Pflegebedürftigen geführt und ist auch eine der Ursachen, weshalb diese so wichtige Berufsgruppe heute Mangelware ist. Im Nachhinein muss ich sagen, dass dabei das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wurde.
Sylvia Bühler: Es war ein großer Fehler, dass mit der Altenpflege ein wichtiges Feld der Daseinsvorsorge dem Markt überlassen wurde. Anfangs habe ich dazu weder von der Caritas noch von der Diakonie Kritik gehört. Inzwischen haben aber auch die konfessionellen Wohlfahrtsverbände begriffen, wie gefährlich die Entwicklung ist. Einige Unternehmen gehören zu Hedgefonds, denen es nicht um eine optimale Versorgung geht, sondern nur darum, möglichst hohe Renditen zu erzielen. Die privaten Konzerne verweigern sich Tarifverträgen, viele zahlen nur Pflegemindestlohn und haben auch sonst schlechte Arbeitsbedingungen. Mittlerweile leidet die ganze Branche unter dem schlechten Image, und das niedrige Vergütungsniveau ist maßgeblich für den Fachkräftemangel verantwortlich. Deshalb hatten sich die Wohlfahrtsverbände – auch die Caritas – mit Verdi auf den Weg gemacht. Über das Arbeitnehmerentsendegesetz sollte ein Tarifvertrag erstreckt werden, der alle Arbeitgeber verpflichtet hätte, die hier geregelten Mindestbedingungen einzuhalten. Verdi und die Bundesvereinigung Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) haben einen entsprechenden Tarifvertrag vorgelegt, der dann an den Arbeitgebern in der Arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas gescheitert ist. Die bundesweite öffentliche Empörung darüber ist noch immer groß.
Frau Kostka, ist die Caritas dafür verantwortlich, dass viele Beschäftigte in der Pflege nun weiterhin zu schlecht verdienen?
Kostka: Ich halte diesen Vorwurf für völlig überzogen. Hier wäre ein Mindesttarif eingeführt worden, den wir uns nicht als allgemeinverbindlichen Tarif hätten vorstellen können. Er hätte zwar bei Pflegenden in einer sehr schlechten Vergütungssituation zu einer Verbesserung geführt, aber gleichzeitig hätte er ein Niveau festgeschrieben, das absolut nicht mit unseren Richtlinien für Arbeitsverträge in den Einrichtungen des Deutschen Caritasverbandes, den Caritas-AVR, vergleichbar gewesen wäre. Die Forderung der Caritas im Erzbistum Berlin ist: Wenn es einen allgemeinverbindlichen Tarif geben soll, dann muss das hohe Niveau der Caritas-AVR die Leitlinie sein. Das sieht übrigens nicht nur die Caritas so.
Ein Mindesttarif hätte die Caritas nicht daran gehindert, besser zu zahlen.
Kostka: Aber er hätte für die Kostenträger etwas zementiert. Es fehlten auch Vergütungsbestandteile, die eigentlich zu einem Volltarif gehören. Wir sind der Überzeugung, dass Pflege keinen Mindesttarif verdient, sondern einen Tarif auf hohem Niveau. Ich muss mich über die niedrigen Tarifabschlüsse von Verdi schon wundern. Wieso schafft es Verdi nicht, das Niveau der AVR zu erreichen?
