Impulse der islamischen MystikSehnsucht nach Einheit

Die islamisch-mystische Tradition hat große Sprachkünstler hervorgebracht. Die Gesänge der Sufis fordern auch heute noch dazu auf, die Welt unterschiedlich zu lesen.

Ein Sufi mit Flöte
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Wenn ich will, will Er“. Balkisse Karuti trägt Kopftuch; und sie trägt ein Gedicht vor – fast wie ein Gebet. Sie nimmt an den Muslimisch-Christlichen Werkwochen 2021 teil. Jedes Jahr treffen sich dafür Studierende der Evangelischen, Katholischen und Islamischen Theologie auf dem Zionsberg. Die Werkwochen sind Teil des Theologischen Studienjahres Jerusalem.

So war Balkisse Karuti mit ihren Kommilitoninnen zur Studienjahrsgruppe gestoßen. Zwölf evangelische und neun katholische Theologinnen und Theologen empfingen als Gäste aus Deutschland nun fünf Studentinnen Islamischer Theologie. Sie besprachen zwei Wochen lang die Glaubenswelten der anderen und erlebten sie. Man führte einander geistliche Kernstücke der eigenen Religion vor: Bibel- und Koranverse, Dichtung von Rumi und Paul Gerhardt, Gebetsgesten und Gewohnheiten.

So stellt sich auch Karuti vor die Gruppe. Kurz hält sie inne; dann rezitiert sie ein Gedicht: „Er schafft mich / Immer wieder (...) Wenn ich will, will Er“, haucht sie. Die Zeilen beben, fast atemlos. Erst auf Nachfrage gesteht die Vortragende verschämt, ja, die islamische Theologiestudentin Balkisse Karuti ist auch die Dichterin.

Seit zehn Jahren entwickelt sich ihr Studienfach an deutschsprachigen Universitäten zu einer heterogenen, herausfordernden Disziplin. Mehrheitlich kommen die Studierenden mit einer ernsthaften muslimischen Praxis, mit forschender Neugier für die großen Kulturprägungen des Islam und mit der Hoffnung, die eigenen Glaubensgrundlagen durchdenken und überzeugend erklären zu können.

Junge Islamtheologen können erleben, wie sie ihr Muslimsein beheimatet, aber wie es zugleich viele ihrer deutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger in Mensa und Metro befremdet. Sie ringen um neue Ausdrucksformen für den Glauben, den sie in der Familie gelernt haben, der sie bewegt. Und sie ringen mit manchem, was ihnen ihre religiöse Tradition aufzutragen scheint. Auf agnostische Mitmenschen wirken islamische Theologiestudierende oft anstößig. Immer wieder berichten Kopftuchträgerinnen, dass sie angepöbelt wurden, manche sogar angespuckt. Auch für ihre christlichen Kommilitonen, gerade die Theologiestudierenden, sind die neuen muslimischen Mitstreiterinnen und Mitstreiter ein Anstoß: Leben wir unseren Glauben ebenso sichtbar, so aufregend unangepasst? Gelingt es uns auch, unsere Mitmenschen auf die entscheidenden Fragen zu bringen? Spirituelle?

Die junge Dichterin kann mit ihrer deutschen Muttersprache spielen; aber sie kennt auch die Großen ihrer islamisch-mystischen Tradition. Sie weiß: Die Sufis können zu den besten Dichtern ihrer Sprachkulturen zählen. Sie dichten aus heißer Sehnsucht nach Einheit – Einheit mit allem, Einheit mit Gott. Deshalb mussten sie provozieren. Sie mussten die von Theologen und Juristen gezogenen Grenzen überschreiten: Grenzen angeblicher Vernünftigkeit und Anständigkeit.

Trotzdem waren die Sufis in den klassisch-islamischen Kulturen keine Außenseiter. Wer tagsüber scharfsinnig lehrte, konnte abends im sufischen Zirkel zu den Versen der Mystik tanzen: „Hör auf das Schilfrohr – wie es erzählt, wie es die Trennung beklagt“, singt etwa Rumi (gestorben 1273). Er bringt die jammernde Flöte zu Wort, herausgeschnitten aus dem Schilf. Er spricht aber auch vom Menschen im Diesseits: Von seiner Wurzel abgetrennt, ersehnt er seine Heimkehr: zum Schöpfer. Die Mehrdeutigkeit gehört regelmäßig dazu, wenn die islamische Mystik sich äußert. Wie man die Welt unterschiedlich „lesen“ kann, fordern die Gesänge der Sufis zu der Erkenntnis heraus, dass die Welt eine Rückseite hat. Vielschichtig hören!

So ist auch al-Halladsch zu verstehen. Aus seinem Mund hörte man: „Ich bin Gott.“ 922 brachte man ihn dafür in Bagdad um: wegen Gotteslästerung. Er habe sich selbst an Gottes Stelle gesetzt. Aber war das die Botschaft des Halladsch? War er nicht vielleicht leer geworden, sich selbst „entworden“? So sehr, dass nun, wenn er den Mund auftat, kein Mensch mehr zu hören war, sondern Gott? Mystik lehrt, anders zu hören.

„Er schafft mich“, bebt das Gedicht der islamischen Theologiestudentin weiter. Heißt das: Sie verdankt ihm ihr Leben? Heißt es vielleicht auch, dass sie nicht mit ihm fertig wird, dass er sie überwältigt? Radikal ist die Zweideutigkeit der Zeile „Wenn ich will, will Er“. Man meint zunächst eine platte Selbstüberhöhung zu hören: Gott ist mein Erfüllungsgehilfe; ich, seine kokette Liebhaberin, habe ihn in der Hand. Oder gar: Er ist ja doch nur Auswuchs meiner Wünsche. Doch wer die mystischen Traditionen kennt, kann auch hier anderes hören: Alles ist von Gott durchwirkt, ja von Gott gewirkt. Ich verdanke ihm auch mein Wollen-Können. Und: Je mehr ich in Gott aufgehe, desto mehr kommt, was aus meinem Mund zu kommen scheint, von ihm. Es könnte sein Wille sein, seine Botschaft.

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