Die Essenz ihres Glaubens hatten die ersten Christen früh erläutert. Paulus, der sich auf eine bereits vorliegende Glaubensformel berief, formulierte sie in seinem Brief an die Korinther so: „Ich habe euch gegeben, was ich auch empfangen habe: dass Christus starb für unsere Sünden nach den Schriften, und dass er begraben wurde, und dass er auferweckt wurde am dritten Tage nach den Schriften.“ Untrennbar verknüpft ist dieses Bekenntnis mit der Hoffnung, die Auferweckung Jesu habe allen Gläubigen das Tor zur Ewigkeit geöffnet: „Ist Christus aber nicht auferstanden, so ist euer Glaube nichtig, so seid ihr noch in euren Sünden, so sind wir die elendesten unter allen Menschen.“ Dies, die Erlösung und das ewige Leben für jeden, so unbedeutend er sein mochte, bestimmte die Lebensbeschreibungen der Evangelisten. Ihr Bild von Jesus nährte zudem den Glauben, der Sohn Gottes habe selbst alles über sich und seine Lehren gesagt.
Dies aber reichte den Gläubigen auf Dauer nicht. Nur wenig lasen sie über Kindheit und Jugend Jesu, wenig über die Mutter Maria, nichts über das Leben der Apostel. Denn der Blick der Evangelisten war so ausschließlich auf Jesus als Lehrer, Wundertäter und Erlöser gerichtet, dass niemand neben ihm ein eigenes Profil gewann. So konnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis die Stimmen derer Gehör fanden, die ungeduldig darauf drängten, die offenen Lücken zu schließen. Denn jeder Schritt, den Jesus einst tat, aber auch jeder Erfolg der Missionare schien wichtig, bewiesen sie doch die Kraft der Gründer des neuen Gottesreiches.
Der Wissensdurst der Bekehrten stieß auf willige Autoren. Seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts schrieben sie neue Evangelien. Sie wussten jetzt Genaues über Geburt, Flucht und Kindheit Jesu zu berichten. Ihre Phantasie verwandelte den sanften Mann, der seinen Anhängern verbot, die Waffe zu ziehen, in einen mächtigen Herrn, der schon als Kind nach Gutdünken lohnte und strafte, um seine gottgewollte Macht jedermann zu beweisen.
Aus Wissensdurst entstanden neue Evangelien
Bereits auf der Flucht nach Ägypten, versicherte einer der neuen Evangelisten, sei das Neugeborene zu ungewöhnlichen Taten aufgelegt gewesen: Erst spielte es mit gefährlichen Drachen, dann ließ es sich von Löwen huldigen und befahl streunenden Panthern, der kleinen Karawane als Kundschafter zu dienen. Als die Flüchtlinge am dritten Tag unter einer Palme Schatten suchten, streckte die erschöpfte Mutter sehnsüchtig die Hände nach den Früchten aus, die sie unerreichbar in der Baumkrone sah. „Neige Dich, Baum, und erfrische meine Mutter“, rief der Sohn und klatschte in die Hände, bis die Palme gehorchte und ihre Krone zu den Füßen Mariens beugte. Dort blieb sie bis alle gesättigt waren. Als sie sich wiederaufrichtete, erschien ein Engel, pflückte einen ihrer Zweige und pflanzte ihn in den Garten des Paradieses. Dort haben sie die späteren Maler immer wieder gesehen und gezeichnet.
In solchen in immer neuen Varianten erzählten Geschichten trat die Mutter aus dem Schatten ihres Sohnes. Ihr wichtigster Chronist, bemüht, seine Glaubwürdigkeit zu erhöhen, tarnte sich als Jakobus, der Bruder Jesu. Er pries um 150 eine schon vor ihrer Empfängnis von Gott auserwählte Frau: Geboren im Hause der bis dahin kinderlosen Eltern Joachim und Anna wächst sie in klösterlicher Abgeschiedenheit auf und wird als Zwölfjährige in den Tempel gebracht; sie heiratet Joseph, einen alt gewordenen Witwer, führt eine Ehe, die keine ist, und gebiert ihren von Gott gezeugten Sohn.