Bühler: Alle Beteiligten, auch die Caritas, haben den Weg über das Arbeitnehmerentsendegesetz für den besten und sichersten gehalten. Die Wohlfahrtsverbände und Verdi haben dazu sogar gemeinsam ein Gutachten in Auftrag gegeben. Und das Arbeitnehmerentsendegesetz lässt eben nur eingeschränkte Regelungen zu. Ihr Argument, Frau Kostka, ist doch abwegig. Wenn es keine umfangreichen Verbesserungen für die Beschäftigten bei kommerziellen Trägern geben kann, sollen sie eben auch keine fairen Stundenlöhne bekommen. Was soll bei dieser Position bitteschön christlich sein? Außerdem empfehle ich, die kommerziellen Träger zu fragen, warum sie nicht besser bezahlen und nicht die Gewerkschaft. Wir sind nicht das Problem, wir suchen nach Lösungen. Wenn die Beschäftigten bei einem privaten Konzern erst einmal ein paar Wochen streiken müssen, damit der Arbeitgeber überhaupt an den Verhandlungstisch kommt, und wenn dann in einem schwierigen Arbeitskampf einen Tarifvertrag durchgesetzt wird, der zu zehn Prozent Lohnsteigerung führt, der aber immer noch nicht da ist, wo wir von einem fairen Lohn sprechen würden, ist es absurd, das der Gewerkschaft anzulasten. Es liegt daran, dass wir ein System haben, in dem Ausbeuter unterwegs sind. Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, dass wir die Altenpflege wieder flächendeckend gemeinwohlorientiert organisieren müssen.
Tatsache ist, dass die Caritas ihre Beschäftigten gut bezahlt – und das ganz ohne Arbeitskampf. Bei den kirchlichen Arbeitgebern werden die Tarife im sogenannten Dritten Weg vereinbart: In paritätisch besetzten Kommissionen, die nach dem Konsensprinzip entscheiden. Verdi möchte diesen Sonderweg der Kirchen abschaffen. Warum eigentlich?
Bühler: Es ist doch so: Die Arbeitsbedingungen bei der Caritas sind weitgehend deckungsgleich mit dem TVöD, dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst. Die Caritas schreibt das ab, was wir vorher im größten Flächentarifvertrag verhandelt haben. Es ist gut, dass ein so großer Träger diese Ergebnisse übernimmt. Aber die Caritas kann diesen Tarifvertrag nur übernehmen, weil Verdi ihn vorher durchgesetzt hat. Das ist natürlich eine bequeme Situation. Es ist aber trotzdem nicht so, dass bei der Caritas diese Tarifregelungen für alle gelten würden. Auch bei der Caritas werden Bereiche ausgegliedert und dann wird nach Tarifen bezahlt, die für die Arbeitgeber günstiger sind. Die vielbeschworene Dienstgemeinschaft umfasst offensichtlich nicht alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Kostka: Wir haben bei der Caritas bundesweit eine 98-prozentige Tarifabdeckung. Es stimmt: Der Caritas-Tarif lehnt sich relativ stark an den TVöD an, der von Verdi mit den staatlichen Arbeitgebern verhandelt wird. Aber wir haben auch eigene Gestaltungselemente. Ein Beispiel: Bei uns können Mitarbeiter drei Tage zusätzlich freinehmen, um etwas für ihre Seele zu tun. Ich wüsste nicht, dass es so etwas bei anderen Arbeitgebern gibt. Wir haben außerdem eine hervorragende Kirchliche Zusatzversorgungskasse. Verdi kommt mit dem Brecheisen und sagt: Weg damit! Das verstehe ich nicht.
Bühler: Auch die Zusatzversorgung orientiert sich am öffentlichen Dienst. Und ja, wir fordern für Beschäftigte in einem Betrieb, der sich von anderen Betrieben nur durch das Kreuz über der Tür unterscheidet, die gleichen Rechte. Ich bin mir sicher, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis hier der Gesetzgeber aktiv wird. Ich würde darum den Kirchen raten, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und schnell zu agieren, bevor es andere tun. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei den Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden müssen die gleichen Rechte bekommen, wie ihre Kolleginnen und Kollegen bei weltlichen Trägern. Daran darf es doch im 21. Jahrhundert nun wirklich keinerlei Zweifel geben.
Der ehemalige Verdi-Chef und Grünen-Bundestagsabgeordnete Frank Bsirske hat die Mitarbeiter von Caritas und Diakonie kürzlich als Arbeitnehmer zweiter Klasse bezeichnet, weil sie nicht streiken dürfen. Hat er recht?
