Sowohl in der evangelischen als auch in der katholischen Kirche gab es zuletzt erneut besonders hohe Austrittszahlen. Dabei gibt es einen Teil, der katholischerseits skandalgetrieben ist, bei anderen ist Religiosität gar kein Thema mehr. Herr Professor Höhn, wie sehr setzen Pluralisierung und Individualisierung der Institution katholische Kirche zu?
Höhn: Die Individualisierung der Religiosität ist der Ausläufer des Versprechens der Moderne, in säkularen Zusammenhängen ein eigener Mensch sein zu können, also selbstbestimmt Präferenzen der Daseinsführung zu entwickeln und umzusetzen. Eine Identität, die sich früher aus Vorgaben zusammengesetzt hat, die man einfach umgesetzt und weitergegeben hat, ist jetzt einem Selektionsmodus unterworfen. Man wählt mit Blick auf eigene Bedürfnisse und Interessen sorgsamer aus, was einem entspricht. Religiöse Institutionen sind nur insoweit belangvoll, wie sie der eigenen Identitätsvergewisserung dienlich sind. Weil diese früher stärker traditionsbestimmt war, hatte sich das positiv auf Institutionen ausgewirkt. Heute geht es eher darum, welche institutionellen Kontakte die Biografie stabilisieren. Wo ist der rote Faden angesichts der Wechselfälle des eigenen Lebens? Nur wo eine Institution die individuelle Identität stärkt und stabilisiert, kommt es zur Institutionentreue. Man bleibt nicht mehr Mitglied nur um des Bestandes der Institution willen.
Stimmen Sie zu, Herr Prälat Bockamp?
Bockamp: Zunächst sehe ich die Individualisierung als einen positiven Prozess an, der Produkt einer christlichen Kultur ist. Schon im Alten und im Neuen Testament werden von Adam und Eva an Menschen interessanterweise immer mit Namen genannt. Im Buch Deuteronomium wird der Einzelne ausdrücklich angesprochen: Du sollst den Herrn, deinen Gott, mit ganzer Kraft und von ganzem Herzen lieben. Immer zielt der Glaube auf den ganzen Menschen – wenn auch in einer Gemeinschaft. Kirche ist als Familie Gottes so eine Gemeinschaft.
Aber es hat sich doch gerade im Christentum mit dem Zusammenbruch der Volkskirche seit den Fünfzigerjahren in unseren Breiten etwas stark verändert?
Bockamp: Die entscheidende Frage lautet: Wie ist es heute möglich, dass man den einzelnen Menschen erreicht und ihm gerecht wird? Jeder Mensch hat ein Recht darauf, das Evangelium kennenzulernen, um letztlich Christus zu finden. Nichts anderes hat Papst Franziskus 2019 in seinem Brief an die Katholiken in Deutschland geschrieben. Kurz gesagt: Die Entscheidung für die Kirche ist heute umso mehr eine Herzensentscheidung des Einzelnen – das sehe ich positiv.
Was ist der Reiz von Gemeinschaften in dieser Situation der Vereinzelung? Was interessiert junge Menschen, die sich an das Opus Dei wenden?
Bockamp: Da gibt es eine gewisse Konstante. Ich zum Beispiel lernte das Opus Dei kennen, als ich zu einem Arbeitskreis von Medizinern eingeladen wurde. Es war eine schöne Atmosphäre, ich bin gar nicht aus religiösen Gründen dahin gegangen – das interessierte mich ehrlich gesagt gar nicht. Aber ich merkte dann, dass da Gleichaltrige waren, für die der Glaube wichtig war, die darüber gesprochen haben und mit denen man diskutieren konnte. Es ist anziehend, wenn Leute aus einem ähnlichen Lebenskreis kommen und authentisch sind. Mehr und mehr lernte ich dann, wie sich die religiöse Praxis vor Ort einbettet in eine weltweite Gemeinschaft.
Herr Höhn, also hängen auch nach dem Ende der Volkskirche Religiosität und soziales Miteinander eng zusammen?
