Luther konnte, als er den Koran wohl 1542 erstmalig in lateinischer Übersetzung im Original zur Kenntnis nahm, nur sein Urteil bestätigt sehen, dass dieser in seinen Lehren irre, also das Dokument einer christlichen Häresie und ein „faul schendlich buch“ sei. Es bedurfte im Gefolge der Aufklärung weiterer Verstehensbemühungen bis in das frühe 19. Jahrhundert hinein, den Koran als eigenständige religiöse Urkunde zu begreifen und ihm eine eigenwertige Spiritualität zuzugestehen.
So stand auch im Protestantismus am Anfang gelungener Begegnung der Respekt vor der Andersheit eines Weges, die Anerkennung einer wirklich anderen Art von Gotteserfahrung. Oft ist das andere Extrem zu beobachten: die Charakterisierung des Islam als Götzen anbetende arabische Stammesreligion, die den mekkanischen Mondgott Hubal/Allah zum Verehrungsgegenstand macht, oder die Behauptung, der Islam stelle in erster Linie eine politische Ideologie dar, die das Christentum nicht zu einer Begegnung auf gleicher Augenhöhe herausfordere, sondern vielmehr auf der Ebene des zivilgesellschaftlichen Diskurses anzusiedeln sei. Das gesamte Spektrum dieser Positionen ist heute im evangelischen Bereich zu finden.
Am Anfang gab es keine theologische Auseinandersetzung
Broschüren wie „Moslems in der Bundesrepublik“ (1974) und „Muslime, unsere Nachbarn“ (1977) und ihre hohen Auflagen zeigen, dass der Bedarf an Information früh gespürt wurde, auch zu einer Zeit, als noch weit unter einer Million Muslime in Deutschland lebten. „Zusammenleben mit Muslimen – Eine Handreichung“, so lautet der Titel einer Veröffentlichung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) aus dem Jahr 1980. Sie erschien zu einer Zeit, zu der in der damaligen Bundesrepublik rund 1,5 Millionen Muslime lebten, davon etwa 1,25 Millionen Türken. Der öffentliche Diskurs wurde noch mit dem Tenor „Vorurteile gegenüber Gastarbeitern abbauen“ geführt, und so konnte diese vom Kirchlichen Außenamt in Frankfurt durch einen Ausschuss erstellte Handreichung sehr unaufgeregt über die muslimischen Nachbarn informieren.
Was aus gegenwärtiger Sicht „fehlt“, sind einerseits die Behandlungen „heißer Eisen“ wie das Verhältnis von Staat und Religion, die Frage des Kopftuchs, der Status von Frauen, das Recht auf Konversion vom Islam zu einer anderen Religion und anderes mehr, andererseits aber auch theologische Auseinandersetzungen jeglicher Art. Die Handreichung steht ganz im Zeichen einer ethnographisch-kulturellen Hermeneutik des Anderen und will um Verständnis werben, indem sie das Andere nach bestem Wissen und Gewissen erklärt, nicht ohne auf so manches – wenn auch gut gemeintes – Klischee über den orientalischen Menschen zurückzugreifen. Heute bezeichnen Ethnologie und Kommunikationsforschung dies als Orientalismus.
Muslime waren in beratender Funktion einbezogen. Dieser Einbezug kam später allenfalls nur noch punktuell oder unterschwellig zum Tragen, insbesondere aus Anlass der Herausgabe der Handreichung fast gleichen Namens im Jahre 2000 („Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland“) war die unzureichende Kooperation mit Muslimen eine wesentliche Kritik.
Das Buch „Was jeder vom Islam wissen muss“, ab 1990 regelmäßig in neuen Auflagen erschienen, entstand seit 1982 aus einer Faltblattserie unter Federführung eines Arbeitskreises der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) und wurde in die gemeinsame Verantwortung von EKD und VELKD übernommen. Dieses Buch, das mit der Fülle seiner gut aufgearbeiteten Informationen bereits eine Art kleines „Handbuch“ darstellt, bietet erstmalig auch eine kurze theologische Auseinandersetzung, die Christentum und Islam wie auch das Judentum in einer gemeinsamen theologischen Tradition sieht. Im Duktus des Zweiten Vatikanums und mit Äußerungen aus dem Ökumenischen Rat der Kirchen wird der gemeinsame Glaube zu ein- und demselben Gott bekannt, eine Position, die, wenn auch ein gutes Stück versteckter formuliert, auch in der EKD-Handreichung von 2000 finden ist. Die beiden Bücher können in einem Zusammenhang gesehen werden, das eine als kirchenoffizielle Stellungnahme fußt auf dem anderen, welches als Informationsmaterial gelesen werden will.