Kostka: Absolut nicht. Es stimmt, dass es bei uns kein Streikrecht gibt, aber wir haben gleichwohl ein hohes Maß an Mitbestimmung durch die Mitarbeitervertretungen in den Einrichtungen und in den Arbeitsrechtlichen Kommissionen. Die Mitarbeitervertretungen leisten hervorragende Arbeit. Wenn denen permanent gesagt wird, dass sie eigentlich Arbeitnehmer zweiter Klasse sind und keine Rechte haben, ist das respektlos gegenüber ihrer Arbeit. Mal abgesehen davon, dass wir auch Dienstnehmervertreter haben, die aktive Verdi-Mitglieder sind. Natürlich kann sich die Mitbestimmung im Dritten Weg weiterentwickeln. Es ist kein statisches, aber ein starkes System. Ich könnte mir zum Beispiel eine organhafte Mitbestimmung vorstellen. Im Caritasverband für das Erzbistum Berlin nutzen wir in dieser Hinsicht alle Möglichkeiten. Verdi hätte übrigens das Recht, in unseren Arbeitsrechtlichen Kommissionen mitzuwirken und damit auch auf deren Entscheidungen einzuwirken, tut es aber nicht.
Bühler: Wir müssten alle Prinzipien über Bord werfen, wenn wir am sogenannten Dritten Weg mitwirken würden. Auch der Marburger Bund hat sich zum Jahreswechsel aus der Arbeitsrechtlichen Kommission des Deutschen Caritasverbandes zurückgezogen. Sie waren vier Jahre dabei und haben gemerkt: Das ist vertane Zeit. Wir haben das von vorneherein so eingeschätzt. Wir sind demokratisch aufgebaut, die Mitglieder unserer Tarifkommissionen werden von den Verdi-Mitgliedern gewählt. Wir befragen unsere Mitglieder, was ihre Erwartungen sind. Wenn wir am Verhandlungstisch nicht weiterkommen, rufen wir als letzte Konsequenz zum Streik auf. Wenn es ein Ergebnis gibt, informieren wir die Mitglieder und die Öffentlichkeit. Die Arbeitsrechtlichen Kommissionen sind dagegen eine Black Box. Wir wirken nicht in einem System mit, bei dem wir unsere Prinzipien aufgeben müssten.
Im Katechismus der Katholischen Kirche wird Streik als „sittlich berechtigt“ bezeichnet, „wenn er ein unvermeidliches, ja notwendiges Mittel zu einem gerechten Nutzen darstellt“. Doch im Dritten Weg sind Streiks nicht zulässig. Wie passt das zusammen?
Kostka: Zunächst ist unser AK-System ebenfalls demokratisch aufgestellt, es finden Wahlen dazu statt und es ist transparent. Nun zum Streikrecht: Der Satz aus dem Katechismus, den Sie zitiert haben, schließt das Konsensprinzip ja nicht aus. Da steht nicht: Allein Streik ist moralisch geboten. Sondern: Er ist sittlich berechtigt. Ich bin nicht prinzipiell gegen das Streiken. Aber wir haben im kirchlichen Arbeitsrecht ein gleichrangiges Prinzip. Und wenn wir es einmal aus der Perspektive der Wirkung betrachten, ist dieses Prinzip offensichtlich sehr effizient. Ich würde mir wünschen, dass Verdi mit dem Caritas-Bashing aufhört. Auch viele unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind es leid. Ich habe den Eindruck, dass Verdi mit der Polemik gegen die Caritas vor allem neue Mitglieder gewinnen und Einfluss in einem Bereich ausbauen will, in dem Verdi bisher nur schwach vertreten ist. Dahinter stehen auch finanzielle Interessen. 1,8 Millionen Mitarbeiter bei Caritas und Diakonie sind 1,8 Millionen potenzielle Verdi-Mitglieder.