Höhn: Kleinere und überschaubare religiöse Gemeinschaften profitieren von der Suche nach einer doppelten Gnade, die in einer individualisierten Gesellschaft um sich greift. Man möchte ein eigener Mensch sein, aber man will es nicht allein sein müssen. Es handelt sich um gesellige Individualisten, die Kontaktanzeigen aufgeben und selbst auch lesen. Erzwungene Gemeinschaften setzen den Trend zur Individualisierung frei, das gilt aber auch umgekehrt. Schicksalhaft verordnete Individualisierungszumutungen erzeugen eine Bereitschaft, sich mit anderen zusammenzufinden, vor allem mit Gleichgesinnten. Man könnte auch wortspielerisch Sinn und Gesinnung miteinander legieren, weil hier Resonanzerfahrungen möglich werden: Ich bin nicht allein mit meinen persönlichen Interessen; ich finde hier eine Szene, in der sich Leute mit vergleichbaren Abneigungen und Vorlieben treffen. Wir bestärken uns wechselseitig, sodass ich aus meinem Minderheitenstatus herauskomme und Bestätigung sowie Bestärkung angesichts von Anfechtungserfahrungen in einer säkularen Umwelt finde. Insofern profitieren überschaubare religiöse Gemeinschaften von Modernisierungsprozessen, obwohl sie oft nach außen hin sehr modernitätsskeptisch auftreten und meistens nicht gerne zugeben wollen, dass sie auch Profiteure der Emanzipationsbewegungen der späten Moderne sind.
Was ist dabei die Kehrseite der Medaille?
Höhn: Was dabei wegfällt, was die Volkskirche aber ausgezeichnet hat und heute weiter wichtig ist: Ich treffe auch auf Menschen, die ich nicht mag, die nicht mit mir übereinstimmen, die mir fremd sind, die aus anderen sozialen Kontexten kommen und andere politische Optionen vertreten. Da sind kleine religiöse Gemeinschaften viel homogener, gleichgerichteter und decken nicht das Spektrum an Pluralität ab, wie es früher ohne Weiteres antreffbar war.
Bockamp: Da will ich den Blick doch deutlich weiten. Die Pluralität von Auffassungen ist in der Kirche, auch bei uns, wichtig. Natürlich braucht es einen gewissen Grundkonsens im Glaubensleben wie die Verbindung zur Weltkirche. Es gibt auch bei uns Leute, die zum Beispiel unterschiedlichste politische Anschauungen haben. Deshalb gibt es auch Leute, die man prima vista gar nicht so sympathisch findet und mit denen man sonst nicht unbedingt befreundet wäre. Wir können eine Heterogenität der Institutionen in der Kirche konstatieren, die der Pluralität der Spiritualitäten entspricht. Dass sich im Prozess der Individualisierung neue spirituelle Aufbrüche in großer Vielfalt ergeben, ist aus meiner Sicht ein Geschenk des Heiligen Geistes. Innerhalb einer Institution ist also die Spiritualität und die Verbindung mit der Weltkirche die entscheidende Klammer.
Wo wird es für Sie problematisch, wenn man an die Spannung von einzelnen Gemeinschaften innerhalb der katholischen Kirche mit dem universalen Anspruch des Christentums denkt? Wann wird die christliche Botschaft konterkariert?
Bockamp: Diese Spannung hat es immer gegeben im Laufe der Geschichte. Entscheidend ist das gemeinsame Bemühen um die Nachfolge Christi und den Willen, in Einheit mit dem Papst katholisch sein zu wollen. Die gemeinsame Basis sollte man dabei allerdings nicht zu eng auslegen.
Und wann wird es zu eng, Herr Höhn?
Höhn: Man kann bei den Gründerfiguren der neuen religiösen Bewegungen des 20. und 21. Jahrhunderts ansetzen. Da fällt mir auf, dass immer ein besonderes Charisma dominiert. Es gibt einen spezifischen Zug an diesen Persönlichkeiten, der besonders attraktiv wird. Aus der Beobachterperspektive ist das immer nur ein partikulares Charisma, es wird selektiv ein bestimmtes Ideal hochgehalten. Dadurch tritt eine Fokussierung ein, die ausschließende Effekte hat. Mein Gradmesser mit Blick auf die Katholizität ist, ob die drei Grundvollzüge der Kirche adäquat umgesetzt werden: Liturgie, Verkündigung und Diakonie, wobei die Diakonie Absichtslosigkeit auszeichnet. Sie darf nicht mit dem Ziel der Mitgliedergewinnung erfolgen, sondern es muss darum gehen, dem anderen in den Wechselfällen des Lebens großzügig beizustehen. In der Enzyklika „Deus caritas est“ hat Benedikt XVI. überzeugend davon geschrieben, dass man keine entsprechenden Hintergedanken haben darf, sondern die Freigiebigkeit des Evangeliums praktiziert. Wenn man ein Lasso geschwungen sieht, ist die Offenheit, die das Katholische auszeichnet, verunstaltet. Katholisch sein heißt: Aufs Ganze gehen, aber die Extreme meiden!