In den achtziger und frühen neunziger Jahren waren die Grundlagen für eine faire Begegnung von evangelischen Christen und Muslimen in Deutschland gegeben; die Realitäten in Stadtteilen mit hohem Migrantenanteil wurden brisanter, prägten aber noch nicht die Atmosphäre des öffentlichen Diskurses. Auch hatte das Genre des Islam-Skandaljournalismus noch nicht Raum gegriffen. Populärwissenschaftliche Informationsveröffentlichungen wie auch die 1987 erstmalig erschienene wissenschaftlich verantwortbare und zugleich gut lesbare Koranübersetzung von Adel Khoury trugen zur besseren Information über den Islam bei.
Christen als Fürsprecher von Muslimen in der deutschen Gesellschaft
Diese Aufgeschlossenheit prägt auch das erstmals 1988 erschienene Arbeitsheft „Die Begegnung von Christen und Muslimen“ des Evangelischen Missionswerks in Deutschland (EMW), das neben einer kleinen Einführung zur Begegnungssituation in erster Linie didaktisches Material für Schule und Erwachsenenbildung bietet. Die Einstellung von muslimischen Erzieherinnen in evangelischen Kindergärten, Beteiligung von muslimischen Eltern in Entscheidungsgremien, das Zur-Verfügung-Stellen von Gebetsräumen durch Kirchengemeinden, möglicherweise von Kirchengebäuden, die nicht mehr genutzt werden: Diese Anliegen trägt die Broschüre vor und wünscht auch, dass Christen sich zu Fürsprechern eines gleichberechtigten Vorkommens von Muslimen in der deutschen Gesellschaft machen mögen.
Manche dieser Anliegen wurden von der Wirklichkeit überholt, zum Beispiel durch die Schaffung von zahlreichen Moscheen und Gebetsräumen, manche sind unter den Bedingungen einer verschlechterten Dialogatmosphäre verblichen. Das Anliegen, als Christen zu Fürsprechern der Rechte der Muslime in der deutschen Gesellschaft zu werden, wird heute von Islamkritikern ironisiert: Es widerspreche den christlichen Interessen in einer Zeit, in der das Christentum um seinen eigenen Einfluss zu fürchten habe (so etwa Ursula Spuler-Stegemann).
Der aufgeschlossene Grundton, der sich in dem EMW-Heft – und insgesamt bis tief in die neunziger Jahre hinein – findet, ist noch nicht dem Versuch gewichen, in Deutschland lebende Muslime haftbar zu machen für Zustände in ihren Herkunftsländern und sie als Muslime mit sozio-kulturellen Eigentümlichkeiten ihrer Heimatkulturen zu identifizieren. Diese letztere Tendenz nahm ausgerechnet zu in Zeiten, in denen sich die in Deutschland lebenden Muslime mit Blick auf ihre Biographie wie auch ihre Mentalität von ihren „Herkunftsländern“ immer weiter entfernten, insbesondere die Angehörigen der hier geborenen „zweiten Generation“, die diese Entwicklung deshalb auch mit wachsendem Unverständnis und Unbehagen beobachten.
Die Vielstimmigkeit innerhalb der evangelischen Kirche führte dazu, dass im Jahre 1997 die evangelikale „Lausanner Bewegung“ (Deutscher Zweig) der Fertigstellung einer in Arbeit befindlichen neuen EKD-Handreichung mit der Veröffentlichung ihrer Schrift „Christlicher Glaube und Islam“ zuvorkam. Zahlreiche Einsichten und Empfehlungen aus EMW- oder EKD-Äußerungen werden hier ausdrücklich konterkariert; von der Einstellung muslimischer Erzieherinnen in Kindergärten und der Überlassung von kirchlichen Räumen an muslimische Gruppen wird abgeraten, ebenso von christlich-muslimischen Ehen: Der Islam betrachte die Ehe „grundsätzlich nicht als lebenslanges Treueverhältnis“. Die Unvereinbarkeit von Christentum und Islam wird zusammengefasst: „Aufgrund dieser zentralen Unterschiede ist offensichtlich, dass der Glaube an den von der Heiligen Schrift bezeugten einen allmächtigen Schöpfer und Vater Jesu Christi nicht mit der Unterwerfung unter den vom Koran gemeinten Gott vereinbar ist“ (13).