Bühler: Gewerkschaften gibt es nur dann, wenn sich Menschen solidarisch zusammenschließen und für ihre Interessen eintreten. Und je mehr wir sind, desto mehr können wir erreichen. Sie haben deshalb vollkommen recht, wir wollen auch noch mehr Beschäftigte der Caritas als Mitglieder gewinnen. Im Übrigen, Verdi betreibt kein Caritas-Bashing. Den schlechten Ruf der katholischen Kirche hat sie ganz alleine geschafft.
Kostka: Es ist nicht akzeptabel, wie Sie die Ebenen wechseln und den Ruf der katholischen Kirche, der sehr im Kontext von Missbrauch gelitten hat, als Argument gegen sehr gute Arbeitsbedingungen der Caritas anführen. Über 690.000 Kolleginnen und Kollegen arbeiten und engagieren sich bei der Caritas. Das spricht für sich.
Glauben Sie nicht, dass viele Mitarbeiter bei der Caritas wahrscheinlich mit den Achseln zucken und sagen: Solange wir einen guten Tarif haben, ist es uns egal, wie er zustande kommt?
Bühler: Ja, ich verstehe natürlich, dass Beschäftigte sagen: Ich muss mich nicht gewerkschaftlich organisieren, weil für mich alle zwei Jahre eine Lohnerhöhung quasi vom Himmel fällt. Aber wirklich solidarisch ist es nicht, sich darauf zu verlassen, dass es andere richten werden. Denn die Gehaltssteigerung kommt nur, weil die Kolleginnen und Kollegen im öffentlichen Dienst sie vorher durchgesetzt haben. Und zu den unterschiedlichen Ebenen: Der Dritte Weg ist überholt, sexueller Missbrauch ist ein Verbrechen. Ich weiß das sehr wohl zu unterscheiden.
Die katholische Kirche sagt, es sei nicht mit ihrem „Sendungsauftrag“ vereinbar, „wenn sie die Glaubensverkündigung und ihr karitatives Wirken unter den Vorbehalt der wechselseitigen Druckausübung zur Wahrung der eigenen Vermögensinteressen stellen“ würde. Was hat es mit dem Sendungsauftrag der Kirche zu tun, wenn ihre Mitarbeiter nicht die Möglichkeiten haben, ihre Interessen so durchzusetzen, wie das bei anderen Arbeitgebern der Fall ist?
Kostka: Wir sind in der Caritas gemeinsam unterwegs. Wir sind gemeinsam karitativ tätig im Dienst der Kirche. Deswegen müssen beide Seiten, Dienstgeber und Dienstnehmer, auch gemeinsame Lösungen für die Tarifbildung finden. In der Debatte wird mir außerdem zu wenig betont: Zum Streik gehören auch Aussperrungen. Wir als Caritas können uns aber nicht vorstellen, im sozialen und pflegerischen Bereich auszusperren. Deswegen ist das Konsensprinzip aus unserer Sicht ein sehr guter und effizienter Weg.
Frau Bühler, das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen ist im Grundgesetz verankert. Wie realistisch ist es da, wenn Verdi die Abschaffung des Dritten Weges fordert?
Bühler: Laut Verfassung können die Religionsgemeinschaften ihre Angelegenheiten selbstständig ordnen und verwalten. Aber was sind denn die Angelegenheiten der Kirchen? Doch sicher nicht die Arbeitsbedingungen von abhängig Beschäftigten. Das wird auch in der Gesellschaft immer weniger verstanden. Und wer vertritt eigentlich Kirche? Doch sicher nicht die Caritas-Arbeitgeber der Arbeitsrechtlichen Kommission, die verhindert haben, dass der Tarifvertrag Altenpflege auf die gesamte Branche erstreckt wurde, nachdem die Vorstände der konfessionellen Wohlfahrtsverbände das Projekt lange begleitet haben. Wer hat eigentlich hier das Sagen? Die Betriebe von Caritas und Diakonie agieren genauso wie weltliche Betriebe auch. Wie kann es dann sein, dass dort ein anderes Arbeitsrecht gilt? Und von den Diskriminierungen kirchlicher Beschäftigter im Rahmen der sogenannten Loyalitätsobliegenheiten haben wir noch gar nicht gesprochen. Das kürzlich erfolgte Massen-Coming-Out unter dem Hashtag #OutInChurch hat zu Recht große Aufmerksamkeit bekommen. Diese nicht-heterosexuellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der katholischen Kirche leben und arbeiten in einem Klima der Angst. Mir nötigt diese mutige Aktion größten Respekt ab.