Bockamp: Das kann ich unterstreichen. Im Umgang mit Menschen ist es sehr wichtig, dass man einander mit Wohlwollen und höchstem Respekt vor der Freiheit begegnet und dass es um die einzelne Person geht. Mich freut es sehr, dass der Gründer des Opus Dei, der heilige Josefmaria Escrivá, davon sprach, dass jedes Mitglied Schaf und Hirte zugleich sein soll. Das ist die gelungene Verknüpfung von Freiheit und Verantwortung.
Höhn: Dabei muss dann aber auch das Pastoralprinzip Jesu im Zentrum stehen. Das Evangelium erzählt, dass Jesus einen blinden Bettler fragt: Was ist es, was ich für dich tun soll? Es geht also nicht um den Besserwisser-Modus: Ich weiß, was ich für dich zu tun habe und was für dich am besten ist. Hier braucht es eine Perspektivenumkehr und eben nicht den autoritären Gestus. Als Helfender muss ich der Hörende sein. Dann ist man in der Nachfolgespur Jesu.
Bockamp: Das ist in der Tat ein beidseitiger Lernprozess – sowohl für den Hörenden als auch für den Helfenden. Jungen Menschen ist das nicht direkt in die Wiege gelegt, aber sie sollen nach und nach dazu ermutigt werden, in Ausnutzung ihrer individuellen Talente zu echten Persönlichkeiten zu reifen.
Wie werden denn die Grundvollzüge, von denen Herr Höhn gesprochen hat, im Opus Dei gelebt?
Bockamp: Mehr als zwei Drittel der Mitglieder leben und engagieren sich ganz bewusst in ihren Pfarreien und gehen dort in den Gottesdienst. In den Kapellen der Gemeinschaftshäuser wird eine normale katholische Liturgie gefeiert. Bei der Verkündigung geht es darum, die beiden größten Hemmnisse des Glaubens zu bekämpfen: die Unwissenheit und die Untätigkeit. Das diakonische Engagement beginnt schließlich in der eigenen Familie, bei den Kranken und Alten. Dann geht es aber auch um die gemeinsamen sozialen Initiativen bis hin zum Engagement für Entwicklungsländer.
Was ist das Entscheidende des Opus Dei, dass man sich nicht nur in seiner Pfarrei engagiert? Eine eigene Gemeinschaft bräuchte es dafür doch gar nicht.
Bockamp: Wie bereits erwähnt, existiert heutzutage eine Vielfalt an Spiritualitäten, die die verschiedenen Institutionen der Kirche abdecken. Im Zentrum unserer Spiritualität geht es darum, die universale Berufung zur Heiligkeit ins Bewusstsein zu heben: dass jeder Christ zu einem heiligmäßigen Leben berufen ist, auch wenn das vor allem ein Geschenk und keine Leistung ist. Konkret heißt das, die Nähe Gottes im Alltag und vor allem bei der Arbeit zu entdecken und das als Dienst an Gott und an den Menschen zu begreifen. Deshalb bietet das Opus Dei Bildung an: theologische Kenntnisse und geistliche Begleitung. Wir bieten Impulse für das Leben, wohin die Mitglieder jeweils gestellt worden sind.
Höhn: Diese starke Betonung der Heiligung der Arbeit und des eigenen Selbst durch die Arbeit wirft allerdings die Frage auf, ob Sie nicht ein säkulares Leistungsethos ins Religiöse verlängern und vielleicht sogar verdoppeln, indem Sie entsprechende Anstrengungen innerhalb einer religiösen Wertschöpfungskette von den Einzelnen erwarten. Ist das nicht – theologisch gesprochen – ein Fall von Werkgerechtigkeit? Bin ich nicht doch getrieben, den Eigenanteil an der Heiligung durch Leistung zu erhöhen?