Schwierigkeiten der eigenen Positionierung
Ob hier auf Grenzgängerei zwischen Christentum und Islam angespielt wird oder das Thema der Selbigkeit oder Nicht-Selbigkeit Gottes gemeint ist, sei dahingestellt. Heinz Klautke bemerkt zurecht: Die „Darstellung des Zusammenlebens und der dabei geübten Haltungen ist von unterschwelligen Ablehnungen und Vorbehalten durchzogen“. Einen Gipfelpunkt stellt folgender Satz dar: „Christen werden in der Verantwortung vor Gott dem Schöpfer dem sozialen Frieden in der Gesellschaft große Bedeutung beimessen und alles ihnen Mögliche dafür tun. Sozialer Friede ist aber kein ,letzter Wert‘ für das ewige Heil der Menschen. Deshalb hat die Verkündigung des Evangeliums an Muslime grundsätzlich Vorrang vor der Sicherung des sozialen Friedens“ (29). In der aktuellen Auflage und in der im Internet abrufbaren Version wurde der Satz geringfügig geändert, verliert aber nur wenig von seiner Problematik.
Die Erklärung leitete einen Trend ein, der die Stärkung des christlichen Profils als Ausgangspunkt für den Dialog sah und die interne Verständigung in den Vordergrund rückte. Dies stand auch im Hintergrund der Handreichung, die die EKD dann im September 2000 an die Öffentlichkeit geben konnte. Immer wieder war moniert worden, dass die Stärke muslimischer Gesprächspartner gerade darin bestanden hätte, authentisch und profiliert zu argumentieren, während die christlichen Dialogfreunde tendenziell eher die Rundungen als die Ecken zu betonen schienen – ein Vorwurf, der zum Klischee gerann.
Nicht zuletzt wird das Problem hintangestellt, dass die innerchristliche, besonders die innerevangelische Verständigung nicht so weit ist, dass sie ein konsensuales christliches Grundverständnis in die zeugnishafte Begegnung einbringen könnte. Insbesondere das Stichwort „Trinität“ als Chiffre der Unterscheidung bedarf mehr denn je der theologischen Aktualisierung, die über die altkirchlichen Auseinandersetzungen hinausdenken müsste. Damit ist eine große Schwierigkeit bezeichnet, die den Protestantismus in seiner Positionierung gegenüber dem Islam hemmt.
Der Ökumenische Rat der Kirchen, einige Landeskirchen und die EKD haben sich zur Selbigkeit des einen Gottes der Christen und Muslime und auch der Juden bekannt. „Zwischen Gott und Gottesbildern ist zu unterscheiden. Auch wenn Menschen und Religionen verschieden von Gott reden, schafft die Vielzahl von Gottesbildern und Religionen keine Vielzahl von Göttern. Gott ist nach christlichem Bekenntnis einer und einzig (Dtn 6,4.5; Mk 12,28). Neben ihm gibt es keine anderen Götter. Es ist ein Gott, der an Christen und Muslimen, ja an allen Menschen handelt, auch wenn sie ihn verschieden verstehen und verehren, ihn ignorieren oder ablehnen“. Es heißt weiter: „Wird ernst genommen, dass Gott Schöpfer und Herr der ganzen Welt ist, dann muss auch sein Handeln an und in den anderen Religionen akzeptiert werden“, nachzulesen in der Orientierungshilfe „Christen und Muslime nebeneinander vor dem einen Gott – Zur Frage gemeinsamen Betens“ der Rheinischen Kirche von 1997.
Bemerkenswert an diesem Text ist, dass die Argumente um die Selbigkeit des einen Gottes strikt aus dem christlich-theologischen Fundus, aus der Gotteslehre stammen, also kein Eingehen auf die muslimischen Gesprächspartner darstellen. Gott selbst kann nur als der eine geglaubt werden, der sich sowohl an Christen wie auch an Muslimen und allen anderen erweist, damit aber auch unterschiedliche Erfahrungen auslöst. Ähnlich argumentiert die VELKD-Studie „Religionen, Religiosität und christlicher Glaube“ (Gütersloh 1991), die von hier aus allgemein eine Beziehungsklärung zu den anderen Religionen vornimmt. So heißt es: „Christen und Muslime stehen zwar vor demselben, dem einen Gott, zusammen mit den Juden – es gibt nur ihn“ (36).
Der Text fährt aber fort mit dem Hinweis, dass in Anbetracht der unterschiedlichen Gotteserfahrungen keine gemeinsam verantworteten gottesdienstlichen Handlungen möglich seien. Die theologische Einleitung einer 2005 vom EMW veröffentlichten Orientierungshilfe (Christlich-islamische Andachten und Gottesdienste) weist darauf hin, dass „aus einem ,Andächtig-zugegen-sein‘ bei dem Gebet der Andersgläubigen ein ,In-das-Gebet-hineingenommen-werden‘ werden kann“. Über das Eingehen oder Nichteingehen dieses Risikos jedoch könne niemand für andere entscheiden. Jedoch ist hier neben der Option für den einen und selben Gott ein anderer Markstein bezeichnet: Die Befürwortung multireligiöser Gebete anstelle von interreligiösen, auch dies eine Position, die sich durch die neuere Geschichte der evangelischen Stellungnahmen hindurchzieht.