Jakobus schmückt die Umstände der Geburt, von denen bereits Lukas erzählt hatte, einfallsreich mit allen erdenklichen Details aus. Jetzt betreten zwei Ammen die Bühne, Lichtspiele in der Höhle entzücken herbeigeeilte Neugierige und der Säugling wirkt erste Wunder. Zentral aber ist der medizinische Beweis der jungfräulichen Geburt. Sie sollte die Leser von der göttlichen Natur Jesu überzeugen; Diskretion war in dieser Frage nicht am Platze. Denn die Botschaft des Evangeliums musste unmissverständlich sein: Ließ sich beweisen, dass im Stall von Bethlehem ein von Gott Auserwählter geboren worden war, erledigten sich alle von jüdischen und heidnischen Gegnern erhobene Vorwürfe, Jesus sei der Sohn einer Hure und zeitlebens ein Scharlatan gewesen.
Jakobus hat dem Volk genau aufs Maul geschaut. Er gab ihm, wonach es verlangte: Den Beweis der göttlichen Abkunft des Sohnes und eine Mutter mit einem eigenen, anrührenden Leben und einer Familie: Vater und Mutter, Großeltern, Verwandte und Freunde. Jedoch: Eine unendlich bedeutsame Frage hatte Jakobus nicht beantwortet: Wie hatte Maria nach dem Tod ihres Sohnes gelebt und wie war sie gestorben? Alle wollten an ihre Heiligkeit glauben. Aber konnten sie das guten Gewissens, wenn sie nicht wussten, ob sie bis zur Stunde ihres Todes ohne Sünde gelebt und dafür überirdischen Lohn empfangen hatte? Lange hatte niemand diese Frage beantworten wollen. Erst im fünften Jahrhundert wurde das anders. Der Erste, der es versuchte, gab sich als Melito, Bischof von Sardes aus, der noch einige Apostel gekannt haben will. Von einem von ihnen, Johannes, habe er die ganze Wahrheit über Maria erfahren, hatte doch Jesus ihm seine Mutter anvertraut, so dass er als Kronzeuge schlechthin in den Zeugenstand gerufen werden konnte.
Mit dem fiktiven Melito brachen die Dämme vornehmer Zurückhaltung. Wie er schrieben jetzt viele vom „Heimgang der Jungfrau Maria“. Sie beginnen mit der Szene unter dem Kreuz, schildern den Umgang Marias mit den Jüngern, verweilen ausführlich bei ihrem Tod und enden mit ihrer Himmelfahrt. Jedermann konnte nun nachlesen, was der himmlische Sohn tat, als seine Mutter wie alle Sterblichen den Tod fürchtete, wie sie, umringt von den Aposteln, starb, und was mit ihrem Leib geschah, als die Apostel die Tote aus Jerusalem trugen. Alle Berichte steuern auf diesen einen Höhepunkt zu: Maria, vom Sohn zum Leben erweckt, wird, geleitet von jauchzenden Engelschören, ins Paradies entrückt.
Damit hatte Maria den von Gott beschlossenen Schritt in den Himmel getan. Ihre Verehrer durften zufrieden sein. Endlich kannten sie das Leben Mariens von der Wiege bis zur Bahre, endlich sahen sie sie im Himmel an der Seite ihres göttlichen Sohnes. Von ihm gekrönt herrscht sie dort seit dem 11. Jahrhundert als Königin. Der Hymnus „Salve Regina“, angestimmt für die „Mutter der Barmherzigkeit“, wurde Allgemeingut des kleinen und großen Mannes. In der 6. Strophe des Liedes heißt es: „O mächtige Fürsprecherin, O Maria! Bei Gott sei unsere Mittlerin!“
Diese Rolle spielt sie für jedermann, für Reiche und Arme, für Sieger und Geschlagene. Den Weg in den Himmel an die Seite ihres Sohnes hatte Jakobus, gewollt oder ungewollt, für seine späteren Nachfolger freigemacht. Sie führten zu Ende, was theologisch kaum zu legitimieren war. Denn der Glaube an den auferstandenen Christus ließ keine Verehrung einer Göttin zu. Zu unmissverständlich hatten Paulus und die Evangelisten die Erlösung von allen Übeln an die Tat des männlichen Gottessohnes gebunden, zu klar hatte Jahwe, der als Gottvater Himmel und Erde regierte, die Verehrung anderer, gar weiblicher Gottheiten verboten. Trotzdem schlug sich in der offiziellen Liturgie nieder, was die gefalteten Hände der Frommen längst bekundeten.