Die Loyalitätsobliegenheiten sind Anforderungen, die die persönliche Lebensführung von Mitarbeitern betreffen. Verstöße können zur Kündigung führen. Der Kirchenfachrat von Verdi hat kürzlich in einer Stellungnahme das Ende solcher „Diskriminierungsprivilegien“ gefordert. Frau Kostka, ist die Caritas ein Arbeitgeber, der seine Mitarbeiter diskriminiert?
Kostka: Es stimmt, dass die Kirche hier in der Vergangenheit schwerste Fehler begangen hat. Im Caritasverband für das Erzbistum Berlin wenden wir die Loyalitätsobliegenheiten schon lange nicht mehr an, auch nicht bei Mitarbeitenden in Leitungspositionen. Bei uns ist jeder unabhängig von seiner Lebensform willkommen.
Wie können Sie denn ein kirchliches Profil aufrechterhalten, wenn Sie als kirchliche Institution immer mehr Mitarbeiter haben, die überhaupt keine Kirchenmitglieder sind oder sogar aus der Kirche austreten? Unterscheidet sich dann eine Caritas-Einrichtung von einem weltlichen Betrieb nicht wirklich nur durch das Kreuz über der Tür, wie Frau Bühler sagt?
Kostka: Mit den Loyalitätsobliegenheiten hat die Kirche früher das kirchliche Profil einer Einrichtung von der persönlichen Lebensführung der Mitarbeiter abhängig gemacht. Das war der falsche Weg. Es kommt darauf an, dass die Organisation ein kirchliches Profil hat. Natürlich braucht es dafür auch Leute, die kirchlich gebunden sind. Aber wir glauben, dass Gott in jedem Menschen wirkt, ob getauft oder nicht, ob Kirchenmitglied oder nicht. Nur weil jemand katholisch ist, heißt das noch nicht, dass er sich auch christlich verhält. Wir haben bei uns ungefähr 50 Prozent Christen und 50 Prozent Nichtchristen – und wir können wunderbar zusammen Kirche sein. Auch Menschen, die nicht getauft sind, verstehen oft intuitiv viel vom Christentum. Wir tun auch etwas dafür, indem wir für unsere Mitarbeitende viel im Bereich Seelsorge, Spiritualität und Ethik anbieten.
Bühler: Ich kann mir gut vorstellen, dass man in Berlin gar keine andere Wahl hat, als auf die Diskriminierung von Mitarbeitern wegen ihrer Lebensführung zu verzichten. Ansonsten würde man wahrscheinlich gar kein Personal bekommen. In anderen Regionen sieht es anders aus: Da ist es für Beschäftigte mit einem sozialen Beruf schwierig, einen weltlichen Arbeitgeber zu finden. Also bleiben diese Leute Kirchenmitglieder, obwohl sie eigentlich mit dem Glauben gar nichts mehr am Hut haben. Diskriminierung ist gesetzlich verboten und das muss auch für die katholische und die evangelische Kirche gelten.
Frau Kostka, was unterscheidet die Einrichtungen der Caritas denn nun von anderen Betrieben? Das meiste, was unter dem Dach der Caritas geschieht, ist doch in irgendeiner Weise aus Versicherungsbeiträgen oder staatlichen Mitteln refinanziert und wird genauso auch von anderen Trägern angeboten.