Bockamp: Man sollte Arbeit nicht im kapitalistischen Sinn als Leistung sehen, sondern im christlichen Sinn als Dienst am Nächsten und als Teilhabe am Schöpfungshandeln Gottes auffassen. Liebevoll zu arbeiten heißt noch nicht, erfolgreich zu arbeiten. Das Ziel ist nicht Erfolg, sondern der Dienst an den Menschen, indem man sich mit den von Gott verliehenen Talenten für sie einsetzt. Der Gründer des Opus Dei sagte: Die Arbeit eines Professors ist nicht wichtiger als die der Reinigungskraft oder die des Pförtners. Wir sind auf dieser Linie ganz klar. Aber wo Menschen sind, besteht immer die Gefahr, dass sich Einzelne auf ein Podest heben wollen …
Höhn: Aber den Konflikt mit der Leistungsgesellschaft vermeiden Sie, weil Sie deren Prinzipien nicht infrage stellen. Die religiöse Überhöhung führt hier sogar zu einem Verstärkungseffekt. Sie bedienen einen Kompensationsmythos, wenn Sie die Zumutungen einer Leistungsgesellschaft spirituell überhöhen und damit abmildern. Müsste man nicht eher Alternativen aufzeigen, anstatt zur Dublette der Gesellschaft zu werden?
Bockamp: Uns geht es auf der Basis unseres Glaubens an den menschgewordenen Gott um die Gestaltung einer menschenfreundlichen Gesellschaft. Dabei können wir auf die uns von Gott geschenkten Charismen vertrauen und uns am Vorbildhandeln Jesu orientieren. Leistung ist per se nicht zu kritisieren. Das Entscheidende ist neben dem gesunden Maß die Lauterkeit der Absicht. Es geht um Dienstbereitschaft und nicht um die Erhöhung des eigenen Egos. Es gibt bei uns Mitglieder, die arbeitslos, krank und alt sind. Die Erlösung durch Jesus begann in den 30 Jahren seines verborgenen Lebens und Arbeitens in Nazareth und gipfelte in der passiven Hingabe am Kreuz. Es geht nicht um eine calvinistische Ethik, innerhalb der man überzeugt ist, von Gott besonders geliebt zu sein, wenn man wirtschaftlich oben angekommen und erfolgreich ist. Das auf keinen Fall.
Was ist denn die Alternative, Herr Höhn?
Höhn: Natürlich wird hier auch ein Bedürfnis positiv aufgegriffen. Viele Menschen möchten ja – auch im religiösen Kontext – aktiv beteiligt und nicht bloß passive Objekte eines Heilsgeschehens sein. Es gibt eine falsch verstandene Gnaden- und Rechtfertigungstheologie, die behauptet, Gott liebe jede Person unabhängig davon, was sie tut oder lässt, und dann nichts mehr dazu sagt, welche Konsequenzen diese unbedingte Zuwendung Gottes in der Lebenspraxis des Menschen haben kann. Viele Zeitgenossen möchten in säkularen Kontexten wertgeschätzt werden in dem, was sie tun. Manche wollen dabei etwas leisten, das auch spirituell bedeutsam ist. Aber dann ist natürlich wichtig, dass bei dieser Spiritualität der Arbeit nicht vergessen wird, wie man mit den Ohnmächtigen, den Unfähigen, den Arbeitslosen umgeht, damit es für sie nicht zynisch klingt, ihnen als Ideal die Tätigkeit und Produktivität vor Augen zu halten, und sie als Nichtskönner dastehen zu lassen. Das ist die Gefahr bestimmter religiöser Gemeinschaften, die sich auf ein partikulares Ethos gründen, ohne dass ein Korrektiv vorgesehen ist. Umso wichtiger sind die Potenziale der Selbstkorrektur in den jeweiligen Spiritualitäten.
Wieviel Verpflichtung geht man ein, wenn man beim Opus Dei Mitglied wird?
Bockamp: Die Verpflichtungen der Mitglieder sind allen voran privater Natur, es gibt kein Monitoring seitens der Institution. Der Bitte um die Mitgliedschaft muss eine eigene Prüfung vorausgehen, ob man sich dazu von Gott berufen fühlt. Im Sinne der Zugehörigkeit geht es darum, dass man die Spiritualität lebt und die Bildungsangebote wahrnimmt. Die Prälatur ihrerseits muss diese und vor allem die persönliche Begleitung dann auch gewährleisten. Die Selbstverpflichtungen beziehen sich vor allem darauf, im Alltag ein gutes geistliches Leben zu führen: täglich die heilige Messe mitzufeiern, sich täglich Zeit für geistliche Lektüre und betrachtendes Gebet zu nehmen, regelmäßig das Sakrament der Beichte zu empfangen – als Mittel und Hilfe zum Ziel eines erfüllten und frohen christlichen Lebens.
Wie viel Freiheit ist innerhalb dieses Systems möglich und wo sind die Grenzen?
Bockamp: Die Vorstellung eines Systems ist irreführend. Jeder muss nach seinen Möglichkeiten den Weg mit Christus gehen. Wenn sich nach einem längeren Zeitpunkt zeigt, dass kein Interesse mehr besteht und das Leben in eine ganz andere Richtung führt … Dann trennt man sich eben wieder.
Wie viel Freiheit braucht der Glaube, Herr Höhn?
Höhn: Die Frage klingt so, als sei Freiheit portionierbar, als gäbe es ein Mehr oder ein Weniger. Der Soziologe Peter Gross hat die moderne Gesellschaft als Multioptionsgesellschaft definiert. Da besteht die Freiheit in der Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Optionen. Freiheit besteht dann im Verfügenkönnen über verschiedene Möglichkeiten. Hier gibt es ein Mehr oder Weniger. Der christliche Glaube ist der Gegenentwurf. Freiheit besteht im Modus der Unverfügbarkeit. Das beginnt mit dem Schöpfungsgedanken, dass der unverfügbare Gott seine Geschöpfe in einen Bereich des Eigenseins, der Freiheit, der Autonomie freisetzt und freilässt. Und er erkennt dieses Sichselbstgehören des Menschen als für ihn unverfügbar an. Die Gott-Mensch-Beziehung wird dadurch zu einem Verhältnis wechselseitiger Unverfügbarkeit. Auf diesen Respekt unverfügbarer Freiheit müssen Spiritualitäten immer ausgerichtet sein. Dies gilt auch für die geistliche Begleitung von Menschen, die sich mit dieser Freiheit schwertun und sich in ein Supervisionsverhältnis begeben, wo ein anderer ihnen im Modus des Ratgebens sagt, wie es gehen könnte, den rechten Weg durchs Leben zu finden. Es darf aber nicht zum autoritativen Gestus kommen: Das ist dein Weg!
Der Machtmissbrauch im geistlichen Kontext wird inzwischen rege diskutiert. Wie ist das bei Ihnen, Herr Bockamp? Welche Rolle spielt die Sensibilität für diese Gefahr und welche Schutzkonzepte gibt es?
Bockamp: Wir sind uns der Gefahren bewusst und haben entsprechende Schutzkonzepte samt Schulungen eingeführt. Für uns ist der Respekt vor der Freiheit der einzelnen Person entscheidend. Der heilige Josefmaria hat sehr viel über die Freiheit gesprochen, ohne sie könne man Gott nicht lieben. Alle geistliche Begleitung sollte darauf hinauslaufen, Menschen zu ermuntern, anderen Menschen wie auch Gott liebevoll zu begegnen. Bei der Vaterunser-Bitte „Dein Wille geschehe“ geht es letztlich darum, dass wir um die Kraft bitten, innerlich Ja zu sagen.
Ist das eine Reaktion darauf, dass der Rückgang der Kirchenbindung auch damit zu tun hat, dass bestimmte Selbstverständlichkeiten der demokratischen, rechtsstaatlich verfassten Gesellschaften mit ihren verbrieften Freiheitsrechten und Partizipationsmöglichkeiten innerhalb des Katholizismus nicht wiederzufinden sind?
Bockamp: Der moderne Rechtsstaat mit der Institution der Religionsfreiheit ist eine große kulturelle Errungenschaft, für die wir dankbar sein dürfen. Das gilt auch für die Kirchen. Wir leben in einem Gemeinwesen, in dem uns niemand zwingt, etwas zu glauben oder zu bekennen. Wir dürfen Gott sogar öffentlich verehren, was nicht nur für die Christen gilt, sondern für alle Religionsgemeinschaften. Innerhalb der Kirche herrschen dann aber auch andere Selbstverständlichkeiten, weil sie eine Stiftung Christi ist und deshalb mit seiner Zuordnung von Amtspriestertum und dem letztlich wichtigeren allgemeinen Priestertum eine eigene Struktur besitzt. Augustinus hat schön gesagt: Für euch bin ich Bischof, mit euch bin ich Christ.
Höhn: Allerdings ist dieser Ansatz immer weniger nach außen und inzwischen auch immer schwerer nach innen zu vermitteln. Viele Menschen können nicht nachvollziehen, warum ihnen in der Kirche weniger Rechte als im säkularen Bereich vom Grundgesetz garantiert werden, wenn man allein an die Mitbestimmungsmöglichkeiten denkt. Angesichts der Forderungen nach Demokratisierungsprozessen in der Kirche wird immer angeführt, dass für die Kirche ein anderes Baugesetz gelte und man in den Stiftungswillen Jesu nicht eingreifen könne. Ist das eine theologisch schlüssige Argumentation? Wenn man von der Schöpfungsordnung her argumentiert, dass alle Menschen Gottes Ebenbild sind, kommt man zu anderen Ergebnissen. Es ist doch ein alter Grundsatz katholischer Theologie, dass die Gnadenordnung die Schöpfungsordnung nicht relativiert, sondern vollendet. Wenn wir von der Schöpfungsordnung her alle „ebenbürtig“ und Adressaten von Gottes unbedingtem Heilswillen sind, ist nicht nachzuvollziehen, wie diese Gleichheit mit dem Hinweis auf eine vermeintlich andere Gewichtung in der Heilsordnung relativiert werden kann. An dieser Unwucht stören sich immer mehr Menschen in der Kirche. Sie führt auch zu Asymmetrien mit säkularen Grundrechtsauffassungen. Angesichts der Aufgabe des Staats, für bestimmte Grundrechte geradezustehen, werden die Konflikte hier in den kommenden Jahren zunehmen, wenn die Grundrechte von bestimmten Gruppen unter dem Vorwand der Religionsfreiheit nicht umgesetzt werden. Das betrifft nicht nur die katholische Kirche, sondern auch Migrantenreligionen, in denen es ähnliche Konstellationen gibt. Wir sehen momentan angesichts von Missbrauch und dessen Verschleierung, wie prekär es ist, wenn der Staat wegen der Religionsfreiheit immer noch recht zurückhaltend agiert. Wenn die Selbstkorrekturen religiöser Gemeinschaften nicht funktionieren, ist auch der Staat gefragt.
Bockamp: Da bin ich ganz mit einverstanden, dass das zu den Pflichten des Staates gehört, bei Straftaten einzugreifen. Zum Thema Mitwirkung möchte ich aber eines noch ergänzen. In der Kirche haben wir wichtige Ansatzpunkte dafür im Prinzip der Kollegialität: Eine intensive Mitsprache und die gemeinsame Verantwortung der kollegialen Leitung ist heute auch innerhalb des Opus Dei wichtig, wo Laien – Frauen und Männer – Leitungsaufgaben selbstverständlich ausfüllen. Letztlich müssen die Priester Dienstleister sein, die die Gläubigen unterstützen.
Dem Opus Dei wurde immer wieder vorgeworfen, intransparent zu sein. Wie viel Transparenz braucht eine Gemeinschaft im Christentum?
Bockamp: Viel Transparenz, so viel wie möglich. Für uns ist es beispielsweise wichtig, dass unsere Website alle wichtigen Informationen vorhält, einschließlich aller Kontaktdaten. Unsere Kommunikation nach innen wie nach außen ist inzwischen fast identisch. Ernennungen und wichtige Schreiben des Prälaten in Rom werden unmittelbar ins Internet gestellt. Anfragen werden alle beantwortet und wir stehen für Gespräche zur Verfügung. In den letzten zwanzig, dreißig Jahren ist – auch in Reaktion auf gesellschaftliche Anforderungen – ein zunehmendes Maß an Transparenz erfolgt.
Höhn: Jesus von Nazareth war Öffentlichkeitsarbeiter und Transparenzverfechter. Man hat ihm den Vorwurf gemacht, im Geheimen zu agieren, und er hat sich dagegen verwahrt. Insofern ist eine Arkandisziplin nicht im Sinne des Evangeliums. Auf der Website des Opus Dei entdecke ich hingegen immer noch nicht sofort alle Dokumente, die ich auf Seiten von ehemaligen Mitgliedern des Opus Dei finde. Aber es ist inzwischen immerhin besser als der Neokatechumenale Weg, dessen Homepage viel PR bietet, aber keine Statuten dokumentiert. Ich kann durchaus verstehen, dass eine religiöse Gemeinschaft Wert legt auf Diskretion: dass sie bestimmte Merkmale ihrer Spiritualität nur dosiert der Öffentlichkeit offenlegt. Viele religiöse Gemeinschaften haben immer noch mit prekären Assoziationen zu kämpfen, denen sie nicht mit entsprechender Offenheit begegnen. Eine an das Opus Dei adressierte Frage der letzten Jahre war in diesem Zusammenhang der Umgang mit bestimmten asketischen Übungen, die über Jahrzehnte hinweg für ein prekäres Image gesorgt haben, angefangen beim Bußgürtel. Sich selbst Schmerz zuzufügen, ist ein Thema, bei dem wir heute sehr sensibel geworden sind: egal, ob es um direkte Gewaltausübung militanter Religiosität geht oder um eine diskrete, subtile Gewaltausübung. Wenn man sich im Arkanum selbst Schmerzen zufügen soll, finde ich das problematisch, auch wenn es nur eine Demutsübung für das Ego sein soll. Mein Gegenargument: Hier tritt das Ego keineswegs in den Hintergrund. Nirgendwo stärker mache ich die Erfahrung des Ichseins und der Unvertretbarkeit des Ichs als in der Schmerzerfahrung. Wer Leistungssport treibt, kommt an dieser Grenzerfahrung wohl nicht vorbei. Bei Frömmigkeitsübungen, die ein athletisches Ideal ins Religiöse verlagern, muss man aber noch einmal nachjustieren, damit sie von masochistischer Quälerei unterscheidbar bleiben.
Bockamp: Es ist vollkommen eindeutig, dass bei Verschwinden von Begriffen wie Sühne oder Buße im gesellschaftlichen Diskurs auch traditionelle asketische Übungen der Kirche nicht mehr verstanden oder abgelehnt werden. Daher basiert unsere Askese auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. Jemandem, der eine bestimmte asketische Übung als hilfreich für sein geistliches Leben ansieht und dabei großen Figuren der Kirche wie Thomas Morus, Mutter Teresa oder Paul VI. folgt, kann ich dazu nicht das Recht absprechen. Wichtig ist aber natürlich auch, dass ich nichts dergleichen einfordere.
Warum ist eine solche Bußübung dann essenziell?
Bockamp: Das ist überhaupt nicht essenziell. Die Bußübungen sind bei uns absolut peripher – ob man es glauben will oder nicht.
Höhn: Es geht allerdings schon um den Punkt Christusnachfolge. Wäre es nicht evangeliumsgemäßer, sich dem Leiden, dem andere unfreiwillig ausgesetzt sind, entgegenzustellen? Mich stört der Aspekt des Dolorismus. Natürlich geht es christlich darum, mit dem Leid zu leben. Aber warum sollte man es selbst suchen? Im Galaterbrief lesen wir: Einer trage des anderen Last. Warum suchen Sie nicht den Schmerz der anderen und versuchen ihn zu lindern?
Bockamp: Das ist keine Alternative. Der barmherzige Samariter ist zu Recht das Markenzeichen des Christentums. Das prägt unsere Gesellschaft – Gott sei Dank – bis heute. Jede Form von Bußübung würde ins Leere gehen oder in Richtung von Heuchelei, wenn man anderen nicht beisteht. Das muss im Vordergrund stehen. Dienstbereitschaft und Leidensbereitschaft hängen aber auch zusammen: Das ist das, was Christus uns selbst vorgelebt hat. Sein Hunger und sein Durst waren ein freiwillig auf sich genommener Schmerz, der ihn ganz eng an die Seite der Leidenden rückte, mit ihnen eins werden ließ.
Höhn: Das Problem bleibt die Außenwahrnehmung dieser Praxis. Sie ist subjektzentriert und bestätigt exemplarisch, dass religiöse Bewegungen des 20. Jahrhunderts viel mehr von den Plausibilitäten der ansonsten eher kritisch kommentierten Moderne aufgenommen und auf sich selbst angewendet haben, als ihnen selbst bewusst ist.