Die evangelischen Positionen zum Islam lassen bei aller Mehrstimmigkeit Linien und Orientierungsmöglichkeiten erkennen. Allerdings verschärfte sich zunehmend der öffentliche Diskurs zum Islam, die muslimische Bevölkerung wurde stärker sichtbar durch die Gründung der Dachverbände und ihre öffentlichen Artikulationen, und die EKD sah sich zunehmend unter dem Druck, nicht mehr Pionier zu diesem Thema zu sein, sondern die Flügel miteinander vermitteln zu müssen. Nach der Einsetzung einer Kommission zur Erarbeitung einer Islam-Handreichung 1992 gingen volle acht Jahre ins Land, bevor nach fast beispiellosen Korrekturvorgängen zwischen dem Rat der EKD und der Kommission die Schrift im September 2000 der Öffentlichkeit übergeben werden konnte.
In der Tradition früherer Äußerungen steht hier die evangelisch-christliche Selbstvergewisserung im Vordergrund, und auch die Grundaussage des Glaubens an den einen und einzigen Gott wird durchgehalten, wenn auch in gewundenen Formulierungen. Muslime, so heißt es, bekennen sich, wenn sie zu Christen werden, zu keinem anderen Gott als dem, der auf arabisch „allah“ heißt, auch wenn ihnen nun durch Jesus Christus und den Heiligen Geist ein neues Gottesverhältnis eröffnet werde (26).
Die Handreichung ist gewiss, dass sowohl die Gebete der Muslime als auch die von Christen vom dreieinen Gott erhört werden (45). In der schließlich höchst umstrittenen Frage der Einstellung von muslimischen Erzieherinnen in Kindergärten konnte sich der Text im Unterschied zu der Schrift von 1980 nur noch zu orientierenden Formulierungen durchringen, die die Verantwortung an die einzelnen Träger weitergibt (75). Neben der Grundtendenz, dem Zusammenleben mit Muslimen im Kontext der Bundesrepublik eine konstruktive Grundlage zu bieten, ist die Handreichung in einem ausführlichen Abschnitt zum Toleranzgebot von der unterschwelligen Vermutung getragen, die Anerkennung des demokratischen Staatswesens stelle im Prinzip für Muslime ein Problem dar. Die Scharia wird offenbar pauschal als ein mit dem Grundgesetz nicht vereinbares Korpus begriffen, ja als ein Gebilde, das überhaupt mit einer Staatsverfassung in Konkurrenz treten möchte (47f.).
Allein die Tatsache, dass die Erklärung der Lausanner Bewegung und die EKD-Handreichung fast in Konkurrenz zueinander im Abstand von drei Jahren erschienen, zeigt an, dass die innerkirchliche Diskurslage, aber auch das gesamtgesellschaftliche Klima zum Thema Islam sich deutlich gegenüber den siebziger und achtziger Jahren geändert hatten. Die Evangelische Allianz, die ursprünglich auch in die EKD-Kommission integriert war, hatte den Islam als ein wichtiges Thema entdeckt und widmet ihm seit einigen Jahren ein Institut. Der evangelikale Pressedienst „Idea“ bringt fast täglich eine Meldung zum Islam, jedoch in einer Weise ausgewählt, die nicht zur Förderung des Dialogs gedacht sein kann.
Die Handreichung „Klarheit und gute Nachbarschaft“
Der 11. September 2001 und die unermüdliche Beschwörung, dass nichts mehr so sei wie vorher, haben die protestantische Positionierung nicht erleichtert. Die polemische Behauptung des „naiven“ oder „blauäugigen Dialogs“, die insbesondere von Johannes Kandel vorgetragen wurde, zwang zahlreiche im Dialog Aktive in die Defensive, wobei mancher erstaunte Beobachter ins Nachdenken darüber gekommen sein mag, was der an vielen Orten auf unterschiedlichsten Ebenen bis dahin erfreulich vertrauensvoll geführte Dialog mit muslimischen Gesprächspartnern einerseits und die Terroranschläge in den USA und an anderen Orten andererseits miteinander zu tun haben mochten – und wie der Gang der Geschichte hätte anders verlaufen können, hätte der Dialog anders (nicht „blauäugig“) ausgesehen.
Die Kopftuchdebatte, zumal seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom September 2003, tat das Ihre dazu, die Diskussion irrationaler werden zu lassen. Von dieser Versuchung blieben auch viele und ranghohe Stimmen der evangelischen Kirche nicht verschont. Nachdem die EKD bis in die neunziger Jahre hinein die Rolle wahrgenommen hatte, gegen den Strom der islamkritischen öffentlichen Meinung um Verständnis werbende Akzente zu setzen, beugte sie sich in einer erneuten Handreichung von 2006 („Klarheit und gute Nachbarschaft“) dem allgemeinen Trend. Das wichtigste Merkmal des neuen Textes ist, dass die theologische Argumentation einen sehr kleinen Raum einnimmt und stattdessen gesellschaftliche, politische und juristische Aspekte im Vordergrund stehen. Hinter das Bekenntnis zum einen und selben Gott wird in mehrdeutigen Formulierungen zurückgewichen, die Benutzung gemeinsamer Gebetstexte ausdrücklich abgelehnt und allgemein das Abhalten von gemeinsamen religiösen Feiern und Gebetsveranstaltungen für begründungsbedürftig erklärt.
Die Handreichung meint, „dem Islam“ attestieren zu sollen, dass er sein Verhältnis zu säkularen Ordnungsvorstellungen und zur Demokratie noch nicht eindeutig geklärt habe. An vielen Stellen wird Loyalität zu Verfassung und demokratischen Grundwerten eingefordert, während die in einer kirchlichen Handreichung zu erwartende theologische Auseinandersetzung enttäuschend ausfällt. Im Unterschied zur früheren Handreichung von 2000 war hier das evangelikale Lager personell wie auch inhaltlich deutlich beteiligt.
Die Schwierigkeiten des Protestantismus mit einer eindeutigen Positionierung zum Islam haben auch etwas mit seinem Gegenstand zu tun. „Als komplexe, vielgestaltige und auch widerspruchsvolle religiöse Lebenswelt entzieht sich der Islam immer wieder den Systematisierungen und lässt sich nie als Ganzer auf den Begriff und unter ein Urteil bringen. Sich mit ihm und seiner Beziehung zum Christentum auseinanderzusetzen verlangt eine Auswahl von Perspektiven und Zugängen“, so der Islamwissenschaftler Hans Zirker. Diese Komplexität wahrzunehmen und gefühlte, von den Medien erzeugte Realitäten unterscheiden zu können von dem, was die muslimische Wirklichkeit an Facetten zu bieten hat, wäre von einer westlichen Kirche zu erwarten. Das gilt zumal, wenn sie sich selbst in der Tradition der Aufklärung sieht und „dem Islam“ unablässig eine aufklärerische Reifungsgeschichte anempfiehlt.
Allerdings hatte selbst Ernst Bloch einstmals in seinem „Prinzip Hoffnung“ geschrieben: „Islam, Ergebung wurde die Religion Mohammeds genannt, jedoch das Bekenntnis dieser Ergebung war hier wie nirgends scharfer Dschihad, heiliger Krieg. (...) Religion ist Ergebung in Allahs Willen, doch eben als kriegerischer Fanatismus der Ergebung“, und der evangelische Theologe Helmut Thielicke meinte zu wissen, dass „der Islam durch seine theoretische Identifizierung von Religion und Politik“ keinen ernsthaften Spielraum für Dialog kenne, sondern „nur die Alternative Konformismus und Unterwerfung“.
Der Protestantismus hat sich traditionell mit etwas mehr Verve als der Katholizismus auf die Aufklärung berufen, die bekanntlich eine Geistesbewegung gegen die Kirche war. Elisabeth von Thadden erinnerte auf der EKD-Synode 2005 daran, dass eine der Tugenden, die wir von der Aufklärung lernen können, sei, „sich in die Perspektive des anderen zu versetzen, seine Überzeugung als eine gleichrangige zu verstehen“, ohne dass deshalb andere Wahrheitsansprüche emotional nachvollzogen werden müssen.
Dem Protestantismus, der die Tradition verbindlicher konziliarer Texte nicht kennt, steht es frei, sich immer wieder neu argumentativ mit der Geistesgeschichte auseinanderzusetzen und auch im Dialog mit Muslimen nicht im Geiste der Erkenntnisse und Positionen aus den siebziger und achtziger Jahren voranzuschreiten, sondern noch einmal ganz alte und vielleicht veraltete Akzente im Duktus des Zeitgeisttrends vorzuschlagen. Dass dies für die Begegnung nicht produktiv sein muss, haben die Debatte um und die muslimischen Reaktionen auf die weithin als Rückschritt betrachtete EKD-Handreichung von 2006 gezeigt.