Kostka: Einen großen Teil unserer ambulanten sozialen Arbeit in Brandenburg und Vorpommern können wir nur machen, weil wir Kirchensteuermittel und Spenden einbringen. Schuldnerberatung, Erziehungsberatung, Sozialberatung, Migrationsberatung – all das geht dort nur mithilfe von Eigenmitteln. Wir bilden Sozialstrukturen für diese Gesellschaft. Auch in der Pflege gibt es Elemente, die nicht refinanziert sind, etwa die Seelsorge in den Pflegeeinrichtungen. Das ist extrem wichtig in einer Zeit, in der die Menschen in den Einrichtungen Kriegsängste haben. Für Pflegebedürfte, die von Armut betroffen sind, haben wir einen Fonds gegen Altersarmut. Und gerade sind wir 24 Stunden am Tag im Einsatz für die Menschen, die aus der Ukraine geflüchtet sind. All das ist so nur durch Spenden und Kirchensteuermittel möglich. Bei uns arbeiten auch hunderte Ehrenamtliche mit, die kreuz und quer aus der ganzen Zivilgesellschaft kommen. Ich würde mir wünschen, dass Verdi das respektiert.
Bühler: Alle Wohlfahrtsverbände haben auch eine ehrenamtliche Struktur, und das Deutsche Rote Kreuz und die Arbeiterwohlfahrt sind ebenso in der Flüchtlingshilfe aktiv. Das sind also alles keine Argumente.
Kostka: Glauben Sie, es ist sinnvoll, die einen gegen die andern auszuspielen? Natürlich machen auch nichtkirchliche Organisationen eine sehr gute Arbeit. Wir sind als Kirche da nicht einfach etwas Besseres. Es ist aber einfach eine Tatsache, dass die Caritas mit ihren Fachverbänden und korporativen Mitgliedern seit 125 Jahre eine wesentliche gesellschaftliche Kraft ist, die nicht wegzudenken ist. Es hat sich doch in unserer Geschichte gezeigt, wie wichtig die Vielfalt von sozialen Anbietern ist und wie wesentlich gemeinnützige Organisationen für das Miteinander in unserem Land sind. Hier in Berlin kommen gerade pro Tag mehre tausend Flüchtlinge an. Wenn es nicht die vielen unterschiedlichen Hilfsorganisationen gäbe, die Ehrenamtlichen, natürlich auch die staatlichen Einrichtungen, dann würden wir das nicht bewältigt bekommen.
Die Parteien der neuen Bundesregierung haben in ihrem Koalitionsvertrag festgehalten, gemeinsam mit den Kirchen die Angleichung von staatlichem und kirchlichem Arbeitsrecht prüfen zu wollen. Was versprechen Sie sich davon?
Bühler: Die Zeit ist mehr als reif dafür. Wir wollen bei diesen Gesprächen einbezogen werden, um die Interessen der Beschäftigten bei Caritas und Diakonie zu vertreten, so wie wir das bei anderen Trägergruppen im Sozial- und Gesundheitswesen auch tun. Wir haben die Expertise bei Arbeitnehmerrechten, Tarifverträgen und Mitbestimmung. Das wollen wir alles gerne einbringen. Die Chance, im Einvernehmen mit den Kirchen zu Veränderungen zu kommen, halte ich ehrlich gesagt jedoch für relativ gering. Ich erwarte aber vom Gesetzgeber, dass er Diskriminierung abschafft, auch ohne Zustimmung der Kirchen. Und auch Demokratie im Betrieb darf nicht davon abhängig sein, ob konfessionelle Arbeitgeber das gut finden. Darauf werden wir weiter drängen.
Kostka: Wir wollen das kirchliche Arbeitsrecht weiterentwickeln. Bei den Loyalitätsobliegenheiten wünsche ich mir ganz klar eine zügige Abschaffung der entsprechenden Regelungen und damit Rechtssicherheit. Diskriminierung darf es nicht geben. Der Dritte Weg ist aber ein erfolgreiches und effizientes Modell, das ich nicht aufgeben will.