Während sich die an der griechischen Philosophie geschulten Kirchenväter in die Frage nach der göttlichen Natur Jesu verbissen, entfernte sich der auf dem Konzil von Nikäa 325 zum Gott erklärte Gekreuzigte von den einfachen Gläubigen. Dieser wandte sich nun der Mutter zu und erbat von ihr, was er über viele Jahrhunderte den heidnischen Muttergottheiten ans Herz gelegt hatte: Trost für die Trauernden, Heilung für die Kranken und Gnade für die Sünder. Dazu las er von Jakobus bis Melito alles, was sich an wundersamen Dingen in Marias Leben zugetragen hatte. Nach langem Kampf applaudierten schließlich auch die Theologen dem Siegeszug Mariens in den Himmel und in die Herzen der Gläubigen. Auf dem Konzil von Ephesos (431) verliehen sie ihr den Ehrentitel „Gottesgebärerin“ und erkannten ihre Rolle als Mittlerin zwischen Gott und den Menschen an.
Die neuen Apostelakten wurden zur Erbauung und Unterhaltung gelesen
Kaum minder energisch als auf die Kindheit Jesu und das Schicksal Mariens pochten die Gläubigen auf Tatenberichte der Apostel. Mit ihnen traten jetzt auch die Randfiguren der Evangelien aus dem Schatten Jesu und beanspruchten einen eigenen Platz in der Heilsgeschichte. Fünf große Apostelakten entstanden im 2. und 3. Jahrhundert und wurden zur Erbauung wie zur Unterhaltung gelesen: Die Johannes-, Petrus-, Paulus-, Andreas- und Thomasakten. Wen bisher meist nur ein Name zierte, verwandelte sich nun in einen erfolgreichen Missionar, befuhr die Meere, gründete große Gemeinden in aller Welt, vollbrachte gewaltige Wunder, lebte asketisch und starb als Märtyrer.
Eine Geschichte mag für sie alle stehen. Sie ist die des Apostels Thomas. Vielmals gescholten wegen seiner Zweifel an der Auferstehung, liebten ihn alle, die sein Leben anhand der im 3. Jahrhundert verfassten „Thomas-Akten“ verschlangen. Diese führten ihren Helden übers Meer und machten ihn zu einem Abenteurer im Dienste Gottes. Von einem Kaufmann geladen, im Land des Königs Gundafor einen Palast zu bauen, habe er ein Schiff bestiegen, das ihn ins ferne Indien bringt. Dort wird er zur Hochzeit der Königstochter geladen und an die Tafel gebeten. Dort ohrfeigt ihn ein Weinschenk, was dem Apostel den willkommenen Anlass bietet, eines seiner vielen Wunder zu vollbringen: Kaum trat der Täter aus dem Haus, riss ihn ein Löwe in Stücke und überließ diese den Hunden. Einer von ihnen apportierte vor der staunenden Festgesellschaft die Hand, die Thomas geschlagen hatte.
Thomas wird zu einem der beliebtesten Apostel gemacht
Indien wird im Folgenden der Schauplatz unzähliger Heldentaten. Dämonen werden ausgetrieben, Esel zum Sprechen gebracht, Drachen erschlagen, Kerker gesprengt, Tote zum Leben erweckt und Unzählige getauft. Der König Gundafor, tief beeindruckt von alldem, bittet den Wundertäter, ihm ein prächtiges Schloss zu bauen. Dieser unterschlägt das Baugeld und verteilt es unter den Notleidenden, denn der König, begründet er sein Handeln, erhält Ersatz, „die Armen aber müssen, wie es die jeweilige Lage erfordert, erquickt werden.“ Entdeckt, wartet auf Thomas das Gefängnis. Er entkommt, indem er dem leichtgläubigen Gundafor ein Palais vorgaukelt, das er für ihn mit den gespendeten Almosen im Himmel baut. Am Ende stirbt er als Märtyrer. Die Henker, die ihn erschlagen, bekehren sich, der Tote erscheint seiner Gemeinde und predigt den Frauen zum letzten Mal Enthaltsamkeit. Sehr viel später heilt eine Handvoll Staub aus seinem Grab den besessenen Sohn des Königs, woraufhin dieser mit seinem gesamten Hofstaat das Taufbecken besteigt.
Die über Jahrhunderte anhaltende Beliebtheit dieses Apostels und seiner Abenteuer beweisen zahllose Gedächtnisorte. Den eindrucksvollsten findet der Neugierige auf der Porte des Bleds der Kathedrale im burgundischen Semur. Mitte des 13. Jahrhunderts verewigte dort ein Steinmetz die Geschichte des Thomas, beginnend mit dem Ungläubigen, der seine Hand auf die Seitenwunde Christi legt, fortfahrend mit der Überfahrt nach Indien und der Bestrafung des Weinschenks, dessen Hand ein Hund an den Tisch der Gäste trägt, während ein Gaukler seine Kunststücke zeigt. Die Darstellung endet mit der Bekehrung des Königs, als ihm der zum Tod verurteilte Heilige seinen künftigen Palast im Himmel zeigt.
Die bedeutendste Gestalt in den Evangelien ist Petrus, der sich bereits am See Genezareth als Erster Jesus angeschlossen hatte. Schon die Apostelgeschichte des Evangelisten Lukas umhüllt ihn daher mit Wundergeschichten. Eine davon erzählt, auf Befehl des Königs Agrippa sei er in den Kerker geworfen worden. Dort habe ihn in der Nacht ein Engel geweckt, seine Fesseln gelöst, ihn durch alle Wachen geführt und zum Stadttor geleitet. Gott, so lautet die Botschaft, lässt die Seinen auch in auswegloser Situation nicht allein. Der Maler Raffael hat der anrührenden Geschichte in den vatikanischen Stanzen Glanz verliehen.
Der insgesamt geringe Umfang der Nachrichten über seine Missionstätigkeit wurde in den Augen der Gläubigen dem ersten der Apostel nicht gerecht. Seine Autorität war weithin anerkannt, war er doch der Sprecher der Gefolgschaft Jesu gewesen, hatte nach Paulus als Erster den Auferstandenen gesehen, hatte die Gemeinde in Jerusalem geführt, in Rom, der Hauptstadt der Welt, gepredigt und war dort als Märtyrer gestorben. Also schien es zwingend geboten, das wundersame Leben des Mannes zu erforschen und ihn zum Helden des christlichen Sieges über alle Widersacher zu machen. So entstanden Anfang des 3. Jahrhunderts „Petrus-Akten“, in denen unbekannte Autoren von einzigartigen Taten zu berichten wussten, die die Macht Gottes und seiner Helfer bezeugen.
Der Kampf des Heiligen Petrus mit dem Magier Simon
Je beschwerlicher die Aufgaben wurden, die der Apostel schultern musste, umso größer der Sieg und umso erfolgreicher seine Predigt. Nichts aber kam einem bestandenen Zweikampf um alles oder nichts gleich. Zu ihm, erzählen die Akten, forderte der Apostel Petrus einen gewissen Simon Magus in den Straßen Roms (vgl. HK Juni 2018, 39–43), und es ging um das Höchste, was ein Zauberer vollbringen kann: den Tod des Feindes und die Erweckung Unschuldiger zum Leben. Bereits die Apostelgeschichte kennt diesen Simon als angesehenen Magier, der in Jerusalem von Petrus die Vollmacht kaufen will, wie dieser auf Neugetaufte den Heiligen Geist herabzurufen. Jahre später taucht er in Rom als Freund Neros auf, stiftet Zwietracht in der jungen christlichen Gemeinde und nötigt viele zum Abfall. Christus, voll Sorge um seine römischen Schafe, befiehlt Petrus, das verhängnisvolle Treiben des Gauklers zu beenden.
Petrus beginnt den Kampf mit einem Aufsehen erregenden Wunder. Er schickt ins Haus des Simon einen Hund, der ihn mit der Stimme des Petrus zum Kampf fordert. Der Zauberer nimmt an und es beginnt ein Kräftemessen, an dem ganz Rom teilnimmt, da dem Sieger und seinem Gott die Stadt für alle Zukunft gehören soll. Petrus eröffnet und fordert, Simon möge ein Wunder tun, das er, Petrus, zunichtemachen wolle. Der anwesende römische Präfekt übergibt daraufhin beiden einen Sklaven und verlangt, Simon solle ihn töten und Petrus ihn wieder zum Leben erwecken. Als genau dies geschieht, Simon den Sklaven tötet und Petrus ihm wieder das Leben gibt, ist das Volk überzeugt: „Es gibt nur einen Gott, nur den einen Gott des Petrus!“ Massenbekehrungen folgen, die Reichen bringen ihre Schätze den Witwen und Waisen, Kranke werden Petrus vor die Füße gelegt und er selbst „wie ein Gott“ verehrt.
Simon scheint besiegt. Aber er ist es nicht. Gedemütigt rüstet er sich zum größten aller Wunder, der Himmelfahrt. Siegessicher fliegt er über Rom, noch ein letztes Mal bejubelt von den Massen. Petrus, scheinbar besiegt, erfleht die Hilfe des Himmels, waren doch alle Neubekehrten zum Abfall entschlossen, wenn er dem Spuk kein Ende bereite. Christus hört auf seinen Knecht, imon stürzt auf die Erde und bricht sich die Beine. Die ihm noch Stunden zuvor zujauchzten, bewerfen ihn nun mit Steinen und treiben ihn aus der Stadt. Das Mittelalter hat dieses Drama um besiegte Dämonen, Totenbeschwörungen, sprechende Tiere und Luftkämpfe geliebt. Es füllte wie wenige Geschichten die Lehre mit Leben, dass kein Zauber stärker sein kann als die Anrufung Gottes durch seine Diener.
Nicht vergessen blieb in allen Mythen um Petrus sein Verrat an Jesus. Die Erinnerung daran beflügelte die Fantasie des Autors der Akten. So ließ er beide noch einmal aufeinandertreffen: Auf der Via Appia sieht Petrus auf der Flucht vor den Schergen Neros Jesus, der nach Rom eilt. Auf die bange Frage des Apostels, „quo vadis, Domine“, antwortet er: „Ich gehe nach Rom, um gekreuzigt zu werden.“ Daraufhin kehrt der Diener eilends um, tief erschüttert von seinem erneuten Verrat. Zurück in Rom wird er ergriffen und mit den Seinen ans Kreuz geschlagen.
Petrus’ vierter Verrat und der Fußabdruck Jesu in Rom
Noch heute wird an einem unscheinbaren Heiligtum unweit des Sebastianischen Tores der Fußabdruck Jesu gezeigt, den er hinterließ, als er vor Petrus stand. Das literarische Hohelied dieses Treffens schrieb Henryk Sienkiewicz Ende des 19. Jahrhunderts; 1905 erhielt er dafür den Nobelpreis für Literatur. Knapp 50 Jahre später bewegte das filmische Wunderwerk „Quo Vadis“ die Besucher, gerührt von einer Erfindungsgabe, die der des apokryphen Evangeliums nicht nachstand.
Historisch unbrauchbar und doch ein wertvoller Schatz
Alle diese zitierten Evangelien und Apostelakten versahen die späteren Kirchenväter seit Hieronymus (um 400) mit dem griechischen Adjektiv apókryphos (verborgen) im Sinne von „ketzerisch“ und „verfälscht“. Das Verdikt hat ihrer Beliebtheit nicht geschadet. Sie alle genossen für viele Jahrhunderte großes Ansehen, allen voran das Evangelium des Jakobus. In den Kirchen des Ostens wurde es im Gottesdienst gelesen und die spätere christliche Literatur und Kunst inspirierte es tausendfach. So zeigen die Darstellungen der bronzenen Türflügel des Doms in Hildesheim, worum es nach Jakobus in Bethlehem ging: Die als Jungfrau empfing, gebar als Jungfrau.
Die meisten der apokryphen Texte gingen verloren oder verfielen dem Bannstrahl der Amtskirche; trotzdem sind rund siebzig fragmentarisch bekannt, häufig als eine Art Negativabdruck in den Schriften ihrer Verächter. Ihre Existenz bezeugt auch die muslimische Tradition, die Jesusworte aus Evangelien zitiert, die in der christlichen Tradition verloren sind. Sie alle verraten vieles über die Entwicklung der Gemeinden in den ersten Jahrhunderten. Die ersten Generationen haben sich mit der Apostelgeschichte des Lukas begnügt und ihre Blicke auf Jesus gerichtet. Im zweiten und dritten Jahrhundert weitet sich das Interesse und richtet sich auf die Apostel. Diese erhalten nun ein Leben, das sie, wenn die Anker gelichtet und die Taue gekappt sind, wie Odysseus an die Grenzen der Erde und darüber hinausführt. Dort wirken sie die erstaunlichsten Wunder, bekehren selbst ihre Feinde und gehen für ihren himmlischen Herrn freudig in den Tod. Sie, die lange im Schatten Jesu standen, treten jetzt als Männer auf, die Könige auf die Knie zwingen, die Arme nähren und Unzähligen den rechten Weg zum Heil weisen. Sie wachsen zu Helden, die Taten vollbringen, die denen der Heroen der heidnischen Romane in nichts nachstehen.
Zudem: Die Darstellungsweise der Geschichten befriedigte das elementare Bedürfnis nach Erzählungen. Sie entführten ihre Leser in ferne Räume und Zeiten und jagten ihnen mal sentimentale, mal furchtsame Schauer über den Rücken, kurz: sie schufen eine Atmosphäre, in der sich Erbauung mit Unterhaltung mischte und sich der Wunderglaube der Zeit jede Ausschweifung gestattete. Historische Genauigkeit war nicht gefragt, ebenso wenig theologische Exkurse, wohl aber erhobene Zeigefinger. Sie verwiesen zumeist auf den himmlischen Lohn, der auf die Keuschen wartete. So brauchte etwa der Autor der Thomasgeschichte seiner Vorliebe für ein enthaltsames Leben in der Ehe keine Zügel anzulegen, obwohl dies eine Lehre war, von der sich die Großkirche längst verabschiedet hatte.
Für die Rekonstruktion des Lebens Jesu oder der Schicksale der Apostel sind die Apokryphen wertlos.
Unendlich wichtig sind sie dennoch. Denn sie bekunden das Ringen der frühen Gemeinden um den rechten Glauben, die rechte Moral und das Wunder der Mission. Vornehmlich aber bezeugen sie mit ihren teils rührenden, teils haarsträubenden Geschichten die unersättliche Neugier der kleinen Leute. Sie wollten jeden Tag des Kindes Jesus verfolgen, sich mit seiner Familie an den Tisch setzen, mit Joseph, dem Zimmermann, dulden, und mit Maria um das Schicksal des Sohnes bangen. Sie hofften zu erfahren, was die Apostel taten, welche Wunder sie vollbrachten, welche geheimnisvollen Länder sie betraten, wie sie Wüsten und Einöden durchzogen, Menschfressern entkamen, und wie sie als Blutzeugen ihres Glaubens starben. So legen die Apokryphen wie Perlen einer zerrissenen Kette Zeugnis ab von der fast hektischen Aktivität, mit der sich die Christen nach und nach alle Gattungen der Literatur aneigneten und ihren Zielen nutzbar machten.