Ein Gespräch mit Klaus Berger und Johanna Rahner„Fremdes als Fremdes wahrnehmen“

Die historisch-kritische Methode bedeutete den Paradigmenwechsel in der Exegese der vergangenen Jahrzehnte. Was ist aus ihr und der Begeisterung für die Bibel geworden? Wie lassen sich die Texte des Alten und des Neuen Testaments heute aktualisieren? Und was bedeutet das für die kirchliche Praxis heute? Das Gespräch führte Stefan Orth.

Der Neutestamentler Klaus Berger (1940-2020)
© KNA

Herr Professor Berger, in der katholischen Kirche ist die historisch-kritische Exegese erst seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil gelitten. Wurden die Potenziale in den vergangenen sechs Jahrzehnten ausgeschöpft? Oder ist die Strahlkraft dieses Zugangs zur Bibel längst erloschen?

Klaus Berger: Der Anfang der Anwendung der historisch-kritischen Methode Mitte der Sechzigerjahre war großartig. Als die ersten entsprechenden Studien zum Alten und Neuen Testament erschienen sind, wurden sie alle mit Hallo begrüßt. Wir haben damals schon während der für uns verpflichtenden Philosophiestudien vor dem eigentlichen Theologiestudium Exegese mit Begeisterung gemacht und auch Anteil genommen an den Verwerfungen wie im Fall von Franz Josef Schierse, der sich unglücklich zu den Kindheitsevangelien geäußert und dann seinen Lehrstuhl verloren hatte. Das war ganz tragisch. Dann kam die große Verzögerung. Da wurde bei Forschern wie Paul Hoffmann die Berufung verhindert, so dass sich viele zurückgezogen haben. Die Begeisterung für die Exegese ist auch wegen dieser Fälle verpufft. Nicht zuletzt deshalb haben sich seitdem bis heute nur wenige Studierende ernsthaft für die Exegese interessiert, egal ob für die des Alten oder des Neuen Testaments. Letztlich hat sich die Methode faktisch durchaus durchgesetzt, lockt aber eben keinen Kater mehr hinter dem Kamin hervor.

Ist das auch Ihr Eindruck, Frau Professorin Rahner?

Johanna Rahner: Ich gehöre ja der nachfolgenden Generation an. Ich habe mein Vordiplom noch bei dem Neutestamentler Rudolf Pesch abgelegt und erinnere mich noch sehr gut an seinen Vortrag zum achtzigsten Geburtstag von Karl Rahner, als Pesch die Leidenszeit der Exegese in Erinnerung gerufen hat. Es war schon ein Problem, dass das Lehramt wegen – aus heutiger Sicht – dogmatischer Petitessen wie der Existenz von Brüdern und Schwestern Jesu die historisch-kritische Bibelauslegung nicht an sich heranlassen wollte. Man befürchtete: Wenn man hier Dinge einräumt, wird es auf anderen Feldern noch brisanter.

Welche Rolle spielt dabei, dass viele den Eindruck haben, dass man auf der Versebene der Evangelien und Briefe in die Tiefe bohrt und dann so etwas wie eine biblische Theologie nicht mehr erkennbar wird?

Berger: Biblische Theologie ist auch nicht das Paradies gewesen. Da hatten die Leute immer den Eindruck, es handele sich um Geflügelsalat. Es wurde zu oft alles durcheinandergemischt. Man hatte doch von der historisch-kritischen Methode gerade gelernt, die Schriftsteller für sich zu sehen. Das Problem ist, dass Exegeten oft gar nicht mehr zur Redaktionsgeschichte als wesentlichem Teil der historisch-kritischen Methode vorgedrungen sind. Das gilt nicht zuletzt für Benedikt XVI., der nicht wahrgenommen hat, dass es da Theologie jenseits der Auslegung von Versen gibt. Das ist gar nicht schwer. Man kann sich die Theologien des Markus, des Matthäus und der anderen Evangelisten an einem Nachmittag aneignen.

Rahner: Aber ein Aspekt kommt noch dazu, der auch für andere historisch ansetzende Disziplinen der Theologie gilt. Wenn man beispielsweise eine Sozialgeschichte oder eine Kulturgeschichte des Neuen Testaments schreibt, um die Texte in einem Kulturraum einzuordnen, kommt man weg von einer theologischen Perspektive und erhält ein Ergebnis, das nur vermeintlich eines unter vielen anderen ist.

Berger: Da melde ich Widerspruch an. Ich habe von Anfang an, zusammen mit Carsten Colpe, mit Vehemenz die religionsgeschichtlichen Texte hinzugezogen. Für mich waren sowohl die jüdischen als auch die hellenistischen Texte mit ihren Überschneidungen zum Neuen Testament der eigentliche Kommentar und auch der Schlüssel zu theologischen Aussagen. Was soll man denn sonst auch machen, wenn man einen Text aus dem Markus- oder dem Lukas-Evangelium hat, aus dem man nicht so ohne Weiteres eine Theologie drechseln kann? Das geht nur in Abgrenzung zur beginnenden Mischna und dem Talmud der Juden und den hellenistischen Philosophen. Leider war die deutsche Judaistik in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Da ist viel an den Leuten vorbeigegangen. Die Bedeutung der jüdischen mystischen Traditionen für das Jesus-Bild, für die Deutung des Paulus und für das Neue Testament insgesamt wurde bis heute stark unterschätzt.

Rahner: Tatsächlich lernen wir derzeit viel von neuen kulturwissenschaftlichen Ansätzen in der Exegese, aber auch in anderen theologischen Disziplinen insbesondere im angelsächsischen Sprachraum. Hier wird allerdings grundsätzlich anders argumentiert, es gibt eine gewisse Neigung zur Relativierung. Manche werfen diesen Ansätzen deshalb vor, nur noch eine Kulturgeschichte des Neuen Testaments zu schreiben.

Berger: Das war auch immer einer der Vorwürfe mir gegenüber, weil ich von Anfang an grundsätzlich Neues Testament und Judentum verbunden habe. Deshalb wurde ich der Häresie bezichtigt, durfte nicht Priester werden. Bis heute hat man oft kein Verhältnis zur religionsgeschichtlichen Methode. Man weiß schon nicht recht, wie man eigentlich mit dem Alten Testament umgehen soll. Man bekommt bereits rote Ohren, wenn man dort auf hellenistische Texte stößt. Immerhin gab es auch die Ansätze wie bei Gerhard von Rad, der mustergültig Altes und Neues Testament durch Traditionsgeschichte verbunden hat.

Offensichtlich ist es aber aufs Ganze nicht gelungen, solche Erkenntnisse in das christliche Glaubensbewusstsein zu integrieren. Immerhin gibt es an den theologischen Fakultäten die Aufgabe, bei den angehenden Priestern und anderen pastoralen Mitarbeitern wie auch Religionslehren und Religionslehrerinnen eine reflektierte gläubige Identität auszubilden.

Rahner: Es ist eine Frage der Hermeneutik: Was passiert eigentlich, wenn ich solche Methoden für die Bibel anwende? Ich verstehe, wie stark kontextabhängig bestimmte gläubige Einstellungen sind! Ich beginne zu verstehen, wie sehr sie durch die jeweilige Kultur und die entsprechenden Denkformen beeinflusst sind. Das widerspricht – aus einer im besten Sinne aufklärenden Sichtweise – der Idee einer immer gleich bleibenden Wahrheit und einer immer gleich bleibenden Glaubenssicherheit. Das wird dann schnell als Gefährdung interpretiert. Was hier zum Beispiel mit Blick auf das Neue Testament deutlich wird, gilt auch für alle anderen Epochen der Kirchengeschichte. Das macht die Brisanz der Beschäftigung mit der Bibel aus.

Berger: Allerdings: Man ist weder für das Neue Testament noch für die Dogmengeschichte bereit, Fremdes als Fremdes wahrzunehmen.

Wie groß ist in diesem Zusammenhang das Problem, dass manche von der historisch-kritischen Exegese gerne Beweise für ein historisches Fundament ihres Glaubens hätten, das es so nicht geben kann, weil die Methode diese Evidenzen nicht liefert?

Berger: Einige meiner mehr als 60 bei mir promovierten Schüler, zum Beispiel Jürgen Zangenberg, arbeiten als christliche Archäologen. Obwohl ich sie alle sehr bewundere: Das ist theologisch völlig uninteressant. Es ist durchaus spannend, alte Mauern bestimmter Siedlungen sorgfältig abzutragen – aber daraus erwächst noch kein theologischer Gedanke. Man sieht daran, dass die Frage nach der puren Historie von Aussprüchen oder von Ereignissen immer wieder scheitert. Wie will man feststellen, was der Stern von Bethlehem wirklich war? Umgekehrt ist es natürlich genauso Unsinn zu sagen, es handele sich bei allen narrativen Texten nur um Märchen. Wenn man dann in der Folge sagt, dass es im Neuen Testament nur um Ideen gehe, erübrigt sich jeder historische Beitrag, nach dem eigentlich geforscht hat. Man hat eben nur sehr wenig Historisches im strengen Sinne gefunden – das ist das Problem.

Rahner: Aus systematisch-theologischer Perspektive relativiert sich hier manches. Gerade wenn ich ideengeschichtlich arbeite, erweist sich vieles als kontextuell. Dadurch ist auf der anderen Seite auch Kritik möglich. So erweist sich die historisch-kritische Methode als Widerhaken, weist auf zeitbedingte Denkformen und Ausdrucksweisen hin.

Berger: Zeitbedingt ist da allerdings ein Reizwort. Aus meiner Sicht ist alles zeitbedingt, weil es von konkreten Menschen verstanden, begriffen und weitergegeben worden sein muss. Insofern hat alles Anteil an der Menschwerdung Gottes. Bei der Offenbarung geht es um dasselbe wie bei der Inkarnation. Gott spricht zu den Bedingungen der Menschen: mit ihrer Sprache, mit ihren Mythen, mit ihren Vorstellungen. Und Jesus ist zu den Bedingungen eines munteren Handwerkersohns aufgewachsen.

Welchen Status kann ich dann aber beim Wunsch nach historischer Vergewisserung erreichen?

Berger: Man muss streng unterscheiden zwischen der Frage, wie sich einerseits die Menschen damals selbst verstanden haben, und wie man das heute andererseits modernen Menschen verklickert. Die Aufgabe des Exegeten besteht zunächst darin, gegenüber jeder Anwendung für heute den Ideologieverdacht anzusetzen. Der Exeget muss hier das Wunschdenken aufdecken. Was ist möglicherweise kirchliche Tradition, aber atmet doch beispielsweise mehr den Geist des Aristotelismus des 13. Jahrhunderts? Was ist eine neuplatonische Auslegung, steht aber eben so nicht im Neuen Testament? Die Aufgabe des Exegeten ist es, den Text erst einmal als Fremdkörper darzustellen, als ginge er uns gar nichts an. In einem zweiten Schritt kommt dann die Hermeneutik des Verstehens. Das muss allerdings wirklich getrennt sein, sonst gibt es eine ganz schlimme Bibeltheologie.

Rahner: Dieses Potenzial der Ideologiekritik ist das Entscheidende an jeder historisch-kritischen Vorgehensweise, ob in der Exegese, der Kirchengeschichte, der Dogmenhermeneutik. Sie ist Aufgabe und Angriffsfläche zugleich, wenn sich bestimmte Kreise gegen Kritik immunisieren wollen. Das war und ist die entscheidende Herausforderung historisch-kritischer Exegese. An der Geschichte der Konflikte der letzten fünfzig Jahre kann man dies sehr gut ablesen.

Berger: Das gilt allerdings auf beiden Seiten. Ich habe diese ganzen Bewegungen hier in Heidelberg am eigenen Leibe mitgemacht. Es gab die sozio-kommunistische, die feministische, die psychologische Bibelauslegung. Das war eine Welle nach der anderen wie im Rhythmus der Gezeiten.

Heutige Bibelauslegung findet deshalb ja auch oft genug unter Einbeziehung verschiedener Perspektiven statt. Was ist der richtige Methodenmix?

Rahner: Es fällt in jedem Fall auf, dass im Standardrepertoire männlicher Exegeten eine ganze Reihe von Ergebnissen der feministischen Exegese beziehungsweise heutiger Erkenntnisse der theologischen Genderforschung immer noch ausfallen. Manche biblischen Texte sind, wie sich gerade im Blick auf die zeitgenössische Kultur zeigt, patriarchal überformt. Solche blinden Flecke müssen aufgedeckt werden, um die Kontextualität und ihre negativen Auswirkungen deutlich zu machen. Da ist uns doch einiges aufgegangen, was wir vorher so nicht gesehen haben. Das gilt im Übrigen auch für die Befreiungstheologie.

Berger: Natürlich stellen sich einem selbst immer wieder neue Fragen, die durch die Antworten auf die Fragen an die Texte aufbrechen. Mein neues Buch über „Ehe und Himmelreich“ wäre ohne die Diskussionen um die feministische Exegese und die Genderforschung sicherlich nicht geworden, was es ist. Meine Thesen werden ja auch nicht auf dem Schreibtischstuhl, sondern am Frühstückstisch geboren – wo ich mit meiner Frau, einer Übersetzungswissenschaftlerin und engagierten Feministin, diskutiere. Ich verdanke ihr vor allem die Einsicht, dass jede Exegese eine Art der Übersetzung ist, damit die Menschen den Text nicht nur verstehen, sondern sich auch von ihm begeistern lassen, weil der emotionale Nerv getroffen wird.

Rahner: Das ist richtig. In den letzten 15 Jahren habe ich bei meinen Studierenden eine zunehmende Sättigung oder sogar Ignoranz gegenüber der Exegese verspürt. Man musste sie halt machen. Das dreht sich aktuell wieder, nicht zuletzt wegen der literaturwissenschaftlichen Zugänge, innerhalb derer die Bibel eben auch als Literatur verstanden wird.

Aber was macht dann für Sie als Dogmatikerin die Schrift zur Heiligen Schrift?

Rahner: Die Bibel ist insofern Heilige Schrift, als Menschen glauben, dass sich die menschliche Gotteserfahrung dort authentisch widerspiegelt.

Berger: Wenn man Gedichte von Ida Friederike Görres liest, sind das doch auch menschliche Erfahrungen mit Gott, ohne dass es sich deshalb schon um Heilige Schrift handelt.

Rahner: Das muss ja nicht der große Unterschied sein, wenn solche Gedichte authentisch sind. Die lehramtlichen Festlegungen des biblischen Kanons sind ja, wie wir heute wissen, durchaus historisch zufällig. Entscheidend ist, dass sich die Kirche des Anfangs zutraut, diese Texte als Maßstab authentischer Gotteserfahrung für die eigene und alle zukünftige Gottesrede zu sehen.

Berger: Inspiration besteht für mich vor allem darin, dass die Kirche in der Bibel den vom Heiligen Geist gewirkten eigenen Glauben wiederfindet, gespiegelt findet. Ansonsten wäre die Rede von Inspiration sinnlos.

Wie kann man das verständlicher machen?

Berger: Die modernen Menschen nehmen wenig so intensiv wahr wie Liebesgeschichten. Bei der Bibeldeutung kommt man nicht weiter, wenn man eine Existenzialhermeneutik à la Heidegger und Bultmann betreibt. Man sollte vielmehr auf menschliche Liebeserfahrungen eingehen: Wer auf die Erfahrung von Frischverliebten rekurriert, kann möglicherweise verständlicher machen, was es mit Auferstehung auf sich hat. Es geht nicht darum, darin nur verdrängte Erotik zu sehen. Sich auf diese sensiblen Bereiche zu beziehen hilft jedoch, das Verhältnis zwischen Gott und Mensch auf den Punkt bringen zu können. An Liebeskummer zu erinnern, kann beispielsweise dazu beitragen zu erklären, was die Sünde der Menschen für Gott bedeutet. Was hat Gottes Zorn mit unserem Zorn zu tun? Was mit den Erfahrungen im Gegenüber eines geliebten Partners? Kronzeugen sind hier für mich Maler wie Marc Chagall oder auch das Hohelied der Liebe im Alten Testament.

Rahner: Tatsächlich sind ästhetische Erfahrungen, die neue Erlebnisse mit den biblischen Texten ermöglichen, von besonderer Bedeutung. Sie sind von Menschen für Menschen geschrieben, damit sie in die Gottesbeziehung hineinkommen. Dafür ist die Erfahrungsebene ganz elementar. Die heutigen Möglichkeiten, biblische Texte anders zu inszenieren, sind enorm: mit Musik, mit Tanz und vielem anderen mehr – und gleichzeitig sehr hilfreich. Bachs getanzte Johannes-Passion im Dom zu Speyer ist ein hervorragendes Beispiel. Der biblische Text wird hier in einem zweiten Interpretament neu wahrgenommen.

Berger: Es gibt schon im frühen Christentum ein Tanzlied, in dem die Passion als Tanz dargestellt wird. Leider ist der Text kaum bekannt.

Rahner: Jede Epoche der Kirchengeschichte hat neue Ansätze hervorgebracht, den biblischen Text lebendig zu machen und in den eigenen Erfahrungshorizont einzuspielen. Deshalb braucht man auch allen heutigen Zugangsweisen nicht zu skeptisch zu begegnen. Ästhetische Inszenierungen sollten dabei natürlich nicht nur um der Wirkung willen eingesetzt werden. Auch hier ist die Ideologiekritik wichtig. Aber das anthropologische Potenzial, das der Bibeltext insgesamt in sich hat, ist bis heute noch nicht ausgeschöpft.

Wie sind vor diesem Hintergrund der Methodenfragen die großen Jesus-Bücher von Joseph Ratzinger beziehungsweise Benedikt XVI. zu bewerten? Hat sein Plädoyer für eine kanonische Exegese, wie er sie versteht, die Diskussion weitergebracht?

Rahner: Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich kanonische Exegese ist. Es handelt sich doch mehr um eine Art geistlicher Schriftauslegung, die Freude am Text erwecken will. Die Vertreter und Vertreterinnen der kanonischen Exegese haben sich jedenfalls mit Recht dagegen gewehrt, dass dieses Buch ein glückliches Beispiel für die Anwendung dieser Methode ist. Zu hoffen wäre immerhin, dass die Auflagenstärke auch zu einer Leserschaft und einem entsprechenden Interesse an den biblischen Texten und Geschichten auch in ihrer theologischen Deutung geführt haben.

Berger: Das ist eben überhaupt nicht der Fall. Die Wirkung von Benedikts Jesus-Buch beschränkt sich auf die Bücherregale, die ein Kilogramm mehr Gewicht tragen müssen.

Rahner: Und aus wissenschaftlicher Perspektive ist auch die Wirkungsgeschichte der drei Bücher kritisch zu betrachten. Die Forderung, dass die historisch-kritische Exegese eben auch immer Ideologiekritik sein muss, wird hier gerade unterlaufen. Auslegungen aber, die mehr Ideologie als Theologie betreiben, können und müssen argumentativ entlarvt werden. Die Vorgabe des Vorworts, dass hier nur ein Theologe und nicht der Papst geschrieben habe, ist nicht bei allen als hermeneutischer Schlüssel angekommen.

Berger: Die Grenzen zeigen sich besonders bei den Themen, die er auslässt. Mit Blick auf den Heiligen Geist und alles, was mit seiner Wirkung in die Zukunft hinein zusammenhängt, etwa die Charismen-Lehre, ist nichts zu finden. Er beschränkt sich auf die Vater-Sohn-Beziehung. Natürlich ist es gut, dass er mit der Zerstückelung der Texte aufhört. Von Benedikt konnten wir als Exegeten auch erst einmal lernen, die Texte nicht einfach nur zu zerschneiden. Ich habe große Sympathien für Benedikt und habe trotzdem geschrieben, dass das Ganze sehr an die Bilder der romantischen Jesus-Darstellung des 19. Jahrhunderts erinnert.

Immerhin gibt es auch hier den Anspruch, das historisch Wahre über Jesus auszusagen …

Berger: Da fehlt die notwendige Selbstkritik. Ich würde nie sagen: Dies ist der historische Jesus. Es ist vielmehr so, dass bei keinem Jesus-Wort die Echtheit oder die Unechtheit nachweisbar ist. Und Benedikt sieht tatsächlich weder die Unterschiede zwischen den einzelnen Schriftstellern, noch zwischen ihnen und heute ...

Rahner: Das würde ja zunächst erfordern, die einzelnen Autoren der Evangelien oder der paulinischen Briefliteratur beispielsweise mit ihrem Profil und mit ihren bestimmten Überzeugungen für sich sprechen zu lassen. Von diesen Erfahrungshorizonten eines Lukas, eines Markus oder eines Johannes lässt sich dann mit den Erfahrungshorizonten heutiger Menschen ins Gespräch kommen, weil es da Überlappungsflächen gibt. Weder bei der Evangelien- noch der Briefliteratur ist es möglich, diese mit den Horizonten heute einfach identisch zu setzen. Ich raube dem Neuen Testament aber vieles an seiner Wirkung, wenn ich alles über einen Kamm schere. Die Texte wurden in ihrer Vielfalt, ja mit ihrer Widersprüchlichkeit bewusst in den Kanon aufgenommen. Hier darf man nicht die Kanten abschleifen.

Berger: Insofern ist Benedikt ein typischer Dogmatiker. Während der Exeget versucht, die verschiedenen Pflanzen zu beschreiben, kocht der Dogmatiker einen Tee daraus.

Rahner: Das macht das Geschäft einer Dogmatikerin heute tatsächlich auch schwer. Wenn ich mich über einen bestimmten Sachverhalt aus systematisch-theologischer Sicht informieren will, bin ich mit einer Vielfalt von Auslegungen konfrontiert. Ich muss mich entscheiden. Aber wie wähle ich aus? In jedem Fall kann ich nicht nur einfach nehmen, was zu meinem Vorverständnis passt. Das wäre aber lediglich eine Steinbruchexegese, um vorgefertigte Meinungen zu bedienen. Ich muss deshalb in jedem Fall Rechenschaft darüber ablegen, was und wie ich rezipiere.

Berger: Das Reizvolle an der eigenen Arbeit besteht für den Bibelwissenschaftler darin, je und je eine Entwicklungslinie darstellen zu können – selbst angesichts von Brüchen und Verschiebungen. Für die Bischöfe als Vertreter des kirchlichen Lehramts wird es da noch schwieriger; denn sie haben nicht nur den Chor der Exegeten, sondern auch den der Dogmatiker. Wenn ich als Exeget einen Vortrag über Ehe im Neuen Testament halte, muss ich mich nicht dazu äußern, was das für heute bedeutet. Oft helfen hier philosophische Vermittler wie zum Beispiel Max Scheler – so schon bei Johannes Paul II.

Was heißt das denn für die Aufnahme biblischer Erfahrungen und Einsichten heute, gerade auf diesem nicht zuletzt beim Synodalen Weg umstrittenen Feld?

Berger: Das ist der Streitfall zwischen meinem Freund Ansgar Wucherpfennig und mir. Er sagt, Paulus sei in seinen Äußerungen zur Homosexualität so etwas von zeitbedingt, dass er über etwas anderes redet. Ich sage dagegen, dass wir hier einen für Paulus fundamentalen Brief haben und wir diese Äußerungen nicht einfach als zeitbedingt abtun dürfen. Das wäre methodisch nicht zufriedenstellend. Dadurch wird kein Beitrag zur Sache geleistet. Natürlich denken wir der Mehrheit nach heute anders, aber die Spannung zu allen Fragen der Sexualmoral, auch zur Rolle der Frau ist so nicht aufzulösen. Man darf die Unterschiede nicht verschweigen und sollte eine Einigung anstreben, bei der beide, Vormoderne wie Moderne ihr Gesicht wahren können. Genau das ist die Bedeutung von Gott für alle Hermeneutik.

Was bedeutet es aber, dass wir uns heute nach der Aufklärung befinden? Aus einer christlichen Perspektive dürfen wir doch nicht nur nach der Beschreibung der von den biblischen Texten aufgespannten Welt suchen, sondern müssen auch fragen, was diese für uns heute bedeuten kann.

Berger: Wir müssen nicht um jeden Preis den Judas-Brief im Neuen Testament mit all seinen apokalyptischen Vorstellungen übersetzen. Das wäre eine unnötige Mühe. Die Kirche muss den Menschen vielmehr geben, wovon sie leben können. Paulus wendet sich gegen jede Form praktizierter Homosexualität ohne jede Einschränkung. Dann kommt Wucherpfennig und sagt, es ginge dabei um Abhängigkeiten finanzieller Art. Das steht aber nicht da. Ich kann nur feststellen: Paulus sagt Nein. Die Frage ist allerdings durchaus, wie die Kirche damit umgeht. Ähnlich ist es bei den Gerichtsaussagen. In der gesamten modernen Exegese werden Jesus seine Gerichtsaussagen tunlichst abgesprochen. Dann kommt aber ein therapeutischer Softi-Jesus heraus, der die Verkündigung dominiert. Deshalb gehe ich am liebsten in stille Messen, weil dort nicht die vertrackte Modernisierung Jesu stattfindet.

Rahner: Das erregt in doppelter Hinsicht Widerspruch. Die Fachdiskussion und die Berücksichtigung der sozialphilosophischen Kontexte von Familien- und Geschlechterkonstellationen damals ist das eine. Selbst wenn das von Paulus so apodiktisch formuliert wurde, sind diese Texte doch als solche nicht unveränderliches Wort Gottes, das ich im Wortlaut festhalten muss – wie das mancher Fundamentalist tut. Das andere ist die Frage: Wenn sich nun aber die Einstellungen mit Blick auf individual- und sozialethische Fragestellungen historisch wandeln, welche Konsequenzen hat das für die Lehre der Kirche? Das ist im Übrigen nicht nur eine Frage an die Bischöfe. Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen hat zusammen mit dem kirchenleitenden Amt die Aufgabe, diese Fragen zu besprechen. Die Frage der Verbindlichkeit ist tatsächlich hier ganz entscheidend. Konkret formuliert: Welche dogmatische Relevanz zum Beispiel im Sinne der Zeichen der Zeit haben heutige Einstellungen?

Berger: Genau. Darüber sollte man einmal ehrlich diskutieren. Ein Exeget wie ich versteht sich als Widerlager gegen die überall ausgeprägte Neigung zu Anpassung und Kompromiss. Denn ich verstehe mich als Anwalt des jeweiligen biblischen Autors, seiner besonderen Würde als Zeuge, die fast immer auch die eines Blutzeugen ist. Mir liegt an der Ehrlichkeit, die Sie gerade eingefordert haben. Das gilt nicht zuletzt auch für ökumenische Begegnungen, und dies auch nicht nur mit den deutschen Lutheranern, sondern beispielsweise auch mit den Russisch-Orthodoxen, den Äthiopiern und Georgiern. Man sollte Verschiedenheiten thematisieren und die Geltung der Schrift, die uns angeblich alle verbindet, kritisch diskutieren. Was bedeutet es mit Blick auf das Ernstnehmen des Paulus, wenn man feststellt, dass er wenig anzubieten hat angesichts dessen, was der moderne Mensch braucht? Aber es kann doch nicht wahr sein, dass statt „mulier taceat in ecclesia“ (Die Frau schweige in der Kirche) gelten soll: Paulus taceat in ecclesia.

Rahner: Na ja, in der Orthodoxie gibt es einerseits die modernekritische bis modernefeindliche russische Orthodoxie, die auch die Demokratie sehr kritisch sieht, und andererseits die griechisch-orthodoxe Theologie, die mit ihren Überzeugungen in der Moderne ankommen will, sie jedenfalls nicht einfach als Verfallserscheinung denunziert. Das weist auf die zentrale Fragestellung hin: Inwieweit ist unsere aktuelle Situation theologiefähig, vielleicht sogar theologieträchtig? Und was heißt das für die kirchliche Lehre? Das hat uns die Aufklärung als Aufgabe übergeben; eine Aufgabe, der sich die katholische Kirche im 19. Jahrhundert verweigert hat – mit Auswirkungen bis in das 21. Jahrhundert. Wie kann sich die Lehre angesichts veränderter Lebenssituationen selbst verändern? – die Frage muss beantwortet werden.

Berger: Müssen wir wirklich den Ostkirchen insgesamt ihre modernekritischen Positionen wie Oberlehrer ausreden? Meine Bitte wäre hier nur, nicht immer gleich eine Kirchenspaltung aus den Differenzen folgen zu lassen